Imrat Khan – Drei nordindische Raga
Imrat Khan und seine Söhne auf dem „Festival Indiens“ der UdSSR 1987/1988
Eine klassische indische Musikform ist der Raga, deren wesentlicher Gehalt es ist, einen Raga (hier im Sinne von Tonart bzw. melodische Grundstruktur gemeint), musikalisch zu entfalten. Der Raga ist – sinngemäß – die indische Entsprechung des maqām in der „klassischen“ Musik des Vorderen Orients (Blogbeitrag Munir Bashir: Meditation-Improvisation auf dem ’Ud ) oder auch des dastgāh der „klassischen“ Musik Persiens (Blogbeitrag Destghakh – Aserbaidschanische Mugamen), denen ebenfalls diese Doppelbedeutung – melodische Grundstruktur (Modus) einerseits, als auch dessen musikalischer Entfaltung (raum-zeitliche Struktur eines Musikstückes) andererseits – zukommt.
Ich will jetzt aber nicht weiter Allgemeines über die Indische Musik und deren Tonsystem daher reden, der daran Interessierte findet dies auf den Websites, die ich mit den jeweiligen Fachbegriffen verlinkt habe, sondern den Aufbau der drei Ragas erläutern – soweit mir das möglich ist:
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Coverabbildungen des Albums:
Имрат Хан и его сыновья на фестивале Индии в СССР 1987, Фирма Мелодия С80 27147 006
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Disk 1, Seite 1 und 2: Komposition auf der Basis des Raga Alhaiya Bilaval
musikalisch-zeitliche Struktur: Alap – Jor – Jhala – Drut Gat (Ektal, Tintal) – Jhala
Ustad Imrat Khan, Nishat Khan, Irshad Khan – Sitar
Vadzhahat Khan – Sarod
Shafaatulla Khan – Tabla
Mumtaz Begum – Tanpura
Alhaiya Bilaval ist ein klassischer indischer Raga. Er ist der am häufigsten aufgeführte Raga aus einer großen Gruppe von Ragas, die auf einer musikalischen Skala fußen, die mehr oder weniger mit der westlichen Dur-Tonleiter identisch ist. Weil diese Skala als Modus (auf Hindi Thaat) Bilawal bekannt ist, wird er oft auch einfach als Bilawal bezeichnet, obwohl bis ins 17. Jahrhundert Alhaiya und Bilawal wahrscheinlich unterschiedliche Ragas waren. Der Modus Bilawal wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Grundskala der nordindischen Musik. Ihre tonalen Beziehungen sind vergleichbar mit der C-Dur-Tonleiter der westlichen Musik.
Bilawal ist ein Morgen-Raga (sh. z.B. die website Indische vs. Westliche Musik), der mit einem Gefühl tiefer Versenkung und Ruhe besonders häufig während der heißen Monate des Jahres gesungen oder gespielt wird. Über 170 Gesänge wurden zu diesem Raga von Guru Nanak, Guru Amar Das, Guru Ram Das, Guru Arjan und Guru Tegh Bahadar komponiert.
Als Alap wird der erste Abschnitt eines nordindischen Raga bezeichnet, er ist ohne festen Rhythmus. Im Alap erweckt der Solist die Noten und Stimmung(en) des Raga zum Leben. Der Alap enthält alle wichtigen Phrasen des Ragas. Zuerst wird ein absteigender Teil vom Sa (der ersten Note der mittleren Oktave) zum niedrigeren Sa gespielt, in dem eine besonderen Note Vadi, die herrschende Note des Ragas, also die wichtigste und am häufigsten gespielte Note während der Entwicklung des Raga, eingeführt werden soll. Diese Phrase macht dem Zuhörer die besondere Note zunächst durch Weglassen und schließlich durch Betonen deutlich. Der Einführung der unteren Oktave folgt die der mittleren und höheren Oktaven. Nachdem die höchste Note des Instruments (oder der menschlichen Stimme) erreicht ist, folgt ein abruptes Absenken auf den Ursprung, das Sa der mittleren Oktave. Zwischen den Oktaven kann ein Schlussmuster, die Mohra, eingefügt werden. Sie hat die Funktion verschiedene Teile des Alap abzuschließen. Eine seiner Funktionen ist, z.B. den Beginn eines neuen Abschnitts zu verdeutlichen, hier vor allem den einer neuen Oktave.
Jor: Die Funktion des Jor (bedeutet auf deutsch ‚verbinden′) ist sehr ähnlich zu der des Alap, nämlich die Noten des Raga in ihrem musikalischen Kontext vorzustellen. Im Gegensatz zum Alap, das keinen Rhythmus hat, wird Jor von einem rhythmischen Pulsieren (nicht das Tala ist gemeint!) durch den zusätzlichen Einsatz der Chikari, das sind die Bordun-Saiten der Sitar, belebt.
