Leben oder Das Spiel der zwanzig Fragen

Alles Geschehen in dieser Welt gleicht einem großen Spiel, in dem von vornherein nur die Regeln festliegen, zu diesem Schluss kommt Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Viertes Buch in seinem Buch „Das Spiel„. Sowohl die verschiedensten Erscheinungsformen der Materie, ihre Wechselwirkungen miteinander, ihre Organisation zu lebenden Strukturen (Autopoiese) als auch das soziale Verhalten der Menschen und seine gesellschaftlich Wirklichkeit, die er sich konstruiert und immer wieder an wechselnde, meist von ihm selbst verursachte Bedingungen angepasst hat, wird von Regeln mit offenem Ausgang bzw. Ergebnis gelenkt.
Es war wohl 2009, damals habe ich einen Eintrag meines Großneffen in dessen Blog kommentiert. Er hatte ein Zitat aus Gantenbein von Max Frisch dem Nietzsche zugeschrieben und ich sandte ihm einen Kommentar dessen Inhalt IMHO der Erläuterung bedarf:

Was du in deinem Blog geraume Zeit gesammelt hast ist Ergebnis eines erfreulichen Lasters. Es gelang dir fast keinen Mist anzuhäufen – das will heutzutage schon viel bedeuten! – den nun ein Herakles zur Schmach hinausschaffen sollte.
„Jeder Mensch“, so sagte Max Frisch in „Mein Name sei Gantenbein“, „erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die mit Namen und Daten zu belegen sind, sodass an ihrer Wirklichkeit, scheint es, nicht zu zweifeln ist.“
Obwohl Nietzsche sehr viel über das Leben nachgedacht hat, fast nur im Kopf gelebt hat, die Idee, dass das, was wir für unser Leben halten, ein Kopfkino aus Gedachtem und Erinnertem sei, kam ihm nie. Für ihn war Leben eher sowas wie der quantenmechanische Messprozess, der aus einer Fülle von Möglichkeiten einer unbestimmten Zukunft durch unsere Entscheidung eine determinierte Gegenwart werden lässt, die in unendlich kurzer Zeit auf einer kausalen Kette in die Vergangenheit entschwindet, deren Folgerichtigkeit, je weiter sie sich entfernt, bald nicht mehr auszumachen ist.
„Aber vielleicht ist dies der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheißend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!“ [Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Viertes Buch. Sanctus Januarius]

Diese paradoxe Auslegung der Quantentheorie durch Nietzsches emotional gefärbte Philosophie bedarf der Erklärung, am besten in einem eigenen Blog. 😉 Denn Herr Nietzsche hat ja nun nicht unbedingt an irgendeine physikalische Theorie gedacht, als er den oben zitierten Satz verfasste. Er hatte zwar ein helles Köpfchen, aber ein Hellseher war er trotzdem nicht.
Ja und was hat das Leben, als Biogenese verstanden, überhaupt mit dem quantentheoretischen Messprozess zu tun? Nun direkt fast nichts, die Verbindung ergibt sich für mich über das Spiel der zwanzig Fragen, wie ich es bei Anton Zeilinger in „Einsteins Schleier“ erläutert gefunden habe:

„Wir haben ja schon gesehen, dass die Auswahl des experimentellen Apparates bestimmt, welche physikalische Größe beobachtet werden kann, und dass dies nicht unbedingt voraussetzt, dass diese physikalische Größe vor der Beobachtung bereits existiert hat. Der Physiker John Archibald Wheeler hat in diesem Zusammenhang ein wunderschönes Gedankenspiel vorgeschlagen, das diese Idee etwas veranschaulichen soll. Ein in vielen Ländern sehr beliebtes Spiel ist das der zwanzig Fragen. Ein Spieler wird hinaus geschickt, und die übrigen Mitspieler einigen sich dann auf einen Begriff, den dieser Mitspieler erraten muss. Alles, was er dabei machen darf, ist, Fragen zu stellen, die mit ja oder nein beantwortet werden können. Nach maximal zwanzig Fragen muss er den Begriff erraten haben. Die Fragen werden reihum von den im Raum zurückgebliebenen Mitspielern beantwortet. Das Spiel kann zum Beispiel so ablaufen: «Ist es lebend? – Ja. – Kann es fliegen? – Nein. – Schwimmt es? – Ja. – Ist es ein Fisch? – Nein. – Ist es ein Säugetier? – Nein. – Ist es grün? – Ja. – Ist es ein Krokodil? – Ja.» Damit ist das Spiel beendet. Hier ging es also darum, einen Begriff zu finden, der bereits vereinbart war, bevor die Fragen gestellt werden. Es geht also im Spiel darum, etwas schon Existierendes herauszufinden.
Man kann sich nun vorstellen, solche Spiele bereits einen ganzen Abend gespielt zu haben.

