Dialektik der Aufklärung

Dialektik der AufklärungAdorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Fischer TB-Verlag, Frankfurt a. M., 2000, ISBN: 3596274044

 
Die Sprache, die diese beiden Vollblut-Philosophen sprechen, versteht man erst nach dem zehnten Mal lesen. Sie haben es ja auch schwer, die Philosophen, mit den Worten. Sie müssen sie dem alltäglichen Wortschatz entnehmen, in dem die Worte sehr vieldeutig sind. Geht es um Dinge und Wahrnehmungen, die jeder aus seinem alltäglichen Erfahrungsschatz kennt, wird die Wortbedeutung durch den Sinnzusammenhang der Sätze auf das hinreichend genaue Maß eingeengt.
Für den Philosophen, der Bedeutungen hinter den Bedeutungen aufdecken will, ist eine genauere Ausdrucksweise notwendig, er schafft sich folglich wie der Jurist eine Fachsprache, die zumeist auch nur der philosophische Gebildete versteht.
Der Physiker hat es da einfacher, er benutzt gar nicht erst die Umgangsprache um Zusammenhänge darzustellen, sondern die Sprache der Mathematik. Benutzt er Worte, denn geht es ihm meist darum, die Bedeutung dieser Zusammenhänge für die Mitmenschen zu erläutern. Das kann man genaugenommen auch als eine philosophische Fragestellung verstehen: Wie kann der Mensch Tatsachen und die Zusammenhänge zwischen ihnen für sich und die gesellschaftliche Wirklichkeit technisch nutzen, sollte er es überhaupt, ohne sich selbst zu schaden? Aber um seine Erkenntnisse technisch nutzen zu können, muß er Wechselwirkungen zwischen den Dingen vorher mathematisch formuliert haben, denn der Techniker rechnet und konstruiert. Das Primat in den Naturwissenschaften hat also immer die mathematische Formulierung, nicht die ontologische Deutung – also was all das, was der Naturforscher an Naturgesetzen entdeckt hat, für das Leben und Zusammenleben der Menschen bedeuten könnte.
Was die beiden Philosophen zu ihrer Analyse der Aufklärung veranlaßte, war vor allem die Erfahrung des Faschismus in einem Land, das sich (in der Weimarer Republik) für aufgeklärt und fortschrittlich hielt. Wie konnte Faschismus auf dieser Basis möglich werden? Die Aufklärung mußte also ein zweischneidiges Schwert sein. Wie eben alle von Menschen erdachten abstrakten Tatsachen ist sie nicht nur gut, sondern sie kann auch das Gegenteil von dem bewirken, was man sich von ihr erhoffte. Das ist eigentlich eine Binsenweisheit und östliche Kulturen wie in China und Indien hatten das längst erkannt.
 
Ich zitiere aus der Vorrede:
Seite 9/10
Die Aporie [Ratlosigkeit], der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii [Zirkelschluss] -, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.
Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. Indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter, und darum auch die Beziehung auf Wahrheit.
 
Dazu ist nicht viel zu sagen, geht es doch nicht darüber hinaus, was Camus verständlicher formuliert hat, als er die Auswirkungen des neuen Evangeliums von der Vernunft geschildert hat, wenn man die Vernunft als das Mittel der Wahl betrachtet, eine überall und zu jeder Zeit einzig gültige Wahrheit zu finden. In meinem Beitrag „Dialektik der Wahrheit“ habe ich bereits versucht zu zeigen, warum das der menschlichen Vernunft nicht möglich ist.
 