Jhala: Ist der Schlußsatz des Alap, aber auch des gesamten Raga, in dem das rhythmische Element das melodische musikalisch überwertet. Dies wird manchmal durch das rasche Zupfen bzw. Schlagen (thok) der Chikari-Saiten zwischen dem Abspielen der Raga-Töne erreicht. Jhala ist der schnellste Teil des Raga. Sein Hauptmerkmal ist seine besondere Spielweise: 16 Taktschläge bei einer ständig steigenden Geschwindigkeit werden verflochten mit dem und unterbrochen durch das Zupfen der Chikari-Saiten. Dieser Teil wird hauptsächlich improvisiert.
Das Gat (die eigentliche Komposition) wird immer in einem bestimmten Tala, einem charakteristischen rhythmischen Zyklus, gespielt, dessen Geschwindigkeit allmählich erhöht wird. Der Ablauf des Tala darf während des gesamten Gat nicht unterbrochen werden.
Die Komposition hat in der Regel drei Zeilen. Die Improvisation, der Fluss der Musik, beginnt und endet auf dieser während des Gat. Diese Zeilen werden in Hindi genannt:
- sthay – die erste Zeile, die Hauptlinie der Komposition. Das Tabla-Solo wird von der gleichen Melodie begleitet. Normalerweise ist dies die „starke“ Melodie, die den Raga bzw. das Hauptattribut des Raga charakterisiert.
- manjha – die zweite Zeile der Komposition, vorzugsweise in der unteren Oktave
- antara – die dritte Zeile der Komposition, vor allem in der höheren Oktave
Wenn der Gat beginnt, bzw. wenn der Tala beginnt, wird die Tabla, das Begleitinstrument, immer durch ein Solo eingeführt. Ein ähnliches Tabla-Solo wird zwischen den Teilen des Gat gespielt. Während des Tabla-Solo beginnt das Instrument, das das Solo zuvor gespielt hat (in diesem Fall die Sitar), die erste Zeile (sthay) des aktuellen Gat zu spielen (in diesem Fall das Drut Gat), die Sitar begleitet folglich den Tabla-Spieler. Der Zweck dieser Rollenverschiebung ist es, dem Tabla-Spieler zu helfen sich zu konzentrieren, um den Rhythmus fließend gestalten zu können.
Durch das kontinuierliche Mitzählen der Taktschläge während des Tabla-Solo kann man (der Zuhörer) den sonst sehr komplizierten Rhythmus leicht verfolgen. Dies kann auch eine zusätzliche Quelle seines Hörgenusses sein, wenn er Sam (den ersten Taktschlag des Tabla) zusammen mit den Spielern beim Mitzählen erreicht, das hebt das Gefühl der Harmonie zwischen den Musikern und dem Publikum und macht die klassische indische Musik so einzigartig. Jedes Tabla-Solo endet mit dem Erreichen des ersten Taktschlages des Tala (dem Sam) in der Regel von einer für die indische klassische Musik typischen Phrase initiiert, der Tihai.
Der Tihai ist eines der charakteristischen Merkmale der indischen klassischen Musik. Der Tihai ist quasi der Abschluss am Ende einer musikalischen Reihe (beispielsweise eines Tabla-Solo). Tihai bedeutet „dreimal“, weil die gleiche Phrase dreimal wiederholt wird, und die letzte Note des dritten Teils kommt typischerweise auf Sam, den ersten Taktschlag des Tala. Tihai wird durch ein Tabla-Solo beendet.
Drut Gat bedeutet: der Tala wird im schnellem Tempo Drut gespielt. Die Begriffe Ektal und Tintal sind praktische Ausführungsformen des Tala:
- Der Tintal (auch Teentaal geschrieben, oder Trital) ist der am meisten gebrauchte Tala in der nordindischen Musik. tin oder tri bedeutet drei, da der Tala drei Betonungen hat. Der Tintal hat eine Länge (Avartan) von 16 Schlägen (Matra), gegliedert in 4 (beim Tintal gleich lange) Abschnitte (Vibhag). 16 Matra, 4 Vibhag, 3 Talis (1, 5, 13), 1 Khali (9)
- Der Ektal wird sowohl in der klassischen als auch in der semiklassischen Musik verwendet. Eine Besonderheit ist, dass er sowohl extrem langsam als auch sehr schnell gespielt wird, selten aber in mittlerem Tempo. 12 Matra, 6 Vibhag, 4 Talis (1, 5, 9, 11), 2 Khalis (3, 7)
Disk2, Seite 1: Komposition auf Basis von Raga Gitanjali
musikalisch-zeitliche Struktur: Alap – Vilambit Gat (Tintal)
Ustad Imrat Khan – Sitar
Vadzhahat Khan – Tanpura
Shafaatulla Khan – Tabla
Diesen Raga hat Imrat Khan zu Ehren des indischen Poeten Rabindranath Thakur (Tagore) komponiert. Tagore erhielt 1913 für seine von ihm 1912 ins Englische übersetzte Gedichtsammlung „Gitanjali“ (1910 verfasst, engl. „Song Offerings“) den Nobelpreis. Er ist in einem von Imrat Khan kreierten Modus geschrieben.
Vilambit Gat bedeutet, der Tala wird mit langsamen Tempo gespielt.
