Badewut im 15. Jahrhundert

Als Ergänzung des Blogbeitrages „Was ist Moral“ seien die seit jeher willkürlich und unvorhersehbar wechselnden Moden und Sitten der Menschen an einem Beispiel aus der Geschichte veranschaulicht,  dazu bereitet uns das 15. Jahrhundert eine merkwürdige Überraschung: Die Badewut bricht aus. Ganz Deutschland bringt die Hälfte seiner Tage in Bottichen und Bassins zu. Man scheint das Gefühl zu haben, dass das Wasser zumindest vor einem schütze: vor Verbrennen. Das stimmt. Vor anderem wiederum schützt es nicht, im Gegenteil, kaum eine Meer-Jungfrau bleibt mehr Jungfrau. Ein kurzer Ausschnitt aus dem DEFA-FIlm „Till Eulenspiegel“ kann uns das muntere Treiben in einem solchen Badehaus veranschaulichen:

Die Aufforderung „Wir gehen heute ins Badehaus“ bedeutet damals etwa das gleiche, als würde man heute sagen: Treffen wir uns doch morgen im Café Kranzler oder in der Disco.

Da sehen wir Hans Albers und Gina Lollobrigida, Picasso, Peter und Anni, Notar Vogt und Professor Heisenberg, Onkel Toni und Dior, die ganze Stadtverwaltung, unsere Schulkameraden und Corpsbrüder und die neuesten Filmsternchen. Da gibt es einen guten Mokka, einen herrlichen kalten Spargel Vinaigrette, der Ober weiß alle Neuigkeiten, und jeder kann Bridge und Schach. Also: sagen wir von neun bis halb eins.
Das etwa war es, was unser Ur-Ur-Ur-Großvater meinte.
Das mittelalterliche Badewesen war eine ganz seltsame Erscheinung. Baden hatte ja schon den Germanen viel Freude gemacht. Das lag nicht nur an ihrem Reinlichkeitsbedürfnis. Es war für sie mehr als ein Samstagabend-Abschrubben; Fluß und See waren ein Bestandteil, eine Ergänzung ihres Sportplatzes, ihrer Vogelwiese, ihrer Dorflinde. Der Unrat witternde Bonifatius hatte dem ein Ende gemacht.
Es vergingen mehrere hundert Jahre, ehe die Badelust wieder aufflammte. Die Kreuzritter waren es, die das Baden als feine modische Sitte aus dem Orient, peinlicherweise ausgerechnet von den verachteten Heiden, mitbrachten. Das Minne-Zeitalter, in das dieser Import fiel, war wie geschaffen dafür, und es dauerte nicht lange, da plätscherte es in allen Höfen, Burgen und Bürgerhäusern in Zubern, Wannen und Bottichen. Soweit ist noch alles erklärlich. Unerklärlich aber ist es bis heute geblieben, wie im 14. Jahrhundert das Baden plötzlich eine derartige Leidenschaft werden konnte, daß weder Verelendung noch Inquisitionsschrecken daran irgend etwas ändern konnten. Im 14. Jahrhundert stand das Baden bereits in voller Blüte, im 15. Jahrhundert nahm es dann Formen an, die geradezu unvorstellbar sind. Es gibt einen alten Kupferstich von Aldegrever »Was man zur Erhaltung der Lebensfreude tun muß«. Er stellt eine Gartenszene dar, in der zehn Personen zu sehen sind. Ein Paar ißt und trinkt, ein anderes Paar flirtet miteinander, ein Spaßmacher mit Narrenkappe erheitert die Gesellschaft, ein anderer Mann bläst die Querflöte und befriedigt damit den schönen Drang zum Höheren, ein Arzt ist auch da und betrachtet gerade ein Harnglas. Groß im Vordergrund aber steht ein Badebottich. Eine nackte Frau, vor sich ein Brett mit Blumenvase, sitzt im Wasser und harret des Mannes, der, ebenfalls bereits splitternackt, sogleich zu ihr ins Bad steigen wird.
