Das Land der armen Leute – Schluss

„Der unverdrossene Mut der hohen Rhöner bei ihrem steten Kampf mit der feindseligen Natur ist seit alten Tagen sprichwörtlich. In einem Spruchverse, der die rhönischen Städte nach ihren besonderen Besitztümern schildert, heißt es von Bischofsheim, der Stadt der hohen Rhön, bloß, sie habe ‚den Fleiß’. Das ist eine schöne Devise unter dem Wappenbild einer Stadt. Man sieht in den obern Rhöntälern noch Versuche von Obstbaumzucht in Lagen, wo man anderwärts längst aufhört, sich mit Schnee und Nordsturm um saure Apfel zu raufen. In den Wäldern zwischen Dammersfeld und Kreuzberg begegnete mir in diesen Märztagen ein Mann, der mit einer Spitzhacke hinauszog, wie man sie sonst braucht, um Steine loszubröckeln. Als er mir erklärte: er wolle in entlegene Waldwiesen gehen, um die frühmorgens noch halbgefrorenen und halbverschneiten Maulwurfshügel zu zerschlagen, glaubte ich ihm nicht, und hatte Verdacht, er gehe auf schlimmen Wegen. Als ich ihm aber nachgehends von einer Höhe herab lange noch zusah, wie er in der Tat die gefrornen Maulwurfshügel im Talgrunde zerschlug, schämte ich mich über mein Mißtrauen. Ich hatte keinen solchen Begriff mitgebracht von dem hoffnungslosen kummervollen Fleiß dieser armen Leute. Weiterlesen

Das Land der armen Leute 8

„Ich bin auf der ganzen hohen Rhön von keinem Menschen angebettelt worden. Ich habe ganz allein, lediglich mit einem tüchtigen Eichenstock, flinken Beinen und einem frischen Wandermut bewaffnet, die weitgedehnten Wälder und die schaurig öden Hochflächen durchwandert. In der tiefen Einsamkeit bei wildem Schneesturm und bei sinkender Nacht sind mir oft seltsam zerlumpte ‚verwogene’ Gestalten begegnet. Aber es hat mir niemand ein Leides getan. Und doch würde meine geringe Reisebarschaft für eine hungrige Rhönerfamilie ein Kapital gewesen sein, von dem sie flott hätten leben können bis zur nächsten Kartoffelernte. Erst als ich in die begünstigteren Täler der Fulda und Kinzig niederstieg, strömten mir Bettelleute zu Scharen entgegen. Hier hebt die moderne Not an, hier wird die Armut selbstbewußt, der Arme bespiegelt sich in seinem Elend, trotzt und spekuliert auf dasselbe. Es könnte einer gegenwärtig über die ganze hohe Rhön reisen, ohne den erhöhten Notstand überhaupt wahrzunehmen, während er nicht einmal im Postwagen von Fulda nach Hanau fahren kann, ohne daß ihm allenthalben das düsterste Bild der Armut entgegentritt. Neben den Bettelleuten flutet auf dieser Straße jetzt ein wahrer Strom von Auswanderern. Bei Hanau begegnete ich einem Weib aus dem Fulder Land, welches als einziges Reisegepäck ein etwa vierteljähriges Kind aus dem Arm trug! Und in dieser Verfassung hatte sie sich zu Fuß nach einem Seehafen auf den Weg gemacht! Weiterlesen

Das Land der armen Leute 7

„Wie die Gegensätze des Klimas, so sind auch die Gegensätze von arm und reich auf der Rhön eng zusammengerückt, denn die Bevölkerung des ganzen Gebirges ist keineswegs arm. Die Armut tritt weniger überallhin verstreut auf, wie in den meisten mitteldeutschen Gegenden, als nach Berggruppen und Talzügen ziemlich bestimmt abgesondert. Diese historische, unausrottbare Armut haftet an einzelnen Strichen, an denen auch das nordische Klima haftet. Diese sind namentlich: das Dammersfeld, die Kreuzberggruppe und die lange Rhön. Weiterlesen