Seite 12/13
Die erste Abhandlung, die theoretische Grundlage der folgenden, sucht die Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit, ebenso wie die davon untrennbare von Natur und Naturbeherrschung, dem Verständnis näherzubringen. Die dabei an Aufklärung geübte Kritik soll einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst.
Grob ließe die erste Abhandlung in ihrem kritischen Teil auf zwei Thesen sich bringen: schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück. Diese Thesen werden in den beiden Exkursen an spezifischen Gegenständen durchgeführt. Der erste verfolgt die Dialektik von Mythos und Aufklärung an der Odyssee, als einem der frühsten repräsentativen Zeugnisse bürgerlich-abendländischer Zivilisation. Im Mittelpunkt stehen die Begriffe Opfer und Entsagung, an denen Differenz so gut wie Einheit von mythischer Natur und aufgeklärter Naturbeherrschung sich erweisen.
Der zweite Exkurs beschäftigt sich mit Kant, Sade und Nietzsche, den unerbittlichen Vollendern der Aufklärung. Er zeigt, wie die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt. Diese Tendenz ebnet alle Gegensätze des bürgerlichen Denkens ein, zumal den der moralischen Strenge und der absoluten Amoralität.
 
Warum Kant, Sade und Nietzsche als unerbittliche Vollender der Aufklärung auftreten konnten, kann nur im damaligen geschichtlichen Kontext verstanden werden. Bis zu den Zeiten Newtons waren Religion und Naturwissenschaft Fachgebiete der Philosophie und an der Tatsache, daß Gott die Welt geschaffen hatte, wurde nur von „Spinnern“ gezweifelt. Selbst das mechanistische Weltbild, das sich aus der vorausgesetzt uneingeschränkten Gültigkeit der Newtonschen Gesetze ergab, wurde zunächst als Beweis für die Weisheit des Weltenschöpfers angesehen. Erst später kam man auf die Idee, wenn man die Funktionsweise der Welt mechanistisch erklären könne, brauche man keinen Gott mehr.
Der aus der Allgemeingültigkeit der Newtonschen Gesetzen abgeleitete Glaube, daß sowohl die Welt der Physik – die externe Wirklichkeit der konkreten Tatsachen – als auch die gesellschaftliche Wirklichkeit der abstrakten Tatsachen zweiwertigen logischen Gesetzmäßigkeiten folge, führte dann folgerichtig weiter gedacht zur Annahme, daß menschliches Verhalten der logischen Denkweise des Verstandes alleine gehorchen könne. Kant mahnte daher: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Was ist aber der Verstand?
In erster Linie ist er, der Verstand, Diener meiner mich momentan bedrängenden Bedürfnisse. Er soll aus erkannten und abstrakt formulierten Zusammenhängen einen optimalen Weg zu ihrer Befriedigung finden, das ist sein evolutionärer Vorteil, den wir gegenüber anderen Tieren haben. Wir können diese Zusammenhänge vom konkreten Geschehen abstrahieren und verallgemeinern, um sie auf scheinbar oder wirklich ähnliche Geschehnisse anzuwenden. Das Wörtchen „scheinbar“ soll die Tatsache berücksichtigen, daß uns bei der Verallgemeinerung zuweilen Fehler unterlaufen. Unsere Vernunft liefert also nur das Resultat, das den Triebwünschen Befriedigung verspricht und ist keineswegs auf eine objektive, von meinen momentanen Bedürfnissen unabhängige Beurteilung der Außenwelt gerichtet. Meine Bedürfnisse schreiben meinem Verstand vor, welche Urteile er zu fällen hat – das nennt man in der Psychologie „Rationalisierung“. Aber fällte denn der Verstand des Menschen nicht schon immer seine Urteile zugunsten unserer Bedürfnisse?
Was Kant also damit meinte, daß wir Mut haben sollten, uns des eigenen Verstandes zu bedienen, kann nicht diese Tatsache sein! Sie war ihm vermutlich nicht einmal bewußt, denn sie kam erst mit Freud in unsere Köpfe!
Wovon ging also Kant aus?
Für ihn beschreiben die Newtonschen Gesetze vollständig das Verhalten der gesamten Welt, also letztendlich auch das menschliche Verhalten. Es mußte daher logischen Gesetzmäßigkeiten folgen und unser Instrument, mit dem wir denken, ist der Verstand (oder die Vernunft, wie ich das abstrakte Ding^^ nenne). Zusammenhänge findet er in folgender Weise: auf eine bestimmte Ursache muß immer eine bestimmte Wirkung folgen. Dies aber gilt nur annähernd bestimmt, doch besteht dieser Zusammenhang für unsere Wechselwirkung mit der externen Welt mit hinreichender Genauigkeit um erfolgreich zu überleben. Hier ist die Newtonsche Physik also ausreichend, um uns in der als „klassische“ angenommenen Welt der externen Wirklichkeit erfolgreich rechnend verhalten zu können.