Disk 3, Seite 2: Komposition auf Basis von Raga Marwa
musikalisch-zeitliche Struktur: Alap – Drut Gat (Tintal)
Ustad Imrat Khan – Sitar
Vadzhahat Khan – Tanpura
Shafaatulla Khan – Tabla
Der Raga Marwa ist unter den klassischen Musikern berühmt-berüchtigt, da er einer der eigenartigsten Ragas in der indischen Musik ist. Die erste Besonderheit dieses Raga ist, dass er kein Pa (unser G) und suddha Ma (unser F) enthält. Diese zwei Noten stellen jedoch die Stabilität mit dem Sa (unserem C) her. Der wahrscheinlichste Grund, warum Pa und suddha Ma in diesem That nicht vorkommen ist, dass Sa in diesem Raga häufig ausgespart bleibt. Der Raga wirkt verwirrend auf den Hörer, da die Tonika zu entschwinden droht. Die Stimmung dieses Raga drückt die Gefühle Angst oder Melancholie aus, da er zu keiner harmonischen Stabilität findet. Und das deshalb, weil hier komal Re und Dha das vadi-samvadi-Paar bilden. Da Re die Vadi (d.h. die stärkste Note des Raga; im Notenbild unten durch den Unterstrich kenntlich gemacht) ist, erzeugt Re in diesem Raga ein jenseitiges, grässliches Gefühl der Angst. Letztendlich ist dieser Raga aber der repräsentative Raga des That Marwa. Bei einem Raga Marwa, der ein Pa enthält, wäre jedoch das Verhalten, die Stimmungslage, völlig anders. Normalerweise enthalten aber fast alle Vertreter eines Ragas dieselben Noten wie ihr That.
Der Vorsatz shudda bezeichnet den „reinen“ Ton (z.B. das F), komal die um einen haben Ton zum dem „reinen“ Ton niedrigere Note (z.B. komal Re unser Dis).
Dieser Raga wird während der Dämmerung, gerade während die Sonne untergeht, gesungen oder gespielt.
Arohana und Avarohana beschreiben, wie sich der Raga hinsichtlich der Notenskala bewegt. Arohana, auch Aroh oder Arohi genannt, gibt das Muster vor, auf welche Weise ein Raga auf der Notenskala aufsteigt. Avarohana, auch Avroh und Avrohi genannt, beschreibt die Art und Weise, wie sich der Raga auf der Notenskala nach unten bewegt. Sowohl Arohana als auch Avarohana können bestimmte charakteristische Phrasen enthalten. Solch Phrasen werden als Vakra bezeichnet.
Die Begriffe Alap, Drut Gat und Tintal wurden bereits unter Punkt „Disk 1: Komposition auf der Basis des Raga Alhaiya Bilaval“ erläutert.
Die russische Beschriftung des Album-Backcovers (für jene, die meine Transliteration und Übersetzung für unkorrekt halten):
ИМРАТ ХАН (p. 1936)
Сторона 1 — 22.50
КОМПОЗИЦИЯ, ОСНОВАННАЯ НА РАГЕ АЛАЙЯ БИЛАВАЛ
Алап — джор — джала
Сторона 2 — 22.28
КОМПОЗИЦИЯ, ОСНОВАННАЯ НА РАГЕ АЛАЙЯ БИЛАВАЛ
(окончанио)
Друт гат (эктал, тинтал) — джала
Сторона 3 — 19.37
КОМПОЗИЦИЯ, ОСНОВАННАЯ НА РАГЕ ГИТАНДЖАЛИ
Алап — виламбит гат (тинтал)
Сторона 4 — 21.31
КОМПОЗИЦИЯ, ОСНОВАННАЯ НА РАГЕ МАРВА
Алап — друт гат (тинтал)
Устад Имрат Хан (1 — 3), Нишат Хан (1), Иршад Хан (1), ситары, Ваджахат Хан, сарод (1), танпура (2, 3), Шафаатулла Хан, табла (1 — 3),
Мумтаз Бегум, танпура (1)
Meine Transliteration und Übersetzung:
Imrat KHAN (geb. 1936)
Seite 1 – 22,50
Komposition auf Basis von Raga Alhaiya Bilaval
Alap – Jor – Jhala
Seite 2 – 22,28
Komposition auf Basis von Raga Alhaiya Bilaval
(Ende)
Drut Gat (Ektal, Tintal) – Jhala
Seite 3 – 19,37
Komposition auf Basis von Raga Gitanjali
Alap – Vilambit Gat (Tintal)
Seite 4 – 21,31
Komposition auf Basis von Raga Marwa
Alap – Drut Gat (Tintal)
Ustad Khan Imrat (1 – 3), Nishat Khan (1), Irshad Khan (1), Sitar,
Vadzhahat Khan, Sarod (1), Tanpura (2, 3),
Shafaatulla Khan, Tabla (1 – 3)
Mumtaz Begum, Tanpura (1)
Das Konzert wurde 1987 von der Schallplattenfirma Melodia in Leningrad aufgenommen.
Dieses Doppelalbum habe ich 1988 in Baku für 5 Rubel (etwa 15 DDR-Mark) gekauft.