Das Land der armen Leute 5

Auf der Rhön kreuzen sich die Überlieferungen uralter Armut mit denen früherer Gewerbsblüte. Die historische Armut haftet dort mehr an einzelnen Tälern und Hochlagen als am ganzen Gebirg.
Schon eine Menge Ortsnamen bezeugen dann als epigrammatische Geschichtsurkunden aus grauer Vorzelt, daß von Anbeginn Armut, Öde und Düsterheit das Grundwesen solcher Striche gewesen sei: Sparbrod, Wüstensachsen, Kaltennordheim, Wildflecken, Schmalenau, Dürrhof, Dürrfeld, Todtemann, Rabenstein, Rabennest, Teufelsberg, Mordgraben usw. Im Geiste der Etymologie des 18. Jahrhunderts leitete man den Namen der Rhön selbst frischweg von „rauh“ ab.
Bei andern deutschen Gebirgen kommt ähnliches vor, aber schwerlich sind irgendwo auf so kleinem Raum so viele schauerlich deutsame Namen zusammengedrängt. Unter den Würzburger Bischöfen findet sich auch ein Mann von der hohen Rhön: Heinrich von der Osterburg. Er soll aber seinen Hofhalt so kümmerlich ausgestattet haben, daß man ihm den Beinamen ,,Käs und Brot“ gegeben. Wenn man heutzutage durch die hohe Rhön wandert und tagelang in den elenden Dorfschenken in der Tat noch immer keine andere Kost als Käse und Brot nebst widerlichem Kartoffelfusel auftreiben kann, dann bleibt einem dieser Bischof fortwährend in lebhaftem Andenken, und man wird versucht, ihn als das echteste Rhöner Kind zum Schutzpatron des ganzen Gebirges zu erklären. Weiterlesen

Das Land der armen Leute 4

Der Kartoffelbau hat aber hier nicht bloß seine Poesie, er hat auch seine herbe Prosa. Wo vorwiegend Kartoffelland ist, da ist auch Branntweinland. Dies bestätigen unsre Basaltberge. In einem Städtchen der Rhön von nur zweitausendzweihundert Einwohnern wurden in einem der letzten Jahre nach Ausweis der städtischen Akzistabelle nahe an vierhundert Eimer Branntwein getrunken. Dagegen ist zum Beispiel in Altbayern, wo Kornland vorwiegt und Kartoffeln verhältnismäßig wenig gebaut werden, das Branntweintrinken auch entsprechend selten geblieben. Im bayrischen Hochgebirge gibt es noch alte Leute, die niemals einen Schnaps getrunken haben; vor einem Menschenalter gab es dort aber auch noch Leute, die nicht wußten, wie eine Kartoffel schmeckt. Weiterlesen

Das Land der armen Leute 3

Die Rhön dagegen hat bessere Tage gesehen als die gegenwärtigen, sie hat eine Geschichte gehabt, welche mehr war als eine bloße Geschichte des Elendes. Für die feudale Zeit war sie kein übles Land, aber unser industrielles Jahrhundert weiß nicht, was es mit solchen abgelegenen, produktenarmen Gebirgen anfangen soll. Nicht bloß die Ungunst den Klimas, auch der ganze eigentümliche Entwicklungsgang unseres Kulturlebens, wenn man will die Weltgeschichte, hat sich wie ein tragisches Schicksal auf diese Berge gelegt. Die Rhön gehört so ganz zu jenen deutschen Gauen, von welchen einer unsrer Dichter sagt, sie seien zu romantisch, um noch glücklich sein zu können, ein Dichter, der selber zu romantisch war, um glücklich sein zu können – Gottfried Rinkel. Weiterlesen