Kants fundamentaler Irrtum bestand nun darin, daß diese Logik auch für das Regelwerk des Zusammenlebens der Menschen gelte; die gesellschaftliche Wirklichkeit müsse letztendlich mechanistischen Gesetzmäßigkeiten der zweiwertigen Logik gehorchen. Es gibt in diesem Newtonschen Weltbild nur eine Wahrheit und diese Wahrheit muß der Verstand des Menschen nur erkennen, um zu wissen, wie er und sein Zusammenleben mit anderen zu funktionieren habe, nämlich wie ein mechanischer Automat, dessen Auswahlprinzip der Wahrheit lautet „existiert oder existiert nicht“, dazwischen gibt es nichts!
Daß diese Wahrheit nur in der externen Wirklichkeit (der physikalischen Welt) gilt, war für Kant undenkbar, wenn die Welt, das Universum, ein in sich geschlossenes Ganzes sein soll. Warum diese logischen Gesetzmäßigkeiten, selbst wenn sie existieren, für uns bei komplexen Wechselwirkungen (wie sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit üblich sind) keine praktische Bedeutung haben, weil wir sie nicht berechnen können, beziehungsweise, warum unsere Welt eventuell gar keine geschlossene Welt ist, sondern eine „zufällige“ Ursache auch von außerhalb empfangen könnte, habe ich im Beitrag „Was ist Zufall“ schon ausgeführt. Im Beitrag „Dialektik der Wahrheit“ habe ich diese Problematik des Wahrheitsbegriffes versucht aufzulösen.
Ich hatte diesen Beitrag zu Adorno und Horkheimer schon fast fertig, als mir erst der fundamentale Unterschied bewußt wurde zwischen einerseits „Wahr und Unwahr“, der für die externe Welt gilt, und andererseits „Richtig und Falsch“, der für abstrakte Tatsachen, die nur auf menschlicher Übereinkunft beruhen und stets nur Bedeutungszuordnungen durch den Menschen für den Menschen ausdrücken, gilt.
Daher mein fanatisches Kleben an diesem Thema! Es ist mir immer ein Ärgernis, das ich möglichst schnell aus der Welt schaffen möchte, wenn ich denke, nun habe ich den Stein der Weisen gefunden, und dann stoße ich auf solche Ungereimtheiten. Dann verbeiße ich Narr mich in die Auflösung dieser Widersprüche, nicht mehr wissend, was wirklich wichtig ist im Leben. Meine beiden Aufsätze über Dialektik sind nichts, worauf die Welt nicht noch ein paar Tage, Wochen oder Jahre hätte warten können. Du aber sollst nicht warten müssen, denn wir beide sind nicht unsterblich, die Wahrheit aber ist es vermutlich, was uns Sterblichen aber egal sein kann. Falls es diese Wahrheit überhaupt gibt – so kann sie auch warten, sie hat dann alle Zeit der Welt.
Die Seele à la Dörner, insbesondere deren Fähigkeit zum abstrakten, an keinerlei Naturgesetze gebundenes Denken und Fantasieren (was ich als Vernunft bezeichne), blieb auch noch nach Freud weiterhin ein Problem. Doch dessen Auflösung verschob man einfach auf später in der Gewißheit, daß sich die Seele irgendwann noch mechanistisch erklären ließe, so daß deren verwunderlichen, chaotischen, schrankenlosen Gedankengänge sich mathematisch exakt formulieren ließen. Das ist aber ein fataler Irrtum, wie ich das in „Was ist Zufall“ durch Juraj Hromkovic schon ad absurdum führen ließ, selbst dann, wenn man sich wie Dörner in seinem Bauplan für eine Seele auf rein deterministische Gesetzmäßigkeiten stützt.
Wenn aber die Fähigkeit zur kollektiven Zusammenarbeit auf der chaotischen Vernunft jedes einzelnen beruht und diese die gesellschaftliche Wirklichkeit geschaffen hat, muß diese Wirklichkeit nicht mit den Newtonschen mechanistischen Naturgesetzen berechenbar sein, weil es die Vernunft ja auch nicht ist. Eine beliebige Gemeinschaft vernunftbegabter Wesen bedarf zur Konstruktion ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit nur
  • der Fähigkeiten kollektive Intentionen zu entwickeln: „Das entscheidende Element in der kollektiven Intentionalität ist ein Gefühl, daß man etwas zusammen tut (wünscht, glaubt, etc.), und die individuelle Intentionalität, die jede Person hat, aus der kollektiven Intentionalität, die sie teilen, abgeleitet ist.“ (Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit 1997, 35)
  • der Fähigkeiten der Funktionszuweisung an Objekte: Wenn Handelnde oder Beobachter einem bestimmten Objekt eine Eigenschaft oder einen Zweck zuschreiben, der diesem Objekt nicht immanent ist, dann handelt es sich um eine Funktionszuweisung.
  • der Fähigkeit konstitutive Regeln aufzustellen: Das sind Regeln der Form ‚X gilt als Y im Kontext C‘. Im Gegensatz zu regulativen Regeln, sind dies solche Regeln, die bestimmte Tätigkeiten erst ermöglichen. Beispiele: Spielregeln beim Schach oder im Sport. Bereits die Möglichkeit diese Spiele zu spielen ist davon abhängig, daß es genau diese Spielregeln gibt. Denn der Sinn des Spiels besteht alleine darin, diese Regeln einzuhalten. Verkehrsregeln hingegen sind regulative Regeln, denn der Sinn des Verkehrs besteht nicht darin, diese Regeln einzuhalten, sondern Menschen und Dinge möglichst effizient und gefahrlos von A nach B zu bewegen.