Wenn man heute ein solches Bild malen würde, so müßte natürlich, um den rechten Begriff zu geben, vorn ganz groß eine Zigarette zu sehen sein. Die Popularität der Zigarette – die hatte damals das Bad. Im 15. Jahrhundert hätte man am liebsten zehnmal am Tage gebadet. Leider war das weder zeitlich noch geldlich zu erschwingen. Anfang des 14. Jahrhunderts klagt ein Ritter einmal, daß seine Einkünfte bedauerlicherweise zu gering seien, um ihm täglich zwei Besuche des Stadtbades zu erlauben.
Große Höfe und Burgen wohlhabender Ritter besaßen eigene Badestuben. Aber lediglich, weil es zum guten Ton gehörte; amüsant war es nicht. Amüsant waren die öffentlichen Bäder. Basel besaß schon Anfang des 14. Jahrhunderts fünfzehn. Die Zahlen stiegen dann rapide an; im 15. Jahrhundert hatte auch die kleinste Stadt ein öffentliches Badehaus. Es waren oft große, stattliche Gebäude. Zur ebenen Erde lagen Flure mit Ankleideräumen und das Bassin oder ein großer Raum mit Bottichen, Liegebänken, Öfen mit heißem Wasser, Kübeln, Reisig-Ruten, Wedeln und Bürsten zum Massieren; in der Höhe des ersten Stocks pflegte eine Galerie um den Saal zu laufen, die man von außen betreten konnte und die für Zuschauer und Besucher gedacht war.
Dann gab es Etagen, in denen Kabinen eingebaut waren, Verschlage mit doppelsitzigen Wannen, längs der langen Korridore. Ein »séparée« konnte man auch im großen Baderaum bestellen; dann errichtete der Bader über dem Holzzuber ein Spitzzelt, den sogenannten Baderof. Er verhinderte das Entweichen des Dampfes und war also als eine Art Schwitzbad gedacht. Ein alter Holzschnitt zeigt uns, daß er aber sehr bald nichts anderes als ein Chambre séparée war. In den obersten Stockwerken wohnte der städtische Bader mit seinen Gesellen und Mägden. Dort war auch die Küche, denn jeder Bader betrieb eine schwunghafte Ökonomie.
Morgens in aller Frühe wurde gefegt, geschrubbert, geheizt, wurden Speisen und Getränke hergerichtet, Frühstücksportionen zurechtgemacht, und dann gingen die Gesellen durch die Straßen und riefen laut aus, daß das Haus bereit sei.
Im 15. Jahrhundert bot sich nun folgendes Bild: Zwischen den schon arbeitenden Knechten und Mägden, zwischen Planwagen, die beladen wurden, und stampfenden Rossen rannten als erste die Kinder, die Mädchen und Buben der wohlhabenderen Bürger, ins Bad. Den Morgenapfel oder Wecken noch in der Hand, so, wie sie aus dem Bett gesprungen waren, liefen sie die Gassen herunter. Sie hatten nur ihr Hemdchen an oder die Hose; in der Hochblüte der Bademode rannten sogar vierzehn- und fünfzehnjährige Mädchen nackend über die Straße ins Bad. Aus Tirol wird es uns noch aus dem 17. Jahrhundert berichtet.
Der Jugend folgten gemesseneren Schrittes die Erwachsenen, die Damen auch nur sehr leicht bekleidet, die Herren anscheinend korrekter, denn sie werden wohl vorher einen Sprung ins Kontor gemacht haben.
In den Vorräumen zog man sich aus. Dann betraten Männer und Frauen nackend (zu einigen Zeiten mit einer dünnen Schamverhüllung) die Badestuben. Am liebsten badete man paarweise in einer Wanne sitzend. Der Bader legte ein Brett über den Rand und fragte nach den Wünschen. Er servierte das Frühstück auf dem Brett, schmückte es eventuell mit Blumen, schlug auf Wunsch den Baderof auf, füllte warmes Wasser nach und berichtete, wer schon alles da sei. Er vermittelte Bekanntschaften, flüsterte heimliche Grüße, Wünsche, Verabredungen, zeigte obszöne Bildchen und erzählte die letzten Neuigkeiten der Stadt.
