Camus über die Aufklärung
Es ist ja nicht so, daß Immanuel Kant die Idee der Aufklärung aus dem Nichts entwickelt hätte und daß das, was er in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ in Beantwortung der Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften „Was ist Aufklärung?“ nun besonders neu und originell war.
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schreiben in „Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente“ auf Seite 15 meiner Ausgabe [Fischer TB-Verlag, Frankfurt a. M., 2000, ISBN: 3596274044]:
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen. Bacon, »der Vater der experimentellen Philosophie« [Voltaire, Lettres philosophiques XII. OEuvres complètes. Ed. Garnier. Paris 1879. Band XXII. S. 118.], hat die Motive der Aufklärung schon ca. 150 Jahre vor Kant versammelt.Er verachtet die Adepten der Tradition, die »zuerst glauben, daß andere wissen, was sie nicht wissen; und nachher, daß sie selbst wissen, was sie nicht wissen. Leichtgläubigkeit jedoch, Widerwille gegen den Zweifel, Unbesonnenheit im Antworten, Prahlerei mit Bildung, Scheu zu widersprechen, Interessiertheit, Lässigkeit in eigener Forschung, Wortfetischismus, Stehenbleiben bei bloßen Teilerkenntnissen: dies und Ähnliches hat die glückliche Ehe des menschlichen Verstandes mit der Natur der Dinge verhindert, und ihn statt dessen an eitle Begriffe und planlose Experimente verkuppelt: die Frucht und Nachkommenschaft einer so rühmlichen Verbindung kann man sich leicht vorstellen. Die Druckerpresse, eine grobe Erfindung; die Kanone, eine die schon nahe lag; der Kompaß, in gewissem Grad bereits früher bekannt: welche Veränderung haben nicht diese drei hervorgebracht – die eine im Zustand der Wissenschaft, die andere in dem des Krieges, die dritte in dem der Finanzen, des Handels und der Schiffahrt! Und auf diese, sage ich, ist man nur zufällig gestolpert und gestoßen. Also die Überlegenheit des Menschen liegt im Wissen, das duldet keinen Zweifel. Darin sind viele Dinge aufbewahrt, welche Könige mit all ihren Schätzen nicht kaufen können, über die ihr Befehl nicht gebietet, von denen ihre Kundschafter und Zuträger keine Nachricht bringen, zu deren Ursprungsländern ihre Seefahrer und Entdecker nicht segeln können. Heute beherrschen wir die Natur in unserer bloßen Meinung und sind ihrem Zwange unterworfen; ließen wir uns jedoch von ihr in der Erfindung leiten, so würden wir ihr in der Praxis gebieten.« [Bacon, In Praise of Knowledge. Miscellaneous Tracts Upon Human Philosophy. The Works of Francis Bacon. Ed. Basil Montagu.]“
Aus diesem Gedankengut, daß damals bereits in der Luft lag, entwickelte Jean-Jacques Rousseau 1762 die Ideen zu seinem Gesellschaftsvertrag (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes) in dem er die Vernunft zur alleinigen Instanz der Wahrheit erklärte.
