J. S. Bach: Chaconne d-moll aus BWV 1004; Orgelfassung
Diese von Wilhelm Middelschulte ca. 1900/01 erstellte Orgelfassung der Chaconne aus der Partita für Violine solo, BWV 1004, komponiert von Johann Sebastian Bach, habe ich mit Samples der Rieger-Orgel im Großen Saals des Konzerthauses Wien (Vienna Konzerthaus Organ) eingespielt.
Die Chaconne ist ein, für J.S. Bach ungewöhnlich, sehr emotional geprägtes Werk und stellt alles in den Schatten, was bis dahin für die Violine geschrieben wurde, sie dauert fast eine Viertelstunde und ist technisch eines der schwierigsten Stücke der Violinliteratur. Doch Bach ging es weniger darum ein Virtuosenstück für die Geiger zu komponieren.
Nach der Entdeckung der in der Chaconne verborgenen Choralzitate (Dein Will gescheh‘ allzeit; Befiehl du deine Wege; Jesu, meine Freude; Christ lag in Todesbanden; Den Tod niemand zwingen kunnt; In meines Herzens Grunde; Nun lob mein Seel den Herren; Wo soll ich fliehen hin; Jesu, deine Passion) durch Helga Thoene liegt die Annahme nahe, daß die Chaconne so etwas wie ein musikalischer Grabstein für Bachs verstorbene Frau sein musste. In ihrem Buch „Ciaccona – Tanz oder Tombeau? Eine analytische Studie“ kommt sie anhand einer komplexen Beweisführung zu dem Ergebnis, dass Johann Sebastian Bach mit dem Stück nicht nur seiner Frau ein musikalisches Grabmal setzte, sondern auch, dass die Chaconne nach dem Kirchenjahr geordnet sei. Für die Beweisführung nutzt sie ein Zahlenalphabet, mit dem sie die Noten in Zahlen umwandelt und so aufwendige Rechnungen anstellt. Auch stellt sie eine Präsenz des Kirchenjahrs fest und identifiziert Choralzeilen als – allerdings unhörbaren – cantus firmus. Davon ausgehend deutet sie jede Note nach den Prinzipien der Gemmatrie um und interpretiert das – eigentlich weltliche – Instrumentalstück vor einem kirchlich-religiösen Hintergrund.
In der PDF-Datei „Der Tod der Maria Barbara Bach – Musik als Ort der inneren, der religiösen Verarbeitung“ aus dem Buch des Psychologen „Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach“ wird die These von Helga Thoene anhand der biografischen Daten aus den Leben Bachs aus der Zeit, als er dieses Werk schrieb, psychologisch untermauert.
Einige Auszüge aus dem Buch von Andras Kruse:
Über den Tod der Maria Barbara Bach im Jahre 1720 ist im Nekrolog (erschienen in Leipzig, 1754) zu lesen:
Zwey mal hat sich unser Bach verheyratet. Das erste mal mit Jungfer Maria Barbara, der jüngsten Tochter des obengedachten Joh. Michael Bachs, eines brafen Componisten. Mit dieser hat er 7. Kinder, nämlich 5 Söhne und 2 Töchter, unter welchen sich ein paar Zwillinge befunden haben, gezeuget. Drey davon sind noch am Leben, nämlich: Die älteste unverheyratete Tochter, Catharina Dorothea, gebohren 1708; Wilhelm Friedemann, gebohren 1710, itziger Musikdirector und Organist an der Marktkirche in Halle; und Carl Philipp Emanuel, geboren 1714, Könglicher Preußischer Kammermusicus. Nachdem er mit dieser seiner ersten Ehegattin 13. Jahre eine vergnügliche Ehe geführet hatte, widerfuhr ihm in Cöthen, im Jahre 1720, der empfindliche Schmerz, dieselbe, bey seiner Rückkunft von einer Reise, mit dem Fürsten nach dem Carlsbade, todt und begraben zu finden; ohngeachtet er sie bey der Abreise gesund und frisch verlassen hatte. Die erste Nachricht, daß sie krank gewesen und gestorben wäre, erhielt er beym Eintritte in sein Hauß (BachDokumente III, 666).
