Der Wert der Religion
Ich habe einige Antworten von Kritias, Werner Heisenberg, Thomas Mann und Rolf Oerter auf die Frage „Wozu Religion?“ zusammengestellt. Ihre Antwort lautet: Die Religion liefert die transzendente Begründung unserer Ethik, des „vernünftigen“ Miteinanders menschlicher Gemeinschaften. Trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts liefern uns weder Physik, andere Naturwissenschaften oder die „Gesetze“ der Evolution eine logische Begründung konkreten moralischen Verhaltens. Unsere „Vernunft“ ist ein soziales Konstrukt, der menschliche Geist die Emergenz kollektiver symbolischer Wechselwirkung der von uns mit Bedeutung für unser Fühlen aufgeladenen Abstrahierungen unserer Sinneswahrnehmungen.
Unser Verständnis des Sinn von Religion hat sich jedenfalls seit der Zeit von Kritias nicht wesentlich erweitert. Wir glauben nun zwar, dass und wie man alle die praktischen Dinge der Wissenschaften und des sozialen Miteinanders, also Lernen lernt, aber das Verständnis dessen, wie man Gewohnheiten bildet, wie sich das, was man gesunden Menschenverstand nennt, in uns festsetzt, zu lernen wie man lernt zu lernen oder: „Wie kann man durch ein besonderes Lernen über die Konstrukte, den Habitus, die Gewohnheiten hinausgelangen?“ – das müsste aber ein neuer Beitrag versuchen zu beantworten …
Kritias – Über die Entstehung der Religion
Stuttgart 1961 S. 378f.
Heisenberg: Der Wert der Religion
Wie stark das Gesicht einer menschlichen Gemeinschaft und das Leben des Einzelnen in ihr von der Religion geprägt wird, kann man kaum besser schildern, als Guardini es in seinem Buch über die Gestalten in Dostojewskijs Romanen getan hat. Das Leben dieser Gestalten ist vom Kampf um die religiöse Wahrheit in jedem Augenblick erfüllt, es ist gewissermaßen vom christlichen Geist durchtränkt, und so spielt es nicht einmal eine besonders wichtige Rolle, ob diese Menschen im Kampf um das Gute siegen oder unterliegen. Auch die größten Schurken unter ihnen wissen noch, was gut und was böse ist, sie messen ihr Tun an den Leitbildern, die das christliche Vertrauen ihnen gegeben hat. Hier gleitet auch der bekannte Einwand gegen die christliche Religion ab, daß die Menschen sich in der christlichen Welt genauso schrecklich aufgeführt hätten wie außerhalb. Das ist zwar leider wahr, aber die Menschen bewahren in ihr ein klares Unterscheidungsvermögen von gut und böse; und nur dort, wo dies noch vorhanden ist, bleibt die Hoffnung auf Besserung. Wo keine Leitbilder mehr den Weg bezeichnen, verschwindet mit der Wertskala auch der Sinn unseres Tuns und Leidens, und am Ende können nur Negation und Verzweiflung stehen.
Die Religion ist also die Grundlage der Ethik, und die Ethik ist die Voraussetzung des Lebens. Denn wir müssen ja täglich Entscheidungen treffen, wir müssen die Werte wissen oder mindestens ahnen, nach denen wir unser Handeln ausrichten. An dieser Stelle erkennt man auch den charakteristischen Unterschied zwischen den eigentlichen Religionen, in denen der geistige Bereich, die zentrale geistige Ordnung der Dinge eine entscheidende Rolle spielt, und den engeren Denkformen, besonders unserer Zeit, die sich nur auf die gerade erfahrbare Gestalt einer menschlichen Gemeinschaft beziehen. Solche Denkformen gibt es in den liberalen Demokratien des Westens ebenso wie in den totalitären Staatsgebilden des Ostens. Zwar wird auch hier eine Ethik formuliert, aber es wird von einer Norm des sittlichen Verhaltens gesprochen, und diese Norm wird aus einer Weltanschauung, d.h. aus dem Anschauen der unmittelbar sichtbaren, erfahrbaren Welt hergeleitet.
Die eigentliche Religion aber spricht nicht von Normen, sondern von Leitbildern, nach denen wir unser Tun richten sollen und denen wir bestenfalls nahekommen können. Und diese Leitbilder entstammen nicht dem Anschauen der unmittelbar sichtbaren Welt, sondern dem Bereich der dahinter liegenden Strukturen, von dem Plato als dem Reich der Ideen gesprochen hat und über den in der Bibel der Satz steht: Gott ist Geist.