Man aß und trank, planschte herum, ließ Hand und Finger spielen, recht ungeniert, plauderte mit dem Nebenpaar oder begrüßte Bekannte, die sich zu einer kurzen Morgenvisite als Zuschauer auf der Galerie eingefunden hatten. Dann, oft nach Stunden, stieg man aus dem Wasser, machte es sich auf den Bänken bequem und ließ sich von einem Knecht oder einer Bademagd duschen, abreiben und massieren, »zwagen«. Mütter aus einfacheren Bürgerkreisen beschäftigten sich mit der Reinigung ihrer kleinen Bälger, die in Schüsseln saßen; die Papas ließen sich inzwischen vom Bader, der nur mit einem schlecht sitzenden Lendenschurz bekleidet war, die Haare schneiden und rasieren. Manche Damen machten ein Schwätzchen mit einem Bekannten, der von der Freitreppe durch das Fenster schaute, während der Gemahl mit dem Oberbürgermeister Bauch an Bauch saß und Schach, Dame oder Karten spielte. Inzwischen trieb Klein-Kuno eingehende Vorstudien, und seine fünf Jahre ältere Schwester kaufte unter der Hand vom Bader die ersten »Mittelchen«. Alleinstehende ältere Damen baten den schweißglänzenden Badergesellen Fritz für ein Viertelstündchen exklusiv zu sich in die Kabine, und auch die Mägde verdienten sich manches gute Geld nebenher.

»Der bader und sin gesind
gern huoren und buoben sind«,

lautet ein Spruch aus der Zeit. Der Bader galt mitsamt seiner Familie und allen Mägden und Knechten als »unehrlich«, das heißt, er stand auf einer Stufe mit dem Henker und dem Bordellwirt. Aber reich ist er geworden.
In einem solchen Stadtbad lernte 1428 in Augsburg der junge Herzogssohn Albrecht von Bayern Agnes Bernauer, das Töchterchen des Baders, kennen und lieben. Sie ließ sich von ihm heiraten und büßte diese Kühnheit mit dem Tode. Albrechts Vater ließ die »Bademagd« in die Donau stürzen.

Auch die Naturheilbäder erlebten in dieser Zeit eine große Blüte: Wildbad im Schwarzwald, Baden-Baden, Baden im Aargau vor allem; später Pyrmont. Wir haben viele eingehende Schilderungen. Da strömten vom Frühjahr bis zum Herbst jahraus, jahrein von weither die Menschen herbei, mieteten sich in den zahlreichen Herbergen und Gasthöfen ein und blieben, solange es ihre Zeit und ihr Geld erlaubten, Ratsherren und Ritter, Junker, Gelehrte, Grafen, Handelsherren, Krämer, Domherren, Handwerksmeister, Priester, Mönche, Nonnen, Damen des Adels und des städtischen Patriziats, Verheiratete, Alleinstehende, junge und alte. Die Äbtissin des Fraumünsters von Zürich verkaufte 1415 ihren Meierhof, um sich das Geld für ihre Reisen nach Baden zu beschaffen. Ganze Klöster erkauften sich Generallizenz und reisten los.
Man wohnte, in Baden zum Beispiel, entweder in den dreißig feineren Gasthöfen oder in den einfachen Herbergen. Die Gasthöfe besaßen eigene Badesäle mit Quellwasser; für die anderen »Kurgäste« waren zwei große Bassins im Freien da. Es gab zwar eine Männer- und eine Frauenabteilung, aber sie waren nur flüchtig getrennt. Man stieg in den Freibädern vor aller Augen nackt ins Wasser. Man war gewissermaßen nackter als nackt: es galt als fein und anständig, keine Schamhaare zu haben. Man rasierte sie aus.
