Tschaikowski Klavierkonzert b-moll (Kissin, Karajan)

Pjotr Iljitsch Tschaikowski Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll op 23
Mehr als ein Reißer

Diese Aufnahme des Silvesterkonzerts von 1988 ist sicherlich allein schon insofern ein Meilenstein der Orchestermusikgeschichte des 20. Jahrhunderts als es Karajans letzter Auftritt mit den Berliner Philharmonikern war. Bei Richard Osborne heißt es zu diesem Konzert: „Karajan dirigierte den ersten Satz von Tschaikowsky Klavierkonzert weitausholend. Es war wie ein langsamer Anstieg auf einen Gipfel, bei dem Kissin – steif wie eine Marionette, mit bleichem Gesicht unter seinem rundgeschnittenen schwarzen Haarschopf -, tapfer, aber vorsichtig den Spuren des alten Mannes folgte.“ (Aus: Herbert von Karajan, Leben und Musik, S. 906) Karajan also langsam und bedächtig, Kissin ehrfürchtig und das alles bei Tschaikowsky?! Klingt furchtbar! Ist es aber nicht. Tatsächlich fängt Karajan vielleicht etwas gemächlich an, aber dass er den ersten Satz so verschleppen würde wie bei seiner Aufnahme mit Sviatoslav Richter finde ich nicht. Kissin wirkt in der Tat ehrfürchtig in Bezug auf Karajan, aber er wirkt keineswegs irgendwie eingeschüchtert und ich finde auch nicht, dass er eine zurückhaltende Interpretation des Konzerts gibt. Nein, er spielt temperamentvoll und ausdrucksstark. Man kann sich das sehr gut anhören. Dass Tschaikowsky noch besser geht, daran besteht kein Zweifel. Aber es ist eine wirkliche gute Aufnahme.

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von Tobias Fabian-Krause (Landau, Pfalz)
34 Jahre alt, Diplom-Psychologe,
großer Liebhaber klassischer Musik.

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Biografie Evgeny Kissin

Evgeny Kissins außergewöhnliche Musikalität und seine ausdrucksstarken Interpretationen haben ihn längst in die Liga der größten Virtuosen unserer Zeit katapultiert. Kritikerlob begleitet ihn allerorten: „Tastenprinz“, „Klaviergott“ und „neuer Horowitz“ sind Vokabeln, mit denen der russische Pianist charakterisiert wird. Die Times spricht von „unangreifbarer Technik“, der Evening Standard bescheinigt ihm „Schönheit, Poesie und Tiefe“. 2010 wurde Evgeny Kissin mit seinem zweiten Grammy ausgezeichnet, diesmal für seine EMI Classics-Einspielung der Klavierkonzerte Nr. 2 & 3 von Prokofieff. Im Oktober 1971 in Moskau geboren, begann Evgeny Kissin im Alter von zwei Jahren nach dem Gehör auf dem Klavier zu spielen und zu improvisieren. Mit sechs Jahren wurde er an der Moskauer Gnessin School of Music aufgenommen, wo er Schüler von Anna Pavlovna Kantor wurde, die seine einzige Lehrerin blieb. 1984 erregte er internationales Aufsehen, als er Chopins Klavierkonzerte im Moskauer Konservatorium mit dem Moscow State Philharmonic unter der Leitung von Dmitri Kitaenko spielte. Seit 1985 arbeitet Evgeny Kissin weltweit mit den renommiertesten Dirigenten zusammen wie Abbado, Ashkenazy, Barenboim, Dohnanyi, Giulini, Levine, Maazel, Muti, Mehta, Ozawa, Svetlanov und Termirkanov. 1987 gab er sein Debüt beim London Symphony Orchestra unter Valery Gergiev und trat mit den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan 1988 beim Neujahrskonzert auf. 1990 gastierte Evgeny Kissin zum ersten Mal bei den BBC Proms in London und gab im selben Jahr sein USA-Debüt mit den beiden Klavierkonzerten von Chopin, begleitet vom New York Philharmonic Orchestra. Im Anschluss daran spielte er zur Eröffnung der Hundertjahrfeier der Carnegie Hall und gab dort ein spektakuläres Debüt. Zu seinen zahlreichen internationalen Preisen und Ehrungen zählen der Crystal Prize der Osaka Symphony Hall 1987 und die Auszeichnung als Künstler des Jahres 1991 der Accademia Musicale Chigiana Siena. In den USA war er Ehrengast bei der Grammy Awards Ceremony, die ein Fernsehpublikum von einer Milliarde Menschen live verfolgte; 1995 wählte ihn Musical America zum Instrumentalisten des Jahres. In seinem Heimatland wurde er 1997 wegen seines herausragenden Beitrags zur russischen Kultur mit dem Triumph-Preis ausgezeichnet, eine der höchsten Ehrungen Russlands. 2001 wurde Evgeny Kissin von der Manhattan School of Music zum Ehrendoktor der Musik und 2005 zum Ehrenmitglied der Royal Academy of Music in London ernannt. 2003 erhielt er den Schostakowitsch-Preis und 2008 den zum ersten Mal vergebenen Award for Distinguished Artistic Leadership des Atlantic Council of the United States. Auch seine CD-Aufnahmen wurden mit zahlreichen Preisen bedacht, so u.a. mit zwei Grammys, einem ECHO Klassik 2002, einem „Edison Klassiek“ (Niederlande), einem „Diapason d’Or“ sowie einem „Grand Prix“ der Nouvelle Académie du Disque (Frankreich). Seit 2007 steht Evgeny Kissin bei EMI Classics unter Vertrag. Sein Debüt-Album mit Schumanns Klavierkonzert und Mozarts Klavierkonzert Nr. 24 wurde 2006 live mitgeschnitten. Mit seinem ersten vollständigen Zyklus der Beethoven-Klavierkonzerte setzte EMI Classics ein Jahr später die Zusammenarbeit mit Evgeny Kissin fort, gefolgt von der Einspielung der Prokofieff-Konzerte Nr. 2 & 3. Für Sommer 2010 ist die Veröffentlichung der Aufnahme von Mozarts Klavierkonzerten Nr. 20 & 27 geplant.