Ab Seite 155 bis Seite 157 schreibt Camus unter der Überschrift
Der ‹Contrat social› ist in erster Linie eine Untersuchung über die Legitimität der Macht. Aber als Buch vom Recht und nicht von den Tatsachen [Vgl. Rousseau’s Rede über die Ungleichheit: «Beginnen wir also damit, alle Tatsachen beiseite zuschieben, denn sie berühren unsere Frage nicht.»] ist es keinen Augenblick eine Sammlung soziologischer Beobachtungen. Seine Untersuchung betrifft die Prinzipien. Schon dadurch ist sie eine Bestreitung. Sie setzt voraus, dass die überlieferte Legitimität, vermeintlich göttlichen Ursprungs, nicht unumstößlich ist.Sie kündigt also eine andere Legitimität an und andere Prinzipien. Der ‹Contrat social› ist zugleich ein Katechismus und hat dessen Ton und dogmatische Sprache. Wie das Jahr 1789 die Eroberungen der englischen und amerikanischen Revolutionen vollendet, treibt Rousseau die Theorie des Vertrags, die man bei Hobbes findet, an ihre äußerste Grenze. Der ‹Contrat social› verbreitet die neue Religion, deren Gott die Vernunft ist, und entwickelt ihre Dogmatik; die Vernunft wird von der Natur nicht unterschieden, und der Repräsentant des neuen Gottes auf Erden ist statt des Königs das Volk, erfasst in seinem Gesamtwillen.Der Angriff gegen die überkommene Ordnung ist so offenkundig, dass Rousseau sich vom ersten Kapitel an zu zeigen bemüht, dass der Pakt der Bürger untereinander, aus dem das Volk hervorgeht, älter ist als derjenige des Volkes mit dem König, der die Monarchie begründet. Bis dahin erschuf Gott die Könige, die ihrerseits die Völker schufen. Vom ‹Contrat social› an erschaffen sich die Völker selbst und nachher erst die Könige. Was Gott betrifft, ist von ihm vorübergehend nicht mehr die Rede. Auf dem Gebiet der Politik haben wir hier eine Entsprechung zur Revolution Newtons. Die Macht entspringt also nicht mehr der Willkür, sondern der Zustimmung aller. Mit andern Worten ist sie nicht mehr das, was ist, sondern was sein sollte. Glücklicherweise kann sich nach Rousseau das, was ist, nicht trennen von dem, was sein sollte. Das Volk ist souverän «allein dadurch, dass es immer alles das ist, was sein soll». Angesichts dieser Petitio principii [Zirkelschluss] kann man wohl sagen, dass die Vernunft, wiewohl hartnäckig in jener Zeit angerufen, dennoch recht schlecht behandelt wurde. Es ist offensichtlich, dass wir mit dem ‹Contrat social› der Geburt einer Mystik beiwohnen, wird doch der Gesamtwille als Gott selbst postuliert. «Jeder von uns», sagt Rousseau, «unterstellt seine Person und seine Macht der höchsten Führung des Gesamtwillens, und wir empfangen gemeinsam jedes Glied als unabtrennbaren Teil des Ganzen.»Diese politische Person, nun souverän geworden, wird auch als göttliche Person definiert. Von dieser hat sie übrigens alle Attribute. Sie ist unfehlbar, da der Souverän in der Tat Missbrauch nicht wollen kann. «Unter dem Gesetz der Vernunft geschieht nichts ohne Grund.» Sie ist vollkommen frei, wenn es wahr ist, dass die absolute Freiheit die Freiheit in Bezug auf sich selbst ist. So erklärt Rousseau, es sei gegen die Natur der politischen Organisation, dass der Souverän sich ein Gesetz auferlegt, das er nicht übertreten kann. Sie ist auch unveräußerlich, unteilbar und zielt letzten Endes darauf ab, das große theologische Problem zu lösen: den Widerspruch zwischen der Allmacht und der Unschuld Gottes. Der Gesamtwille übt in der Tat einen Zwang aus, seine Macht ist grenzenlos. Die Strafe jedoch, die er über den verhängt, der sich weigert, ihm zu gehorchen, ist nichts anderes als eine Art «Nötigung, frei zu sein». Die Vergöttlichung ist vollendet, wenn Rousseau, den Souverän von seinen Ursprüngen selbst abtrennend, dahin kommt, den Gesamtwillen vom Willen aller zu unterscheiden. Das kann logisch von Rousseaus Voraussetzungen abgeleitet werden. Wenn der Mensch von Natur aus gut ist, wenn die Natur in ihm gleichbedeutend ist mit der Vernunft, drückt er die Vortrefflichkeit der Vernunft aus, unter der einen Bedingung, dass er sich frei und naturgegeben ausdrückt. Er kann also auf seinen Entschluss nicht mehr zurückkommen, der fortan über ihm schwebt. Der Gesamtwille ist in erster Linie Ausdruck der allgemeinen Vernunft, und diese ist kategorisch. Der neue Gott ist geboren.
War der christliche Gott laut den Evangelien und in der katholischen Beichte noch ein verzeihender Gott, so kann es dieser neue Gott, die allgemeine Vernunft nicht mehr sein. Denn zu verzeihen wäre unvernünftig, wider ihre eigenen Prinzipien gehandelt.