Das Land der armen Leute 2

Die Stetigkeit der Sitte, dazu auch das ökonomische Verwildern und Zurückbleiben der Bauern unsrer Basaltgebirgsgruppe erhält durch die Grenzlage dieser Hofburgen der Armut eine historisch-politische Wurzel. Wenn der Westerwald als ein weit hinausgeschobenes Vorgebirge erscheint, dann trafen neben und in den Bergzügen der Rhön und des Vogelsberges in alten Zeiten die Kreuzungswinkel der verschiedensten Landesgrenzen aufeinander. Auf der Rhön stieß fuldaisches und würzburgisches Gebiet zusammen, dann berührten sich hier die Spitzen von hanaumünzenbergischen, hessenkasselschen, hennebergischen Länderteilen, und dazwischen eingestreut lagen Enklaven der fränkischen Reichsritterschaft.
So klein die Kette des Vogelsberges ist, so grenzten an und auf derselben doch die Marken von Hessen-Darmstadt, Fulda, Hersfeld, Isenburg, Solms-Lich, Solms-Laubach, Hanau-Münzenberg, Stolberg-Gedern und von reichsritterschaftlichem Gebiet. Von einer gemeinsamen Verwaltungspolitik des ganzen Gebirges konnte also nicht entfernt die Rede sein, fast jedes Tal lag ja für sich abgesperrt in dem Grenzwinkel eines andern Landes. Heutzutage stehen bayerische, hessische, weimarische und meiningische Marksteine auf der Rhön; doch ist wenigstens die überwiegend größere Masse zu Bayern gefallen.
Für den Kulturfortschritt der Gebirge sind jene alten politischen Zustände natürlich vom größten Nachteil gewesen. Sie vermochten aber nicht auseinanderzureißen, was die Einheit der Bodenbildung zu einem sozialen Ganzen verband. Die Gleichförmigkeit namentlich des Westerwaldes und Vogelsberges in den Berg- und Talformen, in der Pflanzenwelt, in der Anlage der menschlichen Siedlungen wirkte mächtiger, als die Buntscheckigkeit der willkürlichen politischen Grenzen. Dies ist ein sehr merkwürdiges Zeugnis für den zähen Zusammenhang von Land und Leuten. Weiterlesen

Das Land der armen Leute

„Ich begegnete einmal im Walde zwei Holzhauern, welche mit der dem gemeinen Manne eigenen Liebhaberei für allgemeine moralische Betrachtungen über ihre eigene Armut philosophierten. Der eine meinte, Armut sei ein böser Stand, der andre aber, nein, Armut sei der beste Stand und die armen Leute die besten Leute; denn wäre Armut nicht der beste Stand, so würde ihn Christus nicht vor allen andern sich erwählt haben und aus freien Stücken ein armer Mann geworden sein. Darauf erwiderte, der zuerst gesprochen: Eben darum, weil unser Herr Christus aus freien Stücken arm geworden, sei er gar kein rechter armer Mann gewesen, denn wer arm sein und bleiben wolle, der höre damit schon von selber auf, ‚arm’ zu sein; nur wer arm sei und reich werden wolle, ohne es zu können, der sei der rechte arme Mann.
Vervollständigt man die Theorie dieses Holzhauers, dann gibt es zweierlei Armut, die eigentlich nicht arm ist; die freiwillige und die naturnotwendige. Die letztere kann wiederum eine unbewußte sein wie bei ganz rohen Naturvölkern und Naturmenschen, oder eine bewußte, die sich aber in ihrer Naturnotwendigkeit erkennt oder ahnt. Mit diesen beiden Arten der gezwungenen und doch nicht armen Armut haben wir es hier zu tun.“

Mit diesen Sätzen beginnt Wilhelm Heinrich Riehl seine erwanderte Volkskunde: „Das Land der armen Leute“. Dieses fußt auf Erfahrungen seiner Wanderungen durch den Westerwald, den Vogelsberg und die Rhön und ist enthalten in dem mehrbändigen Werk „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik“, das zwischen 1851-1869 erschienen ist. Ich werde die Passagen, die sich speziell auf seine Erlebnisse in der Rhön beziehen, nach und nach in diesem Weblog zitieren, da sie die Lebensverhältnisse in der damaligen Rhön sehr lebendig und selbst noch uns Heutigen nachfühlbar schildern. Weiterlesen