Schließlich vereinbaren die im Raum zurückgebliebenen Spieler etwas ganz Neues, was vorher noch nie geschah. Das merkt der zurückkehrende Spieler, sobald er wieder in den Raum kommt. Alle schmunzeln und schauen ihn mit erwartungsvollen Mienen an. Schon bei der ersten Frage «Ist es lebend?» schauen alle Mitspieler den, der antworten muss, aufmerksam an. Als er antwortet «Ja», gibt es ein großes Grinsen im ganzen Saal. Bei der nächsten Frage wird noch mehr geschmunzelt und immer mehr und mehr. Gleichzeitig dauert die Beantwortung der Fragen aber immer länger, je mehr Fragen schon beantwortet worden sind. Bis schließlich nach den zwanzig Fragen alles in großes Gelächter ausbricht. 

Was war geschehen? Im Gegensatz zu den bisherigen Spielen hatten die Mitspieler vereinbart, keinen Begriff festzulegen. Das heißt, die wichtigste Regel war dann, dass nachfolgende Antworten der vorhergehenden Antwort nicht widersprechen durften. Jeder musste also bei seiner Antwort wenigstens ein Beispiel für einen Begriff im Kopf haben, das mit allen bisherigen Antworten im Einklang ist. So ist, auf die Folge der Antworten allmählich aufbauend, schließlich ein Begriff entstanden, der sicher am Anfang nicht für alle gleich war, aber doch immer mehr eingeengt wurde. Auf diese Weise wurde durch fortgesetzte Beobachtung, nämlich durch fortgesetzte Fragestellung, in den Köpfen der Mitspieler etwas Neues konstruiert, das dann schließlich genauso wirklich war – oder nicht wirklich – wie das beim ersten Spiel vereinbarte Krokodil.

Wheeler hat dieses Beispiel nicht von ungefähr erfunden. Er hat schon vor einiger Zeit begonnen, darüber nachzudenken, welche Rolle die Information in der Physik, aber insbesondere in der Quantenphysik, spielen könnte. Er meinte einmal: «Morgen werden wir gelernt haben, wie man die ganze Physik in der Sprache der Information verstehen und sie in dieser Sprache ausdrücken kann.»“

So wie Wheeler das Entstehen determinierter, unwiderufbarer Tatsachen (man könnte deren Gesamtheit auch als Vergangenheit bezeichnen) durch den quantenphysikalischen Messprozess mit Hilfe des Spieles der zwanzig Fragen mit offenem Ergebnis erläutert, so begreife ich auch das Entstehen der Fakten der Gegenwart aus den vielen, unbestimmten Möglichkeiten, die die Zukunft dem Menschen anbietet.
Der Mensch erwartet als Folge seines Handelns Antworten auf seine Hoffnung, die er mit dieser Handlung verknüpfte. Entweder wird seine Hoffnung bestätigt (JA) oder sie wird enttäuscht (NEIN).
 
Da diese Umwelt ein hochkomplexes, dynamisches System mit vielen, kaum überblickbaren Einflussparametern darstellt, das nur in einem kleinen Zeitrahmen durch ein lineares Modell anzunähern ist, weiß der nur linear denken könnende Mensch (Ursache -> Wirkung -> Wirkung der Wirkung -> u.s.w.  = Cartesische „natürliche Ordnung der Gründe“) kaum im voraus, ob sein Tun mit JA oder NEIN quittiert wird. Und wahrscheinlich hat sich der Systemzustand beim Stellen der zweiten Frage bereits so weit geändert, dass nicht unbedingt aus der ersten Antwort die Wahrscheinlichkeit für ein JA oder NEIN bei der nächsten Frage abgeleitet werden kann – es scheint, als ob der Mitspieler gewechselt hätte und dieser antworte seinem momentanen, zufälligen Systemzustand entsprechend – zwar logisch korrekt auf allen bisher gegebenen Antworten aufbauend, doch trotzdem in gewissem Sinne zufällig.
 
