Munir Bashir: Meditation-Improvisation auf dem ’Ud
Über das arabische Tonsystem, das taqsīm und den maqām
Zitat aus dem Plattentext (von mir ergänzt):
Die drei auf der Platte vereinigten Improvisationen entstammen dem Mitschnitt eines Konzertes, das Munir Baschir (Munīr Bašīr) am 17.10.1976 im Palast der Republik Berlin gegeben hat. Zwei von ihnen, die im maqām hidshas-kar (hiğās-kăr) und nahăwand, scheinen unserem Ohr näher zu stehen als der taqsīm im maqām audsh, da ihr Tonvorrat an unser „Zigeuner-Dur“ bzw. an Moll erinnert. Jedoch reicht eine solche Reminiszenz ebensowenig wie die Beurteilung spezifischer orientalischer Intervalle (etwa im „neutralen Terz“ oder des Dreivierteltonschritts, der z.B. für Audsh (auğ) charakteristisch ist) und Melodiebildung nach europäischer Musik aus, um sich das Verständnis dafür zu erschließen. Es bedarf vielmehr der Beschäftigung mit arabischer Musik, gewissermaßen der vollen Aneignung des sich in einer hochentwickleten, komplexen Struktur Struktur darbietenden Ausdrucksgehaltes.
Der taqsīm im maqām hiğās-kăr ist durch Melodiebildung nach Tongruppen gekennzeichnet, für die ein übermäßiger Sekundschritt typisch ist:
Klangbeispiel des maqām hiğās-kăr (über C)
Sie bilden die Grundlage des namengebenden maqām, in den verschiedene andere maqāme und maqām-Ausschnitte eingefügt werden. Über die Intervallstruktur hinaus ist der maqām durch eine bestimmte Melodieentwicklung gekennzeichnet. Sie hat fallende Tendenz. Wichtig für den maqām hiğās-kăr ist, dass er in der Oktavregion beginnen muss, in der Anfangsphase der Melodieentfaltung spielt dabei der Halbton unter der Oktave eine Rolle.
Die Exposition des Grundmaqāms dehnt sich fast über die Hälfte der Zeit des taqsīm aus. In ihn wird nur als wichtige Färbung ein kurzes Stück aus dem maqām al-hawīzāwī eingefügt, der gleich hiğās-kăr zur hiğās-Familie gehört.
Nach einem ausgedehntem Zitat einer alten Melodie über einem Bordun wird mit der Tongruppe nahăwand
Klangbeispiel des maqām nahăwand (über C) – Form 1
Klangbeispiel des maqām nahăwand (über C) – Form 2
(vgl. den taqsīm im gleichnamigen maqām) der Abschluss der Exposition des hiğās-kăr eingeleitet. Es folgt ein Teil, in dem zu anderen maqāmen übergegangen wird.
Zunächst erscheint ein umfangreicher Abschnitt im maqām hayyan mit seiner charakteristischen engen Intervallik
die sich im Übergang zum maqām `ağam wieder weitet
Klangbeispiel des maqām `ağam über C
Nach einem erneuten Verweilen bei hayyan geht es über nawā
zu einem ausgedehntem Abschnitt im maqām nahăwand auf den Grundton des Hauptmaqāms.
Mit der Wiederherstellung der Tongruppen des hiğās-kăr, die insbesondere über die nachdrücklich vorgezeigte Wandlung das es des nahăwand zum a vorgenommen wird, schließt sich der Kreis des maqām.
02 taqsīm auğ (Audsh)
Obwohl die beiden anderen taqsīm nicht so ausgedehnt sind wie der erstbeschriebene, verfügen auch sie über einen komplexen Aufbau. Der maqām auğ, der die Grundlage des ersten der beiden taqsīm bildet, gehört zur Familie des sīkāh, die sich durch ihre besonderen, für die arabische Musik charakteristischen Tonstufen bzw. Intervalle auszeichnet. Für ihn ist wie für hiğās-kăr ein Beginn in der Oktavregion verbindlich
Klangbeispiel des maqām sīkāh (über E )
Seine Finalis liegt jedoch in der Tiefe und wird über einen Ausschnitt des maqām al-maǰnawī erreicht
Diesem ersten Teil schließt sich ein kurzer Abschnitt im maqām al-muhālif an
dem ein längerer im maqām auğār
mit verschiedenen anderen Einflechtungen folgt. Einen breiten Raum nimmt dann die Einfügung des maqām rāst
Klangbeispiel maqām rāst (über C)
Klangbeispiel maqām rāst (über F)
und seines verwandten sūzināk ein
von der der ähnlich strukturierte maqām huzām wieder zur Finalis zurückführt. Dann folgt ein Abschnitt, der an die Tradition im türkischen Raum angelehnt ist. ehe der Grund-maqām sich wieder einstellt und nach einer Betonung der Confinalis durch die Tongruppe nikrīz
den maqām beschließt.