Camus Seite 161:
Wenn auch alle verziehen, der Gesamtwille könnte es nicht. Selbst das Volk kann das Verbrechen der Tyrannei nicht auswischen.
Camus Seite 162/163:
Am 21. Januar geht mit der Ermordung des Priesterkönigs das zu Ende, was man bezeichnenderweise die Passion Ludwigs XVI. genannt hat. Gewiss ist es ein abstoßender Skandal, die öffentliche Ermordung eines schwachen und guten Menschen als einen großen Augenblick unserer Geschichte darzustellen. Dieses Schafott bezeichnet keinen Gipfel, weit gefehlt. Nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache, dass das Urteil über den König durch seine Begründung und seine Folgen den Wendepunkt unserer modernen Geschichte darstellt. Es symbolisiert die Entheiligung dieser Geschichte und die Entkörperung des christlichen Gottes. Gott mischte sich bis dahin durch die Könige in die Geschichte. Aber man tötet seinen geschichtlichen Stellvertreter, es gibt keinen König mehr. Es gibt nur noch einen Scheingott, der in den Himmel der Prinzipien verwiesen wird.
Daß die Tatsachen der gesellschaftlichen Wirklichkeit alleine aus dem Glauben der großen Mehrheit an ihre Richtigkeit bzw. Vernünftigkeit (m.a.W. aus kollektiven Intentionen) entstehen und nur dadurch Macht über uns haben können, das begann Rousseau bereits zu ahnen:
Camus Seite 165:
Wenn der Gesamtwille sich frei ausdrückt, kann er nichts anderes sein als der allgemeine Ausdruck der Vernunft. Wenn das Volk frei ist, ist es unfehlbar. Nach dem Tod des Königs und der Lösung der Ketten des alten Despotismus wird das Volk nun ausdrücken, was zu allen Zeiten die Wahrheit ist, gewesen ist und sein wird. Es ist das Orakel, das man befragen muss, um zu wissen, was die ewige Weltordnung fordert. Vox populi, vox naturae. Ewige Prinzipien lenken unser Verhalten: die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Vernunft. Sie ist der neue Gott. Das höchste Wesen, das ganze Trupps junger Mädchen beim Fest der Vernunft anbeten, ist nur der alte Gott, entkörpert, aller Verbindung mit der Erde jäh enthoben und wie ein Ballon in den leeren Himmel der großen Prinzipien gesandt. Aller Stellvertreter und Mittler bar, hat der Gott der Philosophen nur den Wert einer Demonstration. Er ist recht schwach in Wirklichkeit, und man versteht, dass Rousseau, der die Toleranz predigte, dennoch der Meinung war, man müsse die Atheisten zum Tode verurteilen.
Camus Seite 167:
Denn was ist in der Tat die Tugend? Für den bürgerlichen Philosophen der Zeit ist es die Übereinstimmung mit der Natur und in der Politik mit dem Gesetz, das den Gesamtwillen ausdrückt. «Die Moral», sagt Saint-Just, «ist stärker als die Tyrannen.» Tatsächlich hat sie Ludwig XVI. getötet. Jeder Ungehorsam dem Gesetz gegenüber kommt also nicht aus einer, für unmöglich gehaltenen, Unvollkommenheit dieses Gesetzes, sondern aus einem Mangel an Tugend des straffälligen Bürgers. Aus diesem Grund ist die Republik nicht allein ein Senat, wie es Saint-Just kraftvoll ausdrückt, sie ist die Tugend. Jede moralische Verderbtheit ist zugleich politische Verderbtheit und umgekehrt. Ein Prinzip unendlicher Unterdrückung, aus der Doktrin selbst abgeleitet, greift nun um sich.…Die absolute Tugend ist unmöglich, die Republik der Verzeihung führt mit unerbittlicher Logik zur Republik der Guillotine. Montesquieu hatte schon diese Logik als eine der Ursachen des Niedergangs der Gesellschaft dargestellt, als er sagte, der Missbrauch der Gewalt sei größer, wenn die Gesetze ihn nicht vorhersehen. Das reine Gesetz Saint-Justs hatte diese Wahrheit nicht berücksichtigt, die doch so alt ist wie die Geschichte selbst, dass nämlich das Gesetz seinem Wesen nach der Übertretung geweiht ist.