Etwas »konventioneller« sollte es in den dreißig Bade-Sälen zugehen: »Item soll ein jeder Badender, sei es Manns- oder Weibsperson, ihre Heimlichkeiten zudecken.« Das ist aber oft ein frommer Wunsch geblieben. (Auf einem Holzschnitt von Beham sind alle Badenden und Schmausenden des säulengeschmückten vornehmen Heilbades splitternackt.)
Denn inzwischen war der Geist der italienischen Renaissance nach Deutschland heraufgekommen, und jedermann hatte ganz offen das größte Vergnügen an den körperlichen Preziosen. Der Liebesgenuß war gar nicht anstößig, und mit Zärtlichkeit gedachte man daher der Dinge, die ihn ermöglichten.
Dieser »Dinge« gab es nun die Hülle und Fülle zu sehen und zu fühlen: beim Tummeln im Wasser zu zweit oder im Reigen, beim Spielen, beim Zechen, beim Tänzchen auf der »Matte« (Wiese) des Freibads. Von der traditionellen Galerie der Badehallen warfen die Zuschauer nicht nur Scherzworte hinunter, sondern auch Blumensträußchen, wenn man eine Bekannte sah, oder scherzweise kleine Münzen, wenn einem ein Mädchen gefiel und es so aussah, als könne man sich das erlauben.
Gewöhnlich konnte man es sich erlauben, denn in den Heilbädern wimmelte es zur Hochsaison von »gelüstigen Fräuleins«. Ich erinnere daran, daß die schwarze Marei in Konstanz allein 800 Gulden verdient hatte! Die gefälligen jungen Damen, meist besonders gut gewachsen, hoben dann ihr geschlitztes Hemdchen aus hauchdünnem Flor (sie trugen natürlich eins) hoch, um die Münzen aufzufangen, was gar hübsch anzusehen war.
»Da leben auch Äbte, Mönche, Brüder und Priester«, heißt es in einem zeitgenössischen Brief, »in größter Freiheit, baden mit den Frauen und schmücken die Haare mit Kränzen, alle Religion beiseite lassend.«
Das ist charmant gesagt.
»Eine unzählige Menge von Adeligen und Bürgerlichen kommt hier zusammen. Zweihundert Meilen weit oft, nicht eben allein wegen der Gesundheit, sondern der Lust wegen, alles Liebhaber, alles Freier, alle, denen an einem genußreichen Leben gelegen ist. So sieht man unzählige schöne Frauen, auch ohne Männer, ohne Verwandte, aber mit zwei Dienerinnen oder einem Knecht oder alten Magd, die leichter zur Täuschung sind.«
Uns ist ein Gespräch zwischen einer Mutter und ihrer sechzehnjährigen Tochter überliefert; die Mama, stöhnend über die Begleitung ihres Kindes (die Tochter stöhnte über die Begleitung der Mutter), hat das Töchterchen mit einem Mann erwischt und macht ihr Vorwürfe – nicht prinzipiell, nur weil sie noch zu jung sei. Darauf antwortet das Mädchen: »I, Ihr habt ja Eure Jungfernschaft schon als Zwölfjährige verloren.«
»Du freches Ding! Nun gut, tu’s also meinetwegen.«
»Ja, das tät ich gern, aber Ihr fischt mir ja die Männer vor der Nase weg! Pfui, daß Euch der Teufel hole! Ihr habt doch einen Mann, was braucht Ihr noch andere?«
»Töchterchen«, sagte die Mama, »schweig still! Tu es, so viel du willst, ich will nichts mehr dazu sagen, auch wenn du ein Kindlein wiegen müßtest. Aber das sage ich dir: Sei auch du verschwiegen, wenn du mich der Minne nachgehen siehst.« Sicher standen die Bäder damals mit gutem Grund in dem Ruf, die Fruchtbarkeit zu fördern, aber es wird, wie sich ein Historiker einmal ausdrückte, nicht am Wasser gelegen haben.