03 taqsīm nahăwand (Nahawand)
Das dritte taqsīm, das in seiner Melodik an sehr alte Überlieferungen anknüpft, beginnt mit einer Exposition des namengebenden maqām nahăwand. Eingeführt durch den Halbton unter der Finalis, werden nacheinander die zwei für ihn typischen Tongruppen abgehandelt
Es folgen Abschnitte im maqām lāmī
sowie in sūzināk und rāst (auf die Finalis transponiert), ehe der maqām nahăwand den Bogen wieder schließt.
Der ’Ūd, der in Bezeichnung und Gestalt die europäische Laute bestimmt hat, ist seit alten Zeiten eines der Hauptinstrumente der arabischen Musik. Den Quellen nach haben die Araber ihn von den Sassaniden übernommen. Bei dem ‘Ūd handelt es sich um ein gezupftes Saiteninstrument mit bauchigem Korpus, kurzem Hals und abgeknicktem Wirbelkasten. Die Saiten sind an einem Querriegel befestigt. Der ‘Ūd der klassischen Zeiten besaß vier Saiten, gelegentlich wurden auch fünf benutzt. Heute ist er mit fünf Saitenpaaren bezogen, mitunter wird auch eine sechste Saite zugefügt. Die Stimmungen sind unterschiedlich, Hauptintrvall für die Melodiesaiten ist die Quarte. (Die Notenbeispiele stellen eine Schematisierung des Tonvorrats und der Melodiebewegung bzw. Tendenz dar.)
Jürgen Elsner (1980)
Dies Musik ist in dem Sinne klassische Musik, wie bei uns die Musik von J. S. Bach, C. Saint-Saens, Jean Sibelius, Arvo Pärt u.s.w. als klassisch gilt. Ein taqsīm ist zwar immer improvisierte Musik, muss aber eine strenge Struktur einhalten, ähnlich vielleicht wie bei uns die Musik Bachs.
Das taqsīm
aus:
Habib Hassan Touma
Die Musik der Araber
Als taqsīm bezeichnet man die instrumentale Darstellung eines maqām, d. h. seines tonräumlichen Modells. Dieses Modell zentriert die melodische Entfaltung auf wenige Töne und lässt damit die für jeden maqām charakteristischen Tonebenen entstehen, während die zeitlich-rhythmische Gestaltung keiner festen Organisation unterliegt (vgl. S. 37). Bestimmte motivische Elemente, als Bestandteil der melodischen Linie wiederholt auftauchende Tongruppen, sind nicht Charakteristika eines maqām, sondern vielmehr Ausdruck des Personalstils eines Musikers bzw. der technischen Möglichkeiten, die das Instrument dem Ausführenden bietet.
Eine taqsīm-Vorführung kennzeichnet unter anderem die Gliederung der melodischen Linie durch lange Pausen. Eine solche Pause kann sich über zwei bis vier Sekunden erstrecken. Sie besitzt nicht nur eine formal-musikalische Funktion, sondern ermöglicht zugleich eine Kommunikation zwischen den Zuhörern und dem Musiker. Arabische Hörer nutzen die Pausen dazu, durch Zurufe ihr Urteil zu dem gerade Gehörten abzugeben. Ein erstklassiger taqsīm-Spieler weiß die Spannung des Publikums derart auf die Spitze zu treiben, dass gleich nach Verklingen eines Melodiezugs der Beifall mit Ausrufen wie Allah! (‚Oh Gott!’) und ya salam (‚Oh Friede!’) spontan losbricht.