Camus Seite 169:
Saint-Just, Sades Zeitgenosse, endet mit der Rechtfertigung des Verbrechens, obwohl er von verschiedenen Grundsätzen ausgeht. Ohne Zweifel ist er der Anti-Sade. Wenn die Formel des Marquis hätte lauten können: ‹Öffnet die Gefängnisse oder beweist eure Tugend›, so die des Konventmitglieds: ‹Beweist eure Tugend oder geht in die Gefängnisse.› Beide jedoch rechtfertigen einen Terrorismus, der Freigeist einen individuellen, der Tugendpriester einen staatlichen. Das absolute Gute oder das absolute Böse, wendet man auf sie die nötige Logik an, fordern beide die gleiche Raserei.
Camus Seite 177/178:
Das Gesetz kann in der Tat herrschen, sofern es das Gesetz der allgemeinen Vernunft ist. [Hegel erkannte richtig, dass die Aufklärung den Menschen vom Irrationalen befreien wollte. Die Vernunft vereint die Menschen, das Irrationale trennt sie.] Aber das ist es niemals, und seine Rechtfertigung geht verloren, wenn der Mensch nicht von Natur aus gut ist. Eines Tages stößt die Ideologie mit der Psychologie zusammen. Dann gibt es keine legitime Macht mehr. Das Gesetz entwickelt sich also, bis es sich mit dem Gesetzgeber und einem neuen ‹gnädigsten Willem› deckt. Wohin sich dann wenden? Seines Kompasses beraubt und seiner Genauigkeit, wird es immer ungenauer, bis es aus allem ein Verbrechen macht. Das Gesetz herrscht noch immer, aber ohne feste Grenzen. Saint-Just hatte diese Tyrannei im Namen des schweigenden Volkes vorhergesehen. «Das geschickte Verbrechen würde sich zu einer Art Religion aufwerfen, und die Schurken würden in der heiligen Arche sitzen.» Doch das ist unvermeidlich. Sind die leitenden Prinzipien nicht fest begründet, drückt das Gesetz nicht mehr als eine vorübergehende Verfügung aus, ist es nur noch geschaffen, um umgangen oder aufgezwungen zu werden. Sade oder die Diktatur, der individuelle oder der staatliche Terror, beide gerechtfertigt aus dem gleichen Mangel an Rechtfertigung – vom Augenblick an, da die Revolte sich von ihren Wurzeln löst und sich jeder konkreten Moral beraubt, ist das eine der Alternativen des 20. Jahrhunderts.
Betrachte dies bitte nicht als meine umfassende Meinung über das Thema „Vernunft“, es ist vor allem eine Sichtung dessen, was Albert Camus zu diesem Thema zu sagen wusste. Meine Auffassung dessen, was Vernunft sei, findest du hier und die ist ganz wesentlich von dem amerikanischen ironischen Pragmatisten Richard Rorty geprägt worden. Aber das muss für dich ja nicht der Weisheit letzter Schluß sein, darum werde noch andere Philosophen zum Thema „Vernunft“ und „Aufklärung“ zitieren und kurz kommentieren, was ich dazu meine. Im Hinterkopf habe ich bei dem Thema aber auch das, was Dörner in seinem Buch „Bauplan für eine Seele“ dazu sagte und das bereits hier im Blog von mir zitiert und kommentiert wurde. Zum Schluß all dieses exzessiven Zitierens werde ich dann meinen Standpunkt zum Sinn und Unsinn der sogenannten „Aufklärung“ erläutern.
Diese Verfahrensweise gefällt mir deshalb so gut, weil ähnliche Ideen, wie sie mich umtreiben, mit den Worten anderer dargestellt werden, und daher stets ein wenig anders klingen, doch immer – im Wesentlichen – das Gleiche meinen wie ich. Meine Hoffnung dabei ist: Das was ich glaube, wird dadurch leichter verständlich, auch immer ein wenig relativiert, es klingt daher nicht mehr wie eine absolute Wahrheit. 😉