 

Siehe dazu auch meinen Beitrag „Was ist Wirklichkeit?
 
Ich zitiere weiter Adorno und Horkheimer aus dem Kapitel Begriff der Aufklärung
 
Seite 15ff….
Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewußtseins ausgebrannt. Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut. Vor dem Triumph des Tatsachensinns heute wäre auch Bacons nominalistisches Credo noch als Metaphysik verdächtig und verfiele dem Verdikt der Eitelkeit, das er über die Scholastik aussprach. Macht und Erkenntnis sind synonym [Vgl. Bacon, Novum Organum a. a. O. Band XIV. S. 31.]. Das unfruchtbare Glück aus Erkenntnis ist lasziv für Bacon wie für Luther. Nicht auf jene Befriedigung, die den Menschen Wahrheit heiße, sondern auf »operation«, das wirksame Verfahren, komme es an; nicht in »plausiblen, ergötzlichen, ehrwürdigen oder effektvollen Reden, oder irgendwelchen einleuchtenden Argumenten, sondern im Wirken und Arbeiten und der Entdeckung vorher unbekannter Einzelheiten zur besseren Ausstattung und Hilfe im Leben« liege »das wahre Ziel und Amt der Wissenschaft« [Bacon, Valerius Terminus, of the Interpretation of Nature. Miscellaneous Tracts a. a. O. Band I. S. 281.]. Es soll kein Geheimnis geben, aber auch nicht den Wunsch seiner Offenbarung.
Die Entzauberung der Welt ist die Ausrottung des Animismus.
Xenophanes höhnt die vielen Götter, weil sie den Menschen, ihren Erzeugern, mit allem Zufälligen und Schlechten glichen, und die jüngste Logik denunziert die geprägten Worte der Sprache als falsche Münzen, die man besser durch neutrale Spielmarken ersetzt. Die Welt wird zum Chaos und Synthesis zur Rettung. Kein Unterschied soll sein zwischen dem Totemtier, den Träumen des Geistersehers und der absoluten Idee. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit. Die Ursache war nur der letzte philosophische Begriff, an dem wissenschaftliche Kritik sich maß, gleichsam weil er allein von den alten Ideen ihr noch sich stellte, die späteste Säkularisierung des schaffenden Prinzips.
 