Ein taqsīm kann auf der Kurzhalslaute (’ūd), der Spießgeige (kamanga), der Kastenzither (qan’un) oder der offenen Längsflöte (nai) vorgetragen werden. Seltener hört man zusammen mit dem Part des Solisten eine rhythmische ostinato-Begleitung, ausgeführt von einem darabukka-(Bechertrommel-) oder riqq-(Schellentrommel-)Spieler. Die künstlerischen Anforderungen an den Musiker sind bei einer in der arabischen Musik so einzigartig dastehenden Gattung wie dem taqsīm hoch. Das maqām-Phänomen findet im taqsīm seinen reinsten instrumentalen Ausdruck (vgl. S. 40). Die Realisierung dieses Phänomens vollzieht sich in mehreren Melodiezügen, deren Zahl nicht festliegt. Dadurch können taqasim (Pl. von taqsīm) unterschiedlich lang ausfallen. Die Dauer einer taqsīm-Vorführung hängt in erster Linie von der Aufführungssituation ab und davon, ob das taqsīm als einleitendes Stück, als Zwischenspiel oder als eigenständige Vorführung erklingen soll. In zweiter Linie bestimmen Musikalität und Virtuosität des Solisten die Dauer des Vortrags. Ein taqsīm kann einem mawwal oder muwassah vorangehen, kann aber auch als Zwischenspiel zwischen zwei Abschnitten einer andalusi nuba ausgeführt werden oder aber als eigenständiges Vortragsstück allein der Darstellung des maqām-Phänomens gewidmet sein.
Die Musiktheorie und das arabische Tonsystem
aus:
Habib Hassan Touma
Die Musik der Araber
Im Laufe der arabischen Musikgeschichte – insbesondere zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert – entstanden zahlreiche Musiktraktate, in denen die Autoren sich mit Fragen des Tonsystems auseinandersetzten. Man kannte zwei solcher Tonsysteme: ein griechisches und ein arabisches. Das arabische Tonsystem unterschied sich von dem griechischen vor allem dadurch, dass in ihm die Tetrachordteilungen anders vorgenommen wurden. Die Araber verfügten also entweder über eine andere Quelle als die griechische Musiktheorie oder sie entwickelten die griechischen Tetrachordteilungen weiter. Da die Araber jedoch die arabische Musiktheorie und insbesondere das arabische Tonsystem anhand der Laute darstellten – anhand eines Instruments, das seit der vorislamischen Zeit eine ungeheuere Verbreitung unter den arabischen Musikern und Sängern genoss und bis heute als das Musikinstrument der arabischen Musik schlechthin gelten darf – ist es immerhin denkbar, dass man die Musiktheorie direkt aus der Musikpraxis ableitete, was zwangsläufig zu Abweichungen von der griechischen Theorie mit ihren Tetrachordteilungen führen musste.
In den zahlreichen Musiktraktaten des arabisch-islamischen Mittelalters wird folglich zwischen zwei Tonsystemen unterschieden, die beide in der Musiktheorie der Gegenwart noch Gültigkeit besitzen. Das eine stellt eine Weiterentwicklung des pythagoreischen Systems dar, als dessen Protagonist Safi al-Din al-Urmawi (gest. 1294) auftrat. Auf Safi al-Dins Berechnungen beruhen das türkische und das persische Tonsystem der Gegenwart. Im Gegensatz zu diesem weiterentwickelten pythagoreischen System steht ein rein arabisches Tonsystem, das zuerst von al-Farabi (gest. 950) propagiert wurde.
Auf der Grundlage von al-Farabis System unternahmen die arabischen Musiktheoretiker der Neuzeit die Teilung der Oktave in 24 gleich große Intervalle. Jeder Ton in der arabischen Musik besaß von nun an einen eigenen Namen, der sich weder in der oberen noch in der unteren Oktave wiederholt. Die Funktion eines Tones hängt von seiner Position innerhalb der Skala und von seiner Entfernung zum benachbarten Ton ab, jedoch nicht von seiner absoluten Tonhöhe. Der tiefste Ton der Skala entspricht dem tiefsten Ton im Register des Sängers und heißt yakah, die Oberoktave dazu heißt nawa und die zweite Oberoktave ramal tuti. Die Modi werden in der Regel nach einem besonders charakteristischen Ton der Skala und nur in wenigen Fällen nach dem Anfangston der Leiter benannt.