Das Leben ist wie eine Radtour ohne festes Ziel (das sind übrigens immer die interessantesten): Man fährt einfach blind los, dahin, wo man vermutet, dass es dort angenehm wäre zu sein. Lässt es sich dort nicht leben, wie wir erhofften oder nicht das Große Gelbe vom Ei zu finden, fährt man eben weiter. Und wieder in der Hoffnung, dass es dort besser werden könnte und so weiter und immer so weiter. Man will doch gar nicht irgendwo ankommen, denn ankommen hieße im Leben: sterben!
Das Ziel ist unerheblich, nicht jedoch die Hoffnungen, die man zu Beginn jeder Etappe hat. Ziele sind wählbar bzw. änderbar, wenn sie nicht zum Erfolg führen.
Aber was mühe ich mich ab, Paulo Coelho konnte das treffender sagen:

Das Leben ist wie ein großes Radrennen, dessen Ziel darin besteht, seinen Lebensentwurf zu leben.
An der Startlinie sind wir alle beieinander, einträchtig, begeistert. Doch je länger das Rennen währt, desto mehr treten an die Stelle der anfänglichen Freude die wahren Herausforderungen: Erschöpfung, Monotonie, Zweifel an den eigenen Fähigkeiten. Wir stellen fest, daß ein paar Freunde vor der Herausforderung kapituliert haben. Sie sind zwar noch im Rennen, jedoch nur, weil sie nicht auf halbem Weg aufhören können. Viele radeln nur noch neben dem Service-Wagen her, reden miteinander, sind nur noch dabei, weil sie müssen.
Wir lassen sie schließlich hinter uns. Und müssen uns dann der Einsamkeit stellen, den Überraschungen, den tückischen Kurven, den Problemen mit dem Fahrrad.
Am Ende fragen wir uns, ob sich diese ganze Anstrengung überhaupt lohnt.
Es lohnt sich. Nur nicht aufgeben!

Dazu braucht’s Freude am Leben, muss man sich motivieren können, auch wenn wieder mal alles in die Hose ging, alles, was man sich vorgenommen hatte, den Bach runter macht (wegen einer Krankheit, eines Unglücks, weil dich einer hintergangen hat, dem du vertrautest oder was auch immer).

Franz von Stuck: Sisyphos, 1920Man muss seine Dinge selbst in die Hand nehmen, da kein Gott hilft – bzw. hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Obwohl du nie weißt, wie das alles enden wird (ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat), immer schön am Ball bleiben! – (oder wie in dieser Fabel vom Sisyphos, immer den Stein, der gleichnishaft für dein Leben steht, am Rollen halten).

In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick seiner Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Derart überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs.
Noch rollt der Stein.

[Albert Camus: „Der Mythos des Sisyphos“]

Der Weg ist das Ziel!

Vielleicht sollte ich noch den wesentlichen Unterschied zwischen komplexen Systemen der unbelebten Natur, unserer externen Wirklichkeit, und dem komplexen System der Synapsen und ihren möglichen Wechselwirkungen im menschlichen Gehirn erläutern?
 
Objekte der externen Wirklichkeit, deren Eigenschaften und Verhalten (Wechselwirkungen) völlig unabhängig von den Bevorzugungen, Bewertungen oder moralischen Einstellungen des beschreibenden Menschen sind, sind objektiv (also naturwissenschaftlich) beschreibbar. Zum Beispiel ist das Wetter ein komplexer dynamischer Prozess des deterministischen Chaos‘ wie es auch die Verschaltungsvorgänge und Wechselwirkungen der Abermilliarden von Synapsen im menschlichen Gehirn sind, aber es zieht sein einmal ausgelöstes Geschehen völlig unbeeindruckt von den Voraussagen des aktuellen Wetterberichtes durch.

Der grundlegende Unterschied zwischen dem deterministischen Chaos des Wetters und dem des menschlichen Gehirns ist, dass das menschliche Gehirn nicht unbeeindruckt/unbeeinflusst von den Beschreibungen und Bewertungen seiner Gedanken durch Dritte weiter denkt. Er passt sein Verhalten/Denken an die vorausgegangen Bewertungen Dritter (deren „Wetterbericht“ über seine Gedanken 😉 ) in eine, seinen Bedürfnissen gerecht werdende Richtung an – denn als sozial lebendes Individuum ist er gar nichts ohne die Mitwelt, seine mehr oder weniger großartige Individualität kann er nur im Vergleich zu den Anderen definieren und pfiffig anpassen oder sich trotzig, mit geballt erhobener Faust^^ vom Fluss des Lebens stark und hölzern wie ein Baum^^ treiben lassen.

Der Talmud beschreibt diesen Umstand  kurz und knapp:

Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich,
und bin ich nur für mich, was bin ich,
und wenn nicht jetzt wann dann?
(Hillel) 1,14

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

zwei × fünf =