Auch Kaiser waren oft »Kur«-Gäste.
Die Offenheit, mit der die Kaiser überhaupt ihr nächtliches Leben damals vor dem Volke ausbreiteten, ist verblüffend. Von König Wenzel ab (1378) bis zu Maximilian, dem »letzten Ritter« (1519), waren die Kaiser und Könige geradezu die Paradepferde der Bordelle ihrer geliebten Reichsstädte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie würden die Approbation »by appointment of the king« oder »Hoflieferant« mit Hauswappen verliehen haben. Heutzutage sind die offiziellen Würdenträger, die ja meistens über 70 sind, zurückhaltender geworden, wenn es auch noch nicht lange her ist, daß zum Beispiel die erste Frage des italienischen Außenministers Graf Ciano bei der Ankunft auf dem Bahnhof in Berlin einmal lautete: »Wie steht es mit Frauen? Oder ist heute abend etwa was anderes vorgesehen? Fahren wir doch gleich in die Giesebrechtstraße!« Womit er sich auf das berühmte, sehr kultivierte Freudenhaus am Kurfürstendamm bezog, das damals eine Vereinbarung mit dem Auswärtigen Amt besaß und dessen Gästen auf Staatskosten zur Verfügung stand.
Was für eine geschamige Bagatelle gegen das 15. Jahrhundert!
Besuchte damals der Kaiser eine Stadt, so gehörte der feierliche Einzug in das städtische »Freudenhaus« mit dem gesamten Gefolge zum Protokoll. Der Magistrat inspizierte vorher die »gelüstigen Fräulein« (die er sowieso genau kannte) und besorgte eventuell noch einige Spitzenkönnerinnen von außerhalb. Die Hamburger halfen den Bremern aus, die Mainzer den Frankfurtern, die Augsburger den Ulmern. Man muß sich überhaupt vorstellen, daß ein reges Gewoge dieser Damen herrschte (nur nicht aus der gleichen Stadt durften sie sein und nicht verheiratet), man importierte aus Skandinavien und London und exportierte nach Venedig. Schwäbische und sächsische Mädchen notierten am höchsten. »Mädle aus dem Schwarzen Wald …« besingen wir noch heute.
Die hübschen Damen wurden dann für den kaiserlichen Besuch vom Stadtrat neu eingekleidet zu dem einzigen Zweck, sich wieder auskleiden zu lassen. Wien ließ ihnen 1435 aus solchem Anlaß Samtkleider schneidern.
In Ulm veranstaltete man auf dem Wege von der kaiserlichen Unterkunft zum »Frauenhaus« eine Festbeleuchtung. »Ehrenjungfrauen«, eine Garde jüngster, unschuldigst blickender Frauenhaus-Insassinnen, empfingen die Könige mit Blumen schon am Stadttor. Oder man bekränzte den hohen Herrn mit griechischem Lorbeer, drückte ihm einen rotbäckigen Apfel in die Hand und ließ ihn inmitten der Volksmenge vor den drei schönsten, völlig nackten Mädchen der Stadt das Paris-Urteil verkünden. Oder im Brunnen-Bassin vor dem Rathaus schwammen ihm stramme deutsche Nixen einen Willkommens-Salut. Selbstverständlich sah die ganze Stadt zu, auch die Kinderschar mit Klein-Kuno an der Spitze, der sich wieder einmal informierte; und nur die Frauen und Töchter der distinguierten Familien pflegten darauf zu verzichten, weil es nicht ungefährlich war, die Aufmerksamkeit des Kaisers, vor allem Wenzels oder Sigismunds, zu erregen. Mutter und Töchterchen standen dann, wie es Hauffs »Lichtenstein« so traulich beschreibt, im Erker und lugten hinter den Butzenscheiben hervor.