Erst in der zweiten Hälfe des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten einige arabische Musiker, arabische Musik zu notieren. Sie griffen auf die westliche Notenschrift zurück und gaben den Tönen die entsprechenden Notennamen. Sie taten dies, obwohl die westliche Notationsweise in vielerlei Hinsicht ungenau und zur Aufzeichnung der arabischen Musik ungeeignet ist. Die Musiker mussten sich darüber verständigen, welcher Ton des arabischen Tonsystems welcher Note im europäischen System entsprechen sollte. Zunächst legte man als den tiefsten Ton des Systems den Ton yakah, das D, fest. In der Zeit nach der osmanischen Herrschaft ersetzte man in der gesamten arabischen Welt das D durch den Ton G. Auch hier hat die Tonhöhe des yakah jedoch nichts mit der absoluten Tonhöhe G gemein. Die arabische Musik wurde und wird nicht in absoluter Tonhöhe notiert, wie wir es von der europäischen Musik her gewohnt sind. Die tatsächliche Tonhöhe kann in beiden Richtungen bis zu einer Quarte von der notierten Tonhöhe abweichen. Der Umfang dieser Abweichung hängt in erster Linie von der Stimmlage des Sängers ab, nach der auch das Instrument eingestimmt wird.
Das heute gültige arabische Tonsystem umfasst alle Töne, die in den über 70 Modi, den sogenannten maqām-Reihen, auftreten. Die maqām-Reihen beruhen auf heptatonischen Tonleitern, die sich aus übermäßigen, großen, mittleren und kleinen Sekund-intervallen zusammensetzen können. Die genaue Größe dieser Intervalle errechneten die Musiktheoretiker auf einer rein theoretischen Basis. Es gibt vermutlich ebenso viele verschiedene Angaben zu den Intervallstrukturen, wie es Theoretiker gibt, die entsprechende Berechnungen anstellten. Jedoch weichen die Kalkulationen nur geringfügig voneinander ab. Eine umfassende Untersuchung der Intervallgrößen innerhalb der arabischen Tonleiter mittels elektronischer Messgeräte steht noch aus.
Erst im 19. Jahrhundert – also ein halbes Jahrtausend nach Safi al-Dins Teilung der Oktave in 17 verschiedene Abschnitte (Limmas und Kommas) – erschien wieder ein originales musiktheoretisches Werk, das den Bereich der arabischen Musiktheorie neu belebte. Der Verfasser, der Libanese Miha’il Misaqa (1800 – 1889), stellte in dieser Arbeit die Teilung der Oktave in 24 gleiche Abschnitte vor. Die Abstände der 24 Bünde am Hals der Laute verdeutlichte er anhand einer geometrischen Zeichnung (siehe Abbildung), die den Instrumentenbauern als Vorlage dienen sollte. Mathematisch bestimmte er den Wert des Vierteltons als 24√2 = 50 Cents.
Den Anlass zu neuen Berechnungen gaben heftige Diskussionen und Streitigkeiten unter den Musikern und Musikgelehrten über die folgenden zwei Fragen. Wie groß soll die Entfernung zwischen den Bünden am Hals der Langhalslaute, wie groß sollen also die Intervalle in den beiden Oktaven sein, um eine Transposition der maqām-Reihen zu ermöglichen? Und: Sind die Intervalle der Unteroktave denen der Oberoktave gleich, ist also eine Melodie im Abstand einer oder mehrerer Oktaven auf zwei verschiedenen Instrumenten gleichzeitig zu spielen? Dass solche Fragen aufgeworfen wurden, deutet darauf hin, dass die Musiker zu diesem Zeitpunkt bereits mit der Vorstellung von 24 Stufen in der Oktave, wenn auch nur vor dem Hintergrund ihrer praktischen Erfahrungen, vertraut waren.