Seite 25ff.
Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten Ungleichheit, das unvermittelte Herrentum, verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches. Sie besorgt, was Kierkegaard seiner protestantischen Ethik nachrühmt und was im Sagenkreis des Herakles als eines der Urbilder mythischer Gewalt steht: sie schneidet das Inkommensurable weg. Nicht bloß werden im Gedanken die Qualitäten aufgelöst, sondern die Menschen zur realen Konformität gezwungen. Die Wohltat, daß der Markt nicht nach Geburt fragt, hat der Tauschende damit bezahlt, daß er seine von Geburt verliehenen Möglichkeiten von der Produktion der Waren, die man auf dem Markte kaufen kann, modellieren läßt. Den Menschen wurde ihr Selbst als ein je eigenes, von allen anderen verschiedenes geschenkt, damit es desto sicherer zum gleichen werde. Weil es aber nie ganz aufging, hat auch über die liberalistische Periode hin Aufklärung stets mit dem sozialen Zwang sympathisiert. Die Einheit des manipulierten Kollektivs besteht in der Negation jedes Einzelnen, es ist Hohn auf die Art Gesellschaft, die es vermöchte, ihn zu einem zu machen. Die Horde, deren Namen zweifelsohne in der Organisation der Hitlerjugend vorkommt, ist kein Rückfall in die alte Barbarei, sondern der Triumph der repressiven Egalität, die Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen. Der Talmi-Mythos der Faschisten enthüllt sich als der echte der Vorzeit, insofern der echte die Vergeltung erschaute, während der falsche sie blind an den Opfern vollstreckt. Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation. Unter der nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht, und der Industrie, für die sie es zurichtet, wurden schließlich die Befreiten selbst zu jenem »Trupp«, den Hegel [Hegel, Phänomenologie des Geistes Werke. Band II. Berlin 1832. S. 424.] als das Resultat der Aufklärung bezeichnet hat.
 
Seite 33ff.
Aber Glaube ist ein privater Begriff: er wird als Glaube vernichtet, wenn er seinen Gegensatz zum Wissen oder seine Übereinstimmung mit ihm nicht fortwährend hervorkehrt. Indem er auf die Einschränkung des Wissens angewiesen bleibt, ist er selbst eingeschränkt. Den im Protestantismus unternommenen Versuch des Glaubens, das ihm transzendente Prinzip der Wahrheit, ohne das er nicht bestehen kann, wie in der Vorzeit unmittelbar im Wort selbst zu finden und diesem die symbolische Gewalt zurückzugeben, hat er mit dem Gehorsam aufs Wort, und zwar nicht aufs heilige, bezahlt. Indem der Glaube unweigerlich als Feind oder Freund ans Wissen gefesselt bleibt, perpetuiert er die Trennung im Kampf, sie zu überwinden: sein Fanatismus ist das Mal seiner Unwahrheit, das objektive Zugeständnis, daß, wer nur glaubt, eben damit nicht mehr glaubt. Das schlechte Gewissen ist seine zweite Natur. Im geheimen Bewußtsein des Mangels, der ihm notwendig anhaftet, des ihm immanenten Widerspruchs, die Versöhnung zum Beruf zu machen, liegt der Grund, daß alle Redlichkeit der Gläubigen seit je schon reizbar und gefährlich war. Nicht als Überspannung sondern als Verwirklichung des Prinzips des Glaubens selber sind die Greuel von Feuer und Schwert, Gegenreformation und Reformation, verübt worden. Der Glaube offenbart sich stets wieder als vom Schlage der Weltgeschichte, der er gebieten möchte, ja er wird in der Neuzeit zu ihrem bevorzugten Mittel, ihrer besonderen List. Unaufhaltsam ist nicht bloß die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, der Hegel es bestätigte, sondern, wie kein anderer es besser wußte, die Bewegung des Gedankens selbst. Schon in der niedersten wie noch in der höchsten Einsicht ist die ihrer Distanz zur Wahrheit enthalten, die den Apologeten zum Lügner macht. Die Paradoxie des Glaubens entartet schließlich zum Schwindel, zum Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts und seine Irrationalität zur rationalen Veranstaltung in der Hand der restlos Aufgeklärten, welche die Gesellschaft ohnehin zur Barbarei hinsteuern.
 