Die Religion ist aber nicht nur die Grundlage der Ethik, sie ist, und auch dies können wir von Guardini lernen, vor allem die Grundlage des Vertrauens. So wie wir als Kinder die Sprache lernen und die in ihr mögliche Verständigung als wichtigsten Bestandteil des Vertrauens zu den Menschen empfinden, so entsteht aus den Bildern und Gleichnissen der Religion, die ja auch eine Art dichterische Sprache darstellen, das Vertrauen in die Welt, in den Sinn unseres Daseins in ihr. Die Tatsache, daß es viele verschiedene Sprachen gibt, ist dabei gar kein Einwand, auch nicht der Umstand, daß wir scheinbar zufällig in einen bestimmten Sprachraum oder Religions-bereich hineingeboren sind und davon geprägt werden. Wichtig ist ja nur, daß wir in dieses Vertrauen zur Welt hineingeführt werden, und das kann in jeder Sprache geschehen.
Für die Menschen aus dem russischen Volk zum Beispiel, die in Dostojewskijs Romanen auftreten und über die Guardini schreibt, ist das Wirken Gottes in der Welt ein stets wiederholtes unmittelbares Erlebnis, und so erneuert sich ihr Vertrauen immer wieder, auch wenn die äußere Not dem scheinbar unerbittlich im Wege steht.
Schließlich ist die Religion, wie ich schon sagte, von entscheidender Bedeutung für die Kunst. Wenn wir, so wie wir es getan haben, mit Religion einfach die geistige Gestalt bezeichnen, in die eine menschliche Gemeinschaft hineingewachsen ist, so ist es fast selbstverständlich, daß auch die Kunst ein Ausdruck der Religion sein muß. Ein Blick in die Geschichte der verschiedensten Kulturkreise lehrt, daß man in der Tat die geistige Gestalt einer früheren Zeit am unmittelbarsten aus den noch erhaltenen Kunstwerken erschließen kann, selbst wenn man die religiöse Lehre, in der die geistige Gestalt formuliert worden ist, kaum mehr kennt.
aus: Werner Heisenberg, Schritte über Grenzen,
Gesammelte Reden und Aufsätze, München 19774 ;
zitiert nach: H. Rössner, Der nahe und der ferne Gott,
Berlin 1981, S. 172-184 (Auszug)
Über Guadinis Interpretation Dostojewskis siehe auch:
Luigi Castangia
Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk.
Romano Guardinis Interpretation des russischen Schriftstellers
Promotion in Philosophie Studienjahr 2009 – 2010
TECHNISCHE UNIVERSITÄT DRESDEN
Thomas Mann: Das Gesetz
Und wieder saß er, von Joschua heimlich getränkt und geatzt, und metzte und meißelte, schrubbte und glättete, – saß und schrieb, mit dem Handrücken manchmal die Stirn wischend, griffelnd und spachtelnd die Schrift in die Tafeln, – die wurden besser sogar als das erstemal. Danach strich er wieder die Lettern mit seinem Blute aus und stieg hinab, das Gesetz unter den Armen. Israel aber ward angesagt, daß es die Trauer beenden und seinen Schmuck wieder anlegen solle, – ausgenommen die Ohrringe natürlich: die waren zu bösem Zwecke vertan. Und alles Volk kam vor Mose, daß er ihm das Mitgebrachte überhändige, die Botschaft Jahwe’s vom Berge, die Tafeln mit den zehn Worten. »Nimm sie hin, Vaterblut«, sagte er, »und halte sie heilig in Gottes Zelt, was sie aber besagen, das halte heilig bei dir im Tun und Lassen! Denn das BündigBindende ist es und Kurzgefaßte, der Fels des Anstandes, und Gott schrieb’s in den Stein mit meinem Griffel, lapidar, das A und O des Menschenbenehmens. In eurer Sprache hat er’s geschrieben, aber in Sigeln, mit denen man notfalls alle Sprachen der Völker schreiben kann; denn Er ist der Herr allenthalben, darum ist sein das ABC, und seine Rede, möge sie auch an dich gerichtet sein, Israel, ist ganz unwillkürlich eine Rede für alle.
In den Stein des Berges metzte ich das ABC des Menschenbenehmens, aber auch in dein Fleisch und Blut soll es gemetzt sein, Israel, so daß jeder, der ein Wort bricht von den zehn Geboten, heimlich erschrecken soll vor sich selbst und vor Gott, und soll ihm kalt werden ums Herz, weil er aus Gottes Schranken trat. Ich weiß wohl, und Gott weiß es im voraus, daß seine Gebote nicht gehalten werden; und wird verstoßen werden gegen die Worte immer und überall. Doch eiskalt ums Herz soll es wenigstens jedem werden, der eines bricht, weil sie doch auch in sein Fleisch und Blut geschrieben sind und er wohl weiß, die Worte gelten.