In dieser Nacht wußte also jedermann: Jetzt sind der Kaiser und die hohen Herren protokollgemäß fleißig, und wie es gewesen war, wird man morgen von den gelüstigen Fräulein und dem »Ruffian«, ihrem Chef, erfahren. Auch der Bader würde es wissen. Das war sehr spannend und gab unerschöpflichen Gesprächsstoff.
Die Frauenhäuser der Reichsstädte waren alles andere als trübselige, schmuddlige Stätten, und die gelüstigen Fräulein nicht zu vergleichen mit den niederen »fahrenden Frauen«. Die gelüstigen Fräulein sind oft für würdig befunden worden, gemalt und gezeichnet zu werden. Auch Albrecht Dürer hat es getan.
Der Kaiser schloß in den Dank an die Stadt stets einen besonderen Dank für den Besuch des Freudenhauses ein. In Bern, wo er 1414 mitsamt seinen 800 begleitenden Rittern das Haus dreimal besucht hatte, ließ er sein Kompliment vom Balkon herunter dem Volk verkünden; mitunter tat er es sogar persönlich. Dann lauschten die Ratsherren und Bürger verträumt, und nur der Stadtkämmerer dachte mit Entsetzen an die Rechnung. Denn die Summe macht’s.
Das gelüstige Fräulein bekam nicht viel. In dem Haushaltsbuch eines Straßburger Beamten, der die städtischen Abgaben in den Freudenhäusern zu kassieren hatte, findet sich nach einem Dienstgang die Notiz: »Hab a gebickt, thut 30 Pfennig.«
Der Pfennig war damals nicht mehr das wert, was er noch 100 Jahre vorher gegolten hatte. Für 30 Pfennig wird man etwa drei Pfund Rindfleisch bekommen haben.
Von diesen 30 Pfennigen mußte das Mädchen gewöhnlich 3 bis 4 Pfennige »Schlaffgeld« an den Wirt abführen und 6 Pfennige für die Beköstigung zahlen. Der Stadtrat trug Sorge dafür, daß Ordnung und Sauberkeit herrschten, daß von Zeit zu Zeit ein Arzt das Haus inspizierte und daß das Essen, das der Ruffian den Mädchen zu liefern hatte, gut war. In der Ulmer Hausordnung heißt es: »Er soll ainer jeden Frauen in seinem Haus wohnend das Mahl umb 6 Pfennig geben und sie damit höher nit staigern, ihr aber jedes mal, so man Fleisch essen soll, auch solches geben, suppen und fleisch und rüben, oder Kraut und fleisch, welches er dann nach Gelegenheit der Zeit am besten haben mag, und aber am Sonntag, am Afftermontag und am Donnerstag zu Nacht, so man also Fleisch isset, ein gebratenes oder gebackenes davon.«
Für Angehörige des Frauenhauses gab es keinen »Schuldturm«; kein Mädchen durfte, falls es verarmte oder einmal die Abgaben nicht zahlen konnte, ausgewiesen oder am Austritt verhindert werden. Wenn man sich auf der anderen Seite das primitive, armselige und schwere Leben der niedrigsten Stände vorstellt, so versteht man, daß sich viele Mädchen zu den Frauenhäusern drängten. Die berufliche Seite der Geschichte erschreckte damals kaum jemand von den Mädchen aus dem ärmsten Teil des Volkes. Man sah das Geschlechtliche und damit auch das Frauenhaus als Einrichtung für so selbstverständlich an, wie heute die Blechhäuschen an den Straßenecken für alle die, die »mal müssen«. Mehr war es für das einfache Volk damals auch nicht. Uns ist mehr als ein Fall überliefert, wo ein Mann auf dem Feld oder im Wald einer fremden Bauersfrau begegnete, sie grüßte, ansprach, ihr sagte, daß er es »so sehr nötig« hätte, und in der nächsten Minute aus einfacher Gefälligkeit seinen Wunsch erfüllt bekam.