Viel muß ich dazu nicht mehr sagen. Was uns immer wieder antreibt, sich mit scheinbar offensichtlichen Denkfehlern zu beschäftigen ist das Staunen darüber, daß das dem einen Offensichtliche dem anderen so offensichtlich wohl doch nicht ist – das wurde für Aristoteles zum Ursprung der Philosophie.[1]
Und welch wenig geheimnisvolle Bedeutung dem Glauben für das Zusammenleben der Menschen zukommt, auch das wußte schon der alte Grieche Kritias: Kritias – Über die Entstehung der Religion. Was also ist an der Aufklärung wirklich neu? Es ist der Irrglaube, dass menschliches Verhalten von seinem Verstand berechnet und somit auch gesteuert werden könnte, da es ewig geltenden Naturgesetzen folge, die einer einfachen zweiwertigen Logik des existiert oder existiert nicht folgen.
Daß selbst das, was ich in „Dialektik der Wahrheit“ als Vernunft bezeichnet habe, keine Erfindung der Neuzeit ist, sondern schon immer das friedliche Zusammenleben von Menschen ermöglicht hat, soll der damals als ewig gültig gedachte „Vertrag mit Jerusalem“[2] aus dem Jahre 630 u. Z. zeigen, der inzwischen bei den islamischen Dogmatikern offensichtlich in Vergessenheit geraten ist.
Was ist also so neu und angeblich sinnstiftend an der sogenannten Aufklärung? Sie ist – zumindest bisher – eher als sinnentleerend zu verstehen und daher von Extremisten als Begründung für jedweden Nihilismus (De Sade, Nietzsche und Faschismus) mißbraucht worden.
Wie also weiter, geliebte Menschheit?
Irgendwann werde ich die kritischen Beiträge von Richard Rorty zur Dialektik der Aufklärung zitieren, aber kaum interpretieren müssen, so klar verständlich sind sie meines Erachtens für den philosophischen Laien formuliert.

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[1] Vertrag mit Jerusalem

Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen!
Dieser Vertrag gilt für alle christlichen Untertanen, Priester, Mönche und Nonnen. Er garantiert ihnen Sicherheit und Schutz, wo immer sie sich befinden.
Wir sind als Chalif durch unsere Pflicht gebunden, uns selbst und unseren Anhängern und allen christlichen Untertanen, die ihren Verpflichtungen nachkommen, Schutz zu sichern.
Entsprechender Schutz wird ihren [christlichen] Kirchen, Häusern und ihren Pilgerstätten zugesichert, ebenso denen, die diese Stätten aufsuchen: die Georgier, Abessinier, Jakobiten, Nestorianer und alle jene, die den Propheten Jesus anerkennen.
Diese alle verdienen Rücksichtnahme, da sie zuvor durch eine Urkunde seitens des Propheten Mohammed geehrt worden sind, unter die er sein Siegel setzte und in der er uns nachdrücklich befahl, gütig zu ihnen zu sein und ihnen Schutz zu gewähren.
Demgemäß verlangt uns als Oberhaupt aller wahren Gläubigen danach, uns gütig zu erzeigen, und dies zum Zeichen der Ergebenheit gegenüber ihm, der euch bereits seine Güte und Gnade erwies.
Sie sind dementsprechend als Pilger in allen muslimischen Ländern, zur See und auf dem Lande, frei von der Zahlung aller Abgaben und Steuern und der Kopfsteuer. Bei ihrem Eintritt in die Kirche des Heiligen Grabes und auf ihrer ganzen Pilgerreise soll von ihnen keinerlei Art von Steuer erhoben werden …
Wer immer diesen Vertrag gelesen hat und zwischen heute und dem Tage des Jüngsten Gerichtes ihm zuwider handelt oder mit ihnen im Gegensatz zu diesem Vertrag verfährt, der bricht das Bündnis mit Allah und das seines geliebten Propheten …
um 630
 
Vertrag des Kalifen Omar mit Jerusalem, zitiert aus: Islamische Geisteswelt, a. a. O., S. 75.


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