Aber Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: ›Sie gelten nicht mehr.‹ Fluch ihm, der euch lehrt: ›Auf, und seid ihrer ledig! Lügt, mordet und raubt, hurt, schändet und liefert Vater und Mutter ans Messer, denn so steht’s dem Menschen an, und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch Freiheit verkündetem Der ein Kalb aufrichtet und spricht: ›Das ist euer Gott. Zu seinen Ehren tuet dies alles und dreht euch ums Machwerk im Luderreigen!‹ Er wird sehr stark sein, auf goldenem Stuhl wird er sitzen und für den Weisesten gelten, weil er weiß: Das Trachten des Menschenherzens ist böse von Jugend auf. Das aber wird auch alles sein, was er weiß, und wer nur das weiß, der ist so dumm wie die Nacht, und wäre ihm besser, er wäre nie geboren. Weiß er doch von dem Bunde nichts zwischen Gott und Mensch, den keiner brechen kann, weder Mensch noch Gott, denn er ist unverbrüchlich. Blut wird in Strömen fließen um seiner schwarzen Dummheit willen, Blut, daß die Röte weicht aus den Wangen der Menschheit, aber sie kann nicht anders, gefällt muß der Schurke sein. Und will meinen Fuß aufheben, spricht der Herr, und ihn in den Kot treten, – in den Erdengrund will Ich den Lästerer treten hundertundzwölf Klafter tief, und Mensch und Tier sollen einen Bogen machen um die Stätte, wo Ich ihn hineintrat, und die Vögel des Himmels hoch im Fluge ausweichen, daß sie nicht darüber fliegen. Und wer seinen Namen nennt, der soll nach allen vier Gegenden speien und sich den Mund wischen und sprechen: ›Behüte!‹ Daß die Erde wieder die Erde sei, ein Tal der Notdurft, aber doch keine Luderwiese. Sagt alle Amen dazu!«
Und alles Volk sagte Amen.
Thomas Mann
Das Gesetz
Fischer Bibliothek
Rolf Oerter: Gespräch der Himmlischen
Athene: Jetzt geht es […] um den Menschen, mit dem wir ausschließlich zu tun haben, dem Menschen, der uns geschaffen hat. Das ist der Homo sapiens. Er ist aus Afrika ausgewandert und irgendwann mal auch nach Griechenland gekommen. Der zweite Teil über Kunst und Religion erzählt auch von uns. Er gibt Auskunft darüber, ab wann der Mensch sich Gottheiten geschaffen hat und an ein Fortleben nach dem Tode glaubt. Dabei geht es eigentlich um die Frage, ab wann der Mensch geistig dem heute lebenden Menschen gleichgestellt werden kann. Das scheint spätestens vor fünfunddreißig- bis vierzigtausend Jahren der Fall gewesen zu sein.
Dionysos: Ja, und dann darf natürlich nicht fehlen, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern ein mit Mängeln und Nachteilen behaftetes Wesen. Das Gute und das Schlechte gehören zusammen.
Apoll: Das Gute und zugleich Höchste beim Menschen sind Religion und Kunst, da kann man schon einige körperliche Mängel in Kauf nehmen. Ich jedenfalls stelle Kunst – und in jeder Kunst steckt auch Religion – über die praktisch so hilfreichen Werkzeuge. Der Mensch als Künstler ist mir wichtiger als der Werkzeugmacher.
Athene: Vergiss die Wissenschaften nicht. Auch sie sind jenseits praktischer Werkzeuge, benutzen sie aber für Höheres: das Erkennen.
Aphrodite: Auch für mich ist der Künstler wichtig, obwohl die Venus von Willendorf und erst recht die von Hohle Fels nicht meinem Schönheitsideal entsprechen. Aber ich selbst bin vollendet schön, sowohl in der Vorstellung des Menschen als auch in den von ihm geschaffenen Statuen, und da ärgert mich das Gerede über die durch den aufrechten Gang erschwerte Geburt, die falsche Anordnung von Luftröhre und Speiseröhre, der überflüssige Blinddarm und was es sonst noch alles gibt. In ihrer Phantasie sind die Menschen vollkommen, und sie haben mich aus ihrer Sehnsucht nach Vollkommenheit heraus geschaffen.