Mai 2010 www.evgeny-kissin.de

Tschaikowski, Pjotr Iljitsch: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll op. 23 – Mehr als ein Reißer

Die Introduktion zu Peter I. Tschaikowskys 1875 uraufgeführtem Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll op. 23, Andante non troppo e molto maestoso, gehört wohl zu den berühmtesten Passagen der ganzen Musikgeschichte. Ein populistischer Vergleich etwa mit dem Beginn des Tongemäldes „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss bietet sich an. Für viele „ist“ Tschaikowskys 1. Klavierkonzert diese Introduktion. Dabei verschwindet jenes große, markante Thema mit dem Ende der Introduktion und taucht im weiteren Werkverlauf nicht mehr auf. Zu hören ist „stattdessen“ in der Folge ein Symphoniesatz, Allegro con spirito, mit einem ersten Thema, das man vielleicht als einen „Ritt über Stock und Stein“ charakterisieren kann, sowie mit einem zweiten Thema (in der Exposition wie in der Reprise zunächst vom Orchester vorgestellt), einer romantischen, poetischen Melodie, deren Fortsetzung weiter ausschwingt zu einem großen Melodiebogen und sich eigentlich bald als eigenständiges drittes Thema durchsetzt. Tschaikowsky führt die drei Themen in der Durchführung und in der Reprise durch allerlei Metamorphosen, vor allem in den Überleitungen pianistisch vollgriffig brillant, immer wieder aber auch lyrisch schwelgerisch. Die Durchführung verzahnt zunächst im Orchesterspiel das erste und das dritte Thema, ehe das Klavier mit donnernden Oktavketten übernimmt und über zweites und erstes Thema „frei phantasiert“, schließlich auch im Wechselspiel mit dem Orchester, ehe das erste und das dritte Thema, um die Vorherrschaft streitend, zur Reprise führen. Die ausgeschriebene Klavierkadenz bietet weitere Metamorphosen der drei Themen, bis die Coda des ersten Satzes mit dem dritten Thema ansetzt und der Satz effektvoll abgerundet wird. Eine träumerische Melodie prägt den zweiten Satz, ein Andantino semplice, zuerst erklingt die Melodie von der Flöte gespielt, dann übernimmt das Klavier, und das Geschehen wird in Sechzehntelgirlanden weitergesponnen. Völlig überraschend bricht ein irrwitzig filigran-virtuoses Prestissimo in den Satz, spukhaft rasch, fast wie ein verkapptes Scherzo, sanft aber heftig treibend, bis eine Klavierkadenz zur träumerischen Melodie zurückführt, die den Satz zu Ende führt. Drei Themen auch im dritten Satz, Allegro con fuoco – das erste ein Höllenritt, das zweite ein übermütig enthusiastisches Volksfest, das dritte ein ganz großer Melodiebogen, der sich zum Ende hin „freikämpft“ und mit einer alles überstrahlen wollenden Apotheose triumphiert. Peter I. Tschaikowskys Konzert op. 23 nähert sich ein historisch interessierter Musikfreund vielleicht auch mit dem Wissen um die schon irgendwie erstaunliche Tatsache, dass das Werk zur Entstehungszeit als fast unspielbar galt und nach mehr als 125 Jahren schon längst fast völlig inflationär in unzähligen Aufnahmen und Konzerten angeboten wird. Musikwissenschaftler verweisen auf ukrainische Volksweisen als Vorlagen für Themen des Werks (1. und 3. Satz), auch auf das Chanson „Il faut s´amuser, danser et rire“ (2. Satz.). Als leidlich klimpernder Klavierblattspieler wagt man sich dem Werk mit der Ehrfurcht dessen zu nähern, der sich freut, niemals dem Druck ausgesetzt zu sein, den Herausforderungen im Konzert gerecht werden zu müssen und andererseits die lyrischen Passagen doch auch irgendwie nachspielen zu können. In der Peters Ausgabe für zwei Klaviere findet man diese im ersten Satz in den Abschnitten E, K und in der Kadenz in P sowie in den das für den Blattspieler absurd schnelle und schwere Prestissimo umrahmenden Andantino semplice Teilen des zweiten Satzes. Sogar den berühmten Beginn, jene Introduktion, die dann thematisch im Werk nicht mehr wiederkehrt, und auch die Apotheose des großen letzten Themas im Finalsatz, beides vollgriffige aber eigentlich recht gut in den Fingern liegende Glanzpassagen, traut sich der Blattspieler aktiv etwas zu erspüren. In diesem Forum finden sich einige Anmerkungen zum Werk unter anderem hier: Tschaikowski – Ein absoluter Tiefpunkt der Musik des 19. Jahrhunderts? Der hier nun vorgenommene Versuch eines Interpretationsvergleichs von insgesamt acht zur Verfügung stehenden Aufnahmen hat, dies vorneweg, dem Schreiber das Vorurteil genommen, das Werk mit seinem etwa 20 Minuten langen ersten Satz und den nur jeweils etwa sechs bis sieben Minuten kurzen beiden weiteren Sätzen sei abgespielt und nicht mehr hörbar. Es ist ganz im Gegenteil (so empfinde ich es) ein großartig inspiriertes, äußerst kurzweiliges Konzertwerk, welches man ohne Verschleiß auch mehrmals hintereinander (zumal den Eigenheiten der Interpretationen nachspürend) hören kann.