Die patrizischen Familien sahen in der Einrichtung der Frauenhäuser einen Schutz gegen Belästigungen ihrer eigenen Frauen, denn die ganze Luft war damals geschwängert mit Erotik und voll Körpergeruch. Manche Stadt war daher so liebenswürdig und tolerant gegen die gelüstigen Fräulein, daß sie ihnen Bürgerrechte verlieh »umb ihrer Aufopferung für das gemeyne Beste willen«. Fast genossen sie den Schutz einer Zunft.
Wenn ein Kneipwirt heimlich in seinen Hinterzimmern ein Bordell einrichtete und sich Mädchen hielt, so wurden die gelüstigen Fräulein des städtischen Frauenhauses fuchsteufelswild. 1482 richteten sie in Nürnberg eine Bittschrift an den Rat, den unlauteren Wettbewerb abzustellen und die schuldigen Wirte »umb Gottes und der Gerechtigkeit willen zu strafen und solches hinfüro nicht mehr zu gestatten, denn wo solches hinfüro anders als bisher gehalten werden sollte, müßten wir Armen Hunger und Kummer leiden«. Nachdem sie mehrere erfolglose Petitionen eingereicht hatten, erhielten sie vom Rat der Stadt insgeheim die Erlaubnis, das Lasterhaus zu stürmen. Sie taten es. Am folgenden Abend öffneten sich die Tore des Frauenhauses, und eine Prozession von hundert gelüstigen Fräulein, angetan mit ihren vorgeschriebenen Berufsabzeichen (grüne Röcke in Nürnberg, in Leipzig gelbe Mäntel, in Augsburg grüne Schleier, in Zürich rote Mützen), bewegte sich auf die Vorstadtschenke zu, rannte die Türen ein, demolierte das Haus und verprügelte, was sich vorfand. Nicht nur die Polizei sah mit gekreuzten Armen zu, sondern die halbe Stadt, es war ein herrliches Fest.
Man verfolgte also, über das Frequentieren hinaus, das Wohlergehen des gastlichen Frauenhauses auch theoretisch mit heiterem Interesse. Es ersetzte den modernen Club. Und wie heute hat es auch damals inaktive Clubmitglieder gegeben, die dort des Abends jene anstrengende Tätigkeit fortsetzten, die sie tagsüber auf der Galerie des Stadtbades getrieben hatten: Freunde zu besuchen, herumzustehen und zu schwatzen. Die Städte waren reich geworden, die Herren Söhne der wohlhabenden Familien standen mit der Arbeit nur auf flüchtigem Gruß-Fuß. Man wußte ja, wie es einst der Adel und die Ritterschaft gehalten hatten, und fühlte sich als ihr Erbe.
In den Frauenhäusern wurde sehr gut gegessen und getrunken; es gab große Gelage mit hohen Glücksspielen, es gab aber auch stille »englische« Clubabende, wo man die Beine auf den Kastentisch legen und sich in Muße die Badezeichnungen von Sebald Beham oder die entzückend gemalten Hexen von Hans Baidung Grien ansehen konnte.
Ich weiß nicht, ob der Ehemann zu Hause nach dem Abendbrot so gegen 8 Uhr 30 gesagt haben wird: »Gertrude, Liebling, ich gehe jetzt noch mal auf einen Sprung – entschuldige den Doppelsinn des Wortes – auf einen Sprung ins Frauenhaus.« Ich weiß nicht; vielleicht ist es sans façon so gewesen. Es war eine Zeit kolossaler Sinnlichkeit. Mit dieser schrankenlosen Lust verdrängte der Lebensinstinkt die Gefahr des Kapitulierens. Die Freudenhäuser waren wahre Festungen.
Verheiratete, Geistliche und Juden sollten an sich ein Frauenhaus nicht betreten; tatsächlich aber war es nur den Juden bei Todesstrafe verboten. Ehemänner, die zu allen Zeiten mehr Geld zu haben pflegen als ihre unverheirateten Söhne, waren die Stützen, die Säulen dieser Häuser. Und Geistliche waren Stammgäste. In Nördlingen erregte es Aufsehen, als der Rat im Jahre 1472 wagte, den Mönchen wenigstens den Verbleib über die ganze Nacht zu verbieten.