Dionysos: Da muss ich doch einen Wermutstropfen in den süßen Wein gießen. Schau dir mal die fetten Bäuche, dicken Ärsche und Hängebacken der saturierten überernährten westlichen Menschen an, da kann ich von einer Manifestation der Schönheit nichts erkennen. Sie kümmern sich nicht um Bedingungen ihrer Evolution, essen zu viel Süßigkeiten, aber auch zu viel Fleisch, es gibt eben zu viel von allem. Die Menschen machen sich selbst zu hässlichen, ungesunden Wesen.
Athene: Die Menschen hören nicht mehr auf die Götter, allenfalls noch auf dich, Dionysos, denn du predigst ja den Genuss.
Dionysos: Aber nicht den schrankenlosen. Ich bin für den Wechsel von Arbeit und Genuss. Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste, so hat es der Pantheist Goethe, der uns wohl am allerbesten von allen Dichtern verstanden hat, formuliert.
Athene: Ich komme nochmals zurück auf den Menschen als Künstler und als Werkzeugmacher. Es ist das Spannungsverhältnis von Homo ludens und Homo faber, von Spiel und Arbeit.
Aphrodite: Gut, dass du das gleich übersetzt hast, Latein gehört zu Minerva, nicht zu Athene.
Athene: Als Verkörperung des Rationalen frage ich mich, warum der Mensch zur symbolischen Darstellung greift, während er doch mit seinen Werkzeugen bestens zurechtkommt. Mit ihnen beherrscht er die Welt. Wozu dann also Symbolik, die auf etwas anderes verweist? Wozu dann Magie und Zauber, wozu Religion?
Apoll: Du bist eben zu rational. Die Gehirnentwicklung hat es mit sich gebracht, dass der Mensch Selbstbewusstsein besitzt, mehr noch, dass er gedanklich in der Zeit nach rückwärts und vorwärts reisen kann. Bei der Reise zurück entsteht die Frage „Wo komme ich her?“, bei der Reise in die Zukunft fragt sich der Mensch „Was wird aus mir? Was ist nach dem Tod mit mir?“ Das heißt, der Mensch, jedenfalls der moderne Mensch, wie es ihn seit vierzigtausend Jahren gibt, geht über sich, über sein aktuelles Dasein hinaus, er transzendiert sich. Das ist die Wurzel der Transzendenz, der Religion, der Suche nach Sinn. Bei diesen existenziellen Fragen helfen bis heute alle die vielen Werkzeuge und Maschinen nicht, die er sich geschaffen hat.
Athene: Das heißt, er greift zur Magie. Magie bedeutet ja, ein Ziel, einen Wunsch zu verwirklichen, ohne den rationalen Weg über die Naturgesetze gehen zu müssen: Fliegen ohne Fluggerät, ewiges Leben ohne Genumwandlung, seine Zukunft durch irrationale Praktiken beeinflussen, sich andere Menschen durch Zauber gefügig machen. Ob dieses magische Denken jemals aufhört? Heute müsste doch jeder Mensch wissen, dass alles naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gehorcht. Kein aufgeklärter Mensch dürfte mehr magisch denken.
Apoll: Psst! Nicht so laut! Wenn die Menschen nicht mehr magisch denken, gibt es uns auch nicht mehr. Du kannst selbst die Antwort auf deine Frage finden, wenn du dir vor Augen hältst, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis neue Fragen aufwirft. Die Welt, das Universum im Großen und die Elementarteilchen im Kleinen, wird immer rätselhafter, je mehr man von ihr erfährt. Und der Mensch im Alltag sieht sich tausend Problemen ausgesetzt, die er nicht naturwissenschaftlich lösen kann. Da wird immer Raum bleiben für Magie und Religion.
Dionysos: Besonders für uns Götter, denn wir sind noch recht aus Fleisch und Blut, und den Menschen nahe mit unseren Fehlern von Liebe, Eifersucht, Zorn und Rache.
Aphrodite: Und wir haben nicht die Sorgen der Menschen mit ihrer Sterblichkeit. Wir sind unsterblich, zumindest solange der Mensch nicht nur Werkzeugmacher, sondern auch Künstler ist.
Alle: Denn wir haben ja – Nektar und Ambrosia!
Rolf Oerter
Der Mensch, das wundersame Wesen
Was Evolution, Kultur und Ontogenese aus uns machen
aus Kapitel 4: Der Homo sapiens erobert die Welt
ISBN 978-3-658-03321-7
DOI 10.1007/978-3-658-03322-4