Die mangelnde Beschäftigung vieler Musikwissenschaftler mit den persönlichen Folgen, die dieser Verlust für Johann Sebastian Bach hatte, ist der Tatsache geschuldet, dass von Maria Barbara Bach und deren Ehe mit Johann Sebastian Bach nur sehr wenig überliefert ist, man somit rasch ins Spekulieren gerät. Hier ist der Blick auf ein Werk Johann Sebastian Bachs – nämlich die Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll für Violine solo (BWV 1004) – wichtig, das kurz nach dem Tod der Maria Barbara entstanden ist und das in der Musikwissenschaft als Tombeau oder Epitaph, mithin als musikalisches Grabmal für Maria Barbara Bach gedeutet wird (das Wort Tombeau stammt aus dem Französischen, le tombeau = ’ Grabmal; das Wort Epitaph stammt aus dem Altgriechischen, επιτάφιοv, beziehungsweise aus dem Lateinischen, epitaphium = ein an die Verstorbene oder den Verstorbenen erinnerndes Denkmal). Die Tombeau- beziehungsweise Epitaph-These (siehe vor allem Thoene 1994, 2003) führt in besonderer Weise vor Augen, wie intensiv die seelische und geistige, wie intensiv die religiöse Auseinandersetzung Johann Sebastian Bachs mit dem Tod seiner Frau gewesen ist und wie sehr ihm die Musik dabei diente, diesen seelischen und geistigen, diesen religiösen Prozess auszudrücken. Dabei ist die Analyse von Helga Thoene wichtig, die darauf hindeutet, dass die Chaconne ein Epitaph für Maria Barbara Bach bildet. Die von Christoph Rueger (2003) getroffene Aussage, wonach die Musik Johann Sebastian Bach in der Auseinandersetzung mit dem Tod seiner Frau auch deswegen Halt gegeben habe, da sie für ihn Brücke zur anderen Welt gewesen sei, der Maria Barbara Bach nun angehöre, ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Denn die engen Zusammenhänge zwischen der Chaconne und zahlreichen Chorälen, die Helga Thoene in ihrer Analyse aufdeckt, fordern geradezu eine derartige Aussage heraus:
Johann Sebastian Bach scheint in der Tat die innere Verarbeitung dieses Verlustes auf eine religiöse Ebene zu heben. Dabei wäre es falsch, würde man die Verarbeitung auf einer religiösen Ebene mit dem Begriff der „Verklärung“ umschreiben, oder würde man darin gar eine „Verdrängung“ sehen wollen. Die Chaconne macht nämlich deutlich, dass von Verklärung, dass von Verdrängung nicht die Rede sein kann. Der Rahmenteil dieses Werkes spricht vielmehr für Erschütterung, Trauer, Getroffensein, man kann auch sagen: für die Ordnung des Todes. Wenn wir uns der Annahme anschließen, dass es sich bei diesem Werk um ein musikalisches Grabmal handelt, dann dürfen wir auch sagen: Der Rahmenteil dieses Werkes zeugt von der Erschütterung, der Trauer, dem Getroffensein des Menschen Johann Sebastian Bach. Und der musikalische Ausdruck dieser Empfindungen führt ihn zu Chorälen, in denen ausdrücklich von der Finsternis des Todes die Rede ist. „Religiös“ meint hier also nicht „verklärt“, sondern es meint vielmehr den wahrhaftigen, den offenen Ausdruck dessen, was den Musikschaffenden berührt, wobei dieses innere Empfinden nicht einfach „mitgeteilt“, sondern im Vertrauen auf Gott kommuniziert wird. Der Mittelteil zeugt von Hoffnung, von der Hoffnung nämlich auf die Erfüllung der Erlösungszusage – wobei diese Hoffnung nicht nur ihm selbst gilt, sondern auch und vor allem seiner verstorbenen Frau. Die von Helga Thoene vorgenommene Interpretation des Chorals Vom Himmel hoch, da komm ich her als Ankündigung der Wiederkunft Jesu Christi, als „Parusie“, ist hier wichtig. Der Begriff der Parusie leitet sich aus der altgriechischen Sprache ab: Παρουσία, parusía ist mit „Ankunft, Wiederkunft“, weiterhin mit „Gegenwart“ zu übersetzen und meint das Kommen des Reiches Gottes. Es sei angemerkt, dass die ersten Christen die Parusie noch zu ihren Lebzeiten erhofften. Diese Interpretation ist deswegen wichtig, weil sie uns verstehen lässt, warum Johann Sebastian Bach den Mittelsatz der Chaconne in D-Dur gesetzt hat, warum die Violine unüberhörbar Fanfarenklänge und Paukenschläge imitiert. Hier artikuliert sich musikalisch die Hoffnung und das Vertrauen auf das Reich Gottes, man kann auch sagen: die Gewissheit, dass mit Tod und Auferstehung Jesu Christi das Reich Gottes schon gegenwärtig ist. Diese Hoffnung, dieses Vertrauen ist religiös motiviert, deswegen aber noch lange nicht verklärend oder verdrängend, denn der Rahmenteil der Chaconne zeigt uns ja, wie