Sie waren nicht gern gesehen, die frommen Herren; sie hatten meistens kein Geld. Der Ruffian sah am liebsten seriöse Bürger. Die gelüstigen Fräulein aber, oft überarbeitet und der Poltriane müde, fanden am einfachsten und daher gesündesten die Kinder. Die jüngste Jugend, zwölf- und dreizehnjährige Kaufmannssöhne besuchten unauffällig, aber tüchtig den Tattersall der Liebe. In Ulm erließ der Stadtrat erst im Jahre 1527 den Befehl, alle Buben unter 14 Jahren »mit Ruten hinauszujagen«. Zu jener Zeit hatten aber die Frauenhäuser, wie wir noch sehen werden, sowieso schon ausgespielt. Daß man Kinder nicht allzufrüh darin sehen wollte, hatte, fürchte ich, weniger moralische als ökonomische Gründe. Spare in der Zeit, so hast du in der Not. Es gibt einen urkomischen Briefwechsel über dieses Thema:
»Ihr wollt uns doch verständigen, ob der allmächtige Gott Euch einen Erben beschert habe, denn wo solches nicht geschehen, müssen wir es Eurer Faulheit oder daß der gute Zwirn hievor in die bösen Säcke vernäht worden, schuld geben.«
An Stelle des Ehemannes schrieb die Gattin dem Freunde persönlich zurück:
»Wir sind zu Gott getroster Hoffnung, da wir unserem Gemahl, der sein Werkzeug gleich als der Zimmermann weidlich braucht und nicht feiert, gar keine Schuld zu geben wissen.«

Badewesen und Frauenhäuser erlebten ein fast 400 jähriges Alter. Das Ende ihrer Blütezeit jedoch, nach der sie sich eigentlich nur noch bescheiden und verrottet hinschleppten, kündigte kurz nach 1500 ein jäher Paukenschlag des Schicksals an.
Ein Ereignis trat ein, das für das gesamte Liebesleben eine größere Umwälzung zur Folge hatte als irgendein anderes Ereignis seitdem: Die Syphilis brach über Europa herein. Das war das erste Geschenk des neuentdeckten Kontinents Amerika.

JOACHIM FERNAU
UND SIE SCHÄMETEN SICH NICHT
Ein Zweitausendjahr Bericht
Econ- Verlag Düsseldorf • Wien
Neuauflage 1967 by Econ-Verlag GmbH, Düsseldorf und Wien
Gesamtherstellung: Ebner, Ulm
Printed in Germany
Seiten 108 – 120

3 Kommentare

  • Schön abgeschrieben bei Joachim Fernau, „Und sie schämeten sich nicht“, 9. Kapitel, S. 150-167 in meiner Ausgabe von 1981 (Erstausgabe von 1958)

    • Danke für diesen netten Hinweis! Leider habe ich erst nachdem Sie mich darauf aufmerksam machten erkannt, dass ich verspulter Dussel die falsche Quelle genannt habe. Aber es war tatsächlich das Buch von JOACHIM FERNAU
      UND SIE SCHÄMETEN SICH NICHT
      Ein Zweitausendjahr Bericht
      Econ- Verlag Düsseldorf • Wien
      Neuauflage 1967 by Econ-Verlag GmbH, Düsseldorf und Wien
      Gesamtherstellung: Ebner, Ulm
      Printed in Germany
      Seiten 108 – 120
      aus dem ich zitiert hatte.
      Zum Dank nun auch von mir eine netter Hinweis an Sie: Da Sie im Jahr 1981 dieses informative Werk von Joachim Fernau herausgegeben haben – wäre es für Sie nicht an der Zeit nun endlich eine neue Ausgabe von „Und sie schämeten sich nicht“ auf den Weg zu bringen, da es inzwischen nur noch antiquarisch erhältlich ist?

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