Quelle: http://www.capriccio-kulturforum.de/orchestermusik/2694-tschaikowski-pjotr-iljitsch-konzert-fuer-klavier-und-orchester-nr-1-b-moll-op-23-mehr-als-ein-reiszer/ AlexanderK Irgendwie irgendwo irgendwann AlexanderK ist männlich

Tschaikowski – Ein absoluter Tiefpunkt der Musik des 19. Jahrhunderts?

Ich habe mich mit der Frage nach dem Wert/Unwert von Pjotr Tschaikowsky einmal im Zusammenhang mit dem Kitsch-Vorwurf bei Adorno und bei Dahlhaus beschäftigt. Ich bin davon ausgegangen, dass der Vorwurf des Kitsches bei Tschaikowsky mehr im Auge des Betrachters liegt, als dass er schlüssig in der Musik nachgewiesen werden könnte. Wenn man die Kriterien „Authentizität“, „Wohlgeformtheit“, „Schönheit“ und „Verständlichkeit“ (Feurich S. 74f.) auf die Werke Tschaikowskys anwendet, so wird man mE nicht zu einem Urteil kommen, wie es etwa Schreiber an einer „Partei“ festmacht:

Einer ungeheuren Anhängerschaft in der gesamten an Musik interessierten Welt […] steht eine feste Front von (oft intellektuellen) Musikfreunden gegenüber, die in Tschaikowsky einen absoluten Tiefpunkt der Musik des 19. Jahrhunderts sehen.„(Schreiber: Schallplatten. Klassik/Auslese, S. 267)

Interessant finde ich schon die Verteilung der Schatten bei allem Bemühen um Objektivität. Ungeheuer (groß ist wohl gemeint) ist die eine Seite, intellektuell die andere. Da steht Massengeschmack gegen Wissen – und wir sind im Krieg um das Bessere, wie der Ausdruck „Front“ verrät. Sehen wir uns die Gründe an, die Schreiber für beide Seiten anführt (nur die Haltung zu diesen Gründen unterscheidet sich).

Die Verbindung von slawischen Espressivo mit mitteleuropäischen Musikformen ist ebenso bedenklich wie