Die Intervalle d—e, e—f, g—a, a—h und h—c‘ sind in allen diesen Unterteilungen weder kleine noch große Sekunden. Als mittlere Sekunden entsprechen sie in etwa der Größe eines Dreivierteltons (150 Cents). Dieses Dreiviertelton-Intervall gab der arabischen Musik schon im 10. Jahrhundert ein ganz eigenes Gepräge. Nicht der Viertelton ist es also, der als eine für die Musik der Araber charakteristische Intervallgröße gelten darf – er findet sich in keiner maqām-Leiter und existiert nur in der Theorie -, vielmehr kommt dem Dreiviertelton diese Bedeutung zu.
Über die exakte Größe des Vierteltons streiten sich die Theoretiker. Auch der Dreiviertelton besitzt keine für alle maqām-Reihen bindende Größe. Die Schwankungsbreite dieses Tonschritts trägt vielmehr entscheidend zum Charakter der arabischen Musik bei. Seine Fixierung durch die Temperierung, die eine Teilung der Oktave in 24 gleich große Vierteltöne vorschreibt, würde damit die Aufgabe eines der bezeichnendsten Elemente dieser Musikkultur bedeuten. In der Praxis bedienen sich die Sänger und Musiker denn auch einer Fülle von Tonstufen, die sich empirisch auf 24 nicht gleiche Stufen innerhalb der Oktave reduzieren lassen. Während einer Aufführung werden zudem im Allgemeinen weit weniger Töne verwendet, als das temperierte System anbietet – selbst dann, wenn durch Transpositionen zusätzliches Tonmaterial miteinbezogen wird. Um die Notation der 24 Töne in westlicher Notenschrift zu ermöglichen, verwenden die Araber die europäischen Vorzeichen in originaler und abgewandelter Form:
erniedrigt einen Ton um einen Viertelton | |
erniedrigt einen Ton um einen Halbton | |
erniedrigt einen Ton um einen Dreiviertelton | |
‡ | erhöht einen Ton um einen Viertelton |
# | erhöht einen Ton um einen Halbton |
‡# | erhöht einen Ton um einen Dreiviertelton |
Der Umfang von zwei Oktaven reicht für die traditionelle arabische Musik vollkommen aus. Deshalb gaben die Araber nur den 48 Tönen der zwei Oktaven eigene Namen. Die Bezeichnungen wurden zum größten Teil von den Türken und Persern übernommen. Jedoch unterscheiden sich die Intervalle der Araber von denen der Perser und Türken im Detail. Die Töne, die den Doppeloktavumfang überschreiten, werden als zweite oder dritte Ober- bzw. Unteroktave des Tones x bezeichnet. Die Töne der ersten Oktave beginnen mit yakah (G).
[…]
Der arabische Musiker begreift die 24 Stufen innerhalb der Oktave als individuelle Tonstufen. Er unterscheidet jedoch zwischen wichtigeren und weniger wichtigen Tönen. Die wichtigeren Töne sind den Säulen eines Bauwerks zu vergleichen, die ein Dach, das Tonsystem, tragen. Als wichtig gelten sie, weil sie häufiger in der traditionellen Musik vorkommen und mit ihnen die meisten maqām-Reihen beginnen. Zwischen zwei Säulen befinden sich zwei oder drei weitere Tonstufen, bei denen wiederum zwischen wichtigen und weniger wichtigen unterschieden wird.
[…]
Eine maqām-Reihe umfasst […] lediglich eine Auswahl aus dem Tonvorrat und besteht aus einer charakteristischen Kombination von kleinen, mittleren, großen und übermäßigen Sekunden. Es ergeben sich maqām-Reihen, die unter Umständen ausschließlich aus mittleren und großen Sekunden zusammengesetzt sind, während andere vielleicht nur kleine und große Sekunden kennen. Als Anfangstöne fungieren in der Regel die Töne der ersten unteren Oktave des arabischen Tonsystems: yakah, `usayran, `iraq, rāst, dukah, sīkāh, gaharkah und nawa (G, A, H , C, D, E, F und g). Etwa 40 maqām-Reihen beginnen auf dukah (D), um die 20 beginnen auf rāst (C) und etwa 10 auf sīkāh (E ). Yakah, `usayran, `iraq, `agam und nawa (G, A, H, B, g) sind jeweils etwa fünfmal als Anfangston vertreten und busalik (E) und gaharkah ein- bzw. zweimal. Jedoch wird die Klassifizierung der maqām-Reihen nicht nur von ihrem Anfangs- oder Schlusston bestimmt, sondern auch von der Qualität der aufeinanderfolgenden Sekundintervalle. Insbesondere die Struktur der zum Schlusston hin kadenzierenden Sekundfolge dient als Kriterium bei der Ordnung der maqām-Reihen nach Gattungen:
I. Die rāst-Gattung: Bezeichnend für die Modi dieser Gattung ist die in den Schlusston einmündende Sekundenfolge mittel – mittel – groß. Die maqām-Reihe des rāst bildet den Hauptmodus dieser Gattung:
Der rāst-Gattung gehören etwa zwanzig weitere Modi an.
Der sīkāh-Gattung gehören etwa zehn weitere Modi an.
IV. Die nahăwand-Gattung. Bezeichnend für die Modi dieser Gattung ist die in den Schlusston einmündende Sekundenfolge groß – klein – groß. Die maqām-Reihe des nahăwand bildet den Hauptmodus dieser Gattung:
Der nahăwand-Gattung gehören etwa zehn weitere Modi an.
V. Die higaz-Gattung: Bezeichnend für die Modi dieser Gattung ist die in den Schlusston einmündende Sekundfolge klein – übermäßig – klein. Die maqām-Reihe des higaz bildet den Hauptmodus dieser Gattung:
Der higaz-Gattung gehören etwa sieben weitere Modi an.
VI. Die nakriz-Gattung. Bezeichnend für die Modi dieser Gattung ist die in den Schlusston einmündende Sekundenfolge klein übermäßig klein groß. Die maqām-Reihe des nakriz bildet den Hauptmodus dieser Gattung:
Der nakriz-Gattung gehören etwa fünf weitere Modi an.
VII. Die `agam-Gattung: Bezeichnend für die Modi dieser Gattung ist die in den Schlusston einmündende Sekundenfolge klein – groß – groß. Die maqām-Reihe des `agam `usayran bildet den Hauptmodus dieser Gattung:
Der `agam-Gattung gehören etwa sechs weitere Modi an.
VIII. Die kurd-Gattung. Bezeichnend für die Modi dieser Gattung ist die in den Schlusston einmündende Sekundenfolge groß – groß – klein. Die maqām-Reihe des kurd bildet den Hauptmodus dieser Gattung:
Der kurd-Gattung gehören etwa fünf weitere Modi an.
Es folgt noch einmal eine Übersicht über die kadenzierenden Sekundfolgen, die die acht maqām-Gattungen charakterisieren:
k = klein
m = mittel
g = groß
ü = übermäßig
x
Das maqām-Phänomen
aus:
Habib Hassan Touma
Die Musik der Araber
Das maqām-Phänomen, ein einzigartiges Improvisationsverfahren innerhalb der arabischen Kunstmusik, liegt allen improvisierten Vokal- und Instrumentalgattungen der Araber zugrunde. Wir begegnen diesem Improvisationsverfahren in der gesamten arabischen Welt, und zwar sowohl in der weltlichen als auch in der religiösen Musik.
Jede musikalische Struktur wird durch zwei Faktoren bestimmt: den Raum (tonräumlicher Faktor) und die Zeit (rhythmisch-zeitlicher Faktor). Für die Struktur eines Musikstücks ist ausschlaggebend, ob diese Faktoren frei gestaltet werden können oder straff organisiert sind. Beim maqām wird die tonräumliche Komponente derart nachdrücklich ausgeformt, dass sie für die maqām-Darstellung den wesentlichen, entscheidenden Faktor darstellt – im Gegensatz zum rhythmisch-zeitlichen Moment, das keiner bestimmten Organisation unterworfen wird. Eben darin liegt das ureigenste Merkmal des maqām: Einer freien Organisation des Rhythmisch-Zeitlichen tritt eine verbindlich determinierte Organisation des Tonräumlichen gegenüber. Ganz das Gegenteil z. B. eine Gattung wie der Walzer. Er ist in erster Linie durch seine rhythmisch-zeitliche Organisation gekennzeichnet, wohingegen die ton-räumliche Ordnung keinen Regeln zu gehorchen hat.
Die meisten Musikgattungen im europäischen Kulturraum unterliegen keinem besonders ausgeprägten, festliegenden tonräumlichen Regelsystem, das der Erfindung eines musikalischen Themas eindeutige Grenzen setzen würde. Jedoch gilt dies nicht uneingeschränkt. Im 18. und 19. Jahrhundert etwa musste der Komponist bei einer Sonate oder Symphonie eine feststehende, tonräumliche Organisation beachten. Er schrieb das zweite Thema der Exposition in einer höheren Tonart als das erste und modulierte in der Durchführung in tiefere Register, um einen Kontrāst zur Reprise zu schaffen. Unabhängig davon berücksichtigte er eine rhythmisch-zeitliche Ordnung, die stets in einem gewissen Verhältnis zu einer einmal gewählten, wiederkehrenden rhythmischen Gruppierung stand.
Der maqām kennt dagegen hinsichtlich des Zeit-Parameters keine feste Organisation. Das heißt: Hier gibt es weder feststehende, regelmäßig wiederkehrende Takteinteilungen noch ein gleich bleibendes Metrum. Ein bestimmter Rhythmus kennzeichnet zwar unter Umständen den Stil eines Ausführenden, hängt jedoch von dessen Spieltechnik ab und ist niemals für den maqām als solchen charakteristisch.
Das ist einer der Gründe dafür, dass der fremde, wenig mit der Musik vertraute Zuhörer die maqām-Darstellung gelegentlich als eine formlos improvisierte Musik empfindet. Für den ungeübten Hörer scheint eine maqām-Vorführung weder Anfang noch Ende zu haben. Die klaren, festumrissenen Themen und deren Verarbeitung und Variierung im Verlauf des Stückes fehlen. Zudem trägt der arabische Musiker den maqām vor, ohne sich auf eine musikalische Aufzeichnung zu stützen. Der maqām besitzt jedoch sehr wohl eine Form. Sie besteht aus den folgenden Bauelementen, die sowohl in den Vokal- als auch in den Instrumentalformen deutlich wahrzunehmen sind:
Der Melodiezug
Ein charakteristisches Merkmal der maqām-Vorführung sind die langen Pausen, die den melodischen Verlauf in mehrere Melodiezüge aufteilen. Jeder maqām besteht aus mehreren solcher Melodiezüge, in deren Rahmen das tonräumliche Geschehen weiterentwickelt wird. In jedem neuen Melodiezug erklingt etwas musikalisch Neues. Das Neue wird entweder für sich allein behandelt oder mit bereits dargestelltem musikalischem Material kombiniert. Betont der Musiker beispielsweise im ersten Melodiezug den ersten Ton der maqām-Reihe, so kann im zweiten Melodiezug der dritte Ton des maqām eingeführt werden. Wenn im dritten Melodiezug die vierte Stufe des maqām herausgestellt wird, dann ist zu erwarten, dass in diesem dritten Melodiezug zugleich die Haupttöne der ersten beiden Melodiezüge zusammen mit der vierten Stufe erscheinen. Eine verbindliche Regel für die Reihenfolge, in der die Töne hervorgehoben werden und für die Anzahl der Melodiezüge innerhalb eines maqām existiert nicht. Jeder Musiker kann hier frei verfahren.
Phasen und Tonebenen
Das Musizieren auf einem Ton oder in einem bestimmten Tonraum stellt eine „Phase” in der Entwicklung eines maqām dar. Jeder Melodiezug besteht aus einer oder mehreren solcher Phasen. Die melodische Entwicklung verläuft von Phase zu Phase allmählich von den tieferen zu den höheren Tonlagen, bis der melodische Höhepunkt erreicht und damit die Form abgeschlossen ist. Die Art und Weise, in der eine Phase realisiert wird, bestimmt das künstlerische Können des Musikers oder Sängers.
Die Phasen eines maqām basieren auf Tonebenen, die im Laufe der Vorführung sorgfältig nacheinander aufgebaut werden. Eine Tonebene setzt sich aus Tönen zusammen, die um eine melodische Achse herum angeordnet sind. Eine Melodieachse entsteht durch die wenigstens dreimalige Wiederholung eines Tons, der dabei zugleich von benachbarten Noten umspielt werden kann.
Insgesamt gliedert sich die Darstellung des maqām somit in Melodiezüge, deren Anzahl und Länge vorher nicht festliegen. In ihnen werden jeweils eine oder mehrere Tonebenen verdeutlicht und miteinander kombiniert, kontrāstiert und vertauscht. Die Zahl der Tonebenen liegt für jeden maqām fest. Tonebenen lassen sich auf eine Kernzelle reduzieren. Einfallsreichtum und Können des Musikers oder Sängers messen arabische Hörer daran, wie die Tonebenen und Phasen herausgearbeitet, kombiniert und kontrāstiert werden. Dies gilt für die erste Tonebene genauso wie für die Rückkehr zum musikalischen Ausgangspunkt, die die musikalische Darbietung beschließt, nachdem die höchste Tonebene – der Höhepunkt des maqām – erreicht worden ist. Ein erstklassiger Musiker weiß schon durch seine Auswahl und Kombination von Tonebenen die Spannung der Zuhörer derart zu steigern, dass diese in der Pause, die einem Melodiezug folgt, in spontanen Beifall ausbrechen.
Zur Realisierung einer wirklich überzeugenden und originellen maqām-Darstellung bedarf es einer schöpferischen Fähigkeit, die der eines Komponisten durchaus verwandt ist. Allerdings kann der maqām nur mit Einschränkungen als eine Kompositionsform gelten. Zwei Vorführungen desselben maqām werden niemals gleich ausfallen. Das Moment des Kompositorischen tritt durch die vorher festliegende tonräumliche Organisation einer bestimmten Anzahl von Tonebenen in Erscheinung, während das Improvisatorische sich im Rahmen der zeitlich-rhythmischen Gestaltung äußert. Dieses Ineinandergreifen von Komposition und Improvisation gehört zu den unverwechselbaren Kennzeichen des maqām.
Der Gefühlsgehalt des maqām
Jede maqām-Darstellung besitzt ihren eigenen Gefühlsgehalt, der vor allem von der Struktur der Kernzelle des maqām, an zweiter Stelle aber auch von den Tönen der maqām-Reihe bestimmt wird. Voraussetzung ist allerdings, dass die für den maqām charakteristischen Tonebenen und Phasen tatsächlich auch herausgearbeitet werden. Eine Tonreihe kann nun aber über eine oder zwei Kernzellen verfügen und damit zwei verschiedenen maqāmat und Gefühlsstimmungen zugeordnet sein. […]
Die vokale oder instrumentale Ausführung eines maqām ist zugleich an die Realisierung einer Stimmungs- oder Gefühlslage gebunden, wie das Ergebnis einer Befragung unter arabischen Musikern zeigt. Der maqām rāst etwa ruft ein Gefühl des Stolzes, der Macht, der geistigen Gesundheit und der Männlichkeit hervor. Der maqām bayati bringt Lebenskraft, Freude und Weiblichkeit zum Ausdruck. Der maqām sīkāh wird mit dem Gefühl der Liebe in Verbindung gebracht, der maqām higaz hingegen mit dem der Wüstenferne. Der maqām saba schließlich ruft Traurigkeit und Schmerz hervor. […]
Ein arabischer Hörer erfährt in den ersten Sekunden einer maqām-Darstellung den Gefühlsgehalt unmittelbar und unabhängig davon, ob er einer Konzertdarbietung beiwohnt oder einer Klangkonserve lauscht. Nach dem ersten Melodiezug, der mit etwa 3 Sekunden am kürzesten sein kann, vermag der arabische Hörer genau zu sagen, um welchen maqām es sich handelt und welche Stimmung er vermittelt. Der emotionale Intensitätsgrad aber steigert sich im Laufe der Aufführung und ist grundsätzlich immer dann am stärksten, wenn das musikalische Ereignis in einem traditionellen Kontext stattfindet. […]
Es ist die labile Größe bestimmter Intervalle in diesem nicht-temperierten Tonsystem, die den Gefühlsgehalt eines maqām beeinflusst. Ein solcher Gefühlsgehalt geht jedoch verloren, sobald man das Tonsystem künstlich verändert und in gleich großen Tonstufen organisiert.