gegenwärtig in dieser Musik und dies heißt auch: im Erleben des Komponisten der Tod ist. In der Hoffnung, im Vertrauen spiegelt sich vielleicht aber noch ein weiterer Wunsch wider, nämlich der, seine Frau – wenn auch verwandelt – wiedersehen zu dürfen. Wer sich intensiv mit den Gedanken, Wünschen und Hoffnungen von Hinterbliebenen beschäftigt, der erfährt immer wieder, wie tief deren Hoffnung ist, den Verstorbenen nach ihrem eigenen Tod wiederzusehen; der erfährt weiterhin, dass gerade in jenen Fällen, in denen die Beziehung von Liebe erfüllt war, die Hoffnung besteht, den Verstorbenen auch in diesem Leben weiterhin „spüren“, mit diesem in einer inneren, einer geistigen Beziehung stehen zu können. Möglicherweise wollte Johann Sebastian Bach im Mittelsatz zusätzlich diese zuletzt genannte Hoffnung ausdrücken. Wen würde dies angesichts der Liebe, die er für Maria Barbara empfunden hat, wundern? Und wer würde auch heute einem Trauernden, der diese Hoffnung ausdrückt, widersprechen wollen? Wie Helga Thoene schließlich darlegt, weisen die letzten acht Takte der Chaconne enge Zusammenhänge zu dem Halleluja des Osterliedes von Martin Luther auf. Darin nun zeigt sich die enge Verschränkung des Todes und der Auferstehung: Beide, so wird ja mit dem Abschluss der Chaconne deutlich gemacht, gehören unmittelbar zusammen und sind nicht voneinander zu trennen. Der Bezug auf die Arbeiten von Helga Thoene wurde auch vorgenommen, weil uns diese helfen können, die Verbindung zwischen innerem Erleben und geschaffener Musik bei Johann Sebastian Bach noch besser zu verstehen – vor allem, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Grenzsituationen menschlichen Lebens geht. Natürlich ist der Aussage zuzustimmen, dass wir nicht von einer Komposition Johann Sebastian Bachs unmittelbar auf dessen inneres Erleben während der Entstehung dieses Werkes schließen können. Denn die Werke wurden zu den unterschiedlichsten Anlässen komponiert, die mit dem aktuellen inneren Erleben nicht korrespondieren mussten. Und im Selbstverständnis des Musikwissenschaftlers Johann Sebastian Bach dienten die Kompositionen auch und vor allem dem Ziel, die Musik weiterzuentwickeln, sie nach ganzen Kräften zu fördern. Und auch dies erforderte die Bereitschaft und Fähigkeit, beim Komponieren von aktuellen Empfindungen – Hoffnungen und Freuden, Leiden und Nöten – möglichst weit zu abstrahieren. Doch ist dies nicht die ganze Wahrheit. Für Johann Sebastian Bach bildete Musik immer auch die Möglichkeit, die Ordnung Gottes in der Welt auszudrücken. Die Musik konnte – diesem Verständnis zufolge – somit auch in persönlichen Dingen Halt geben, sensibilisiert die intensive Beschäftigung mit ihr doch für die göttliche Ordnung in unserer Welt, macht sie doch das Göttliche in besonderer Weise erfahrbar. Vor allem bei der Verarbeitung von Verlusten ist die Musik Bach vermutlich eine bedeutende Hilfe gewesen, denn die Verarbeitung dieser Verluste vollzog sich in seinem Falle vielfach in einem religiösen Kontext. Mit der Musik ließ sich dieser Kontext so ausdrücken, dass hier auch Leiden und Klagen, Hoffen und Vertrauen, Erfüllung und Freude in ganz individueller Gestalt zu Worte kamen – sodass sich Vieles, was Johann Sebastian Bach innerlich bewegt hat, in seiner Musik mitteilen konnte. Das verbindende Element zwischen der inneren Situation einerseits sowie der Komposition andererseits bildete im Falle Johann Sebastian Bachs der religiöse Kontext, in den sowohl das eigene Leben als eben auch die Musik gestellt waren. Dabei bildete aber die Religiosität nichts Abstraktes, sondern vielmehr etwas, was dem Kern seiner Person, dem Kern seiner Existenz, mithin seinem Innersten entsprang.
Johannes Brahms schrieb über die Chaconne:
„Die Chaconne ist mir eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke. Auf ein System für ein kleines Instrument schreibt der Mann eine ganze Welt von tiefsten Gedanken und gewaltigsten Empfindungen. Hätte ich das Stück machen, empfangen können, ich weiß sicher, die übergroße Aufregung und Erschütterung hätten mich verrückt gemacht.“
Alle von mir bisher eingespielten Werke Johann Sebastian Bachs findet der daran interessierte hier aufgelistet und verlinkt. Ich habe die ebenfalls von Wilhelm Middelschulte für Orgel bearbeiteten Goldbergvariationen BWV 988 eingespielt und in diesem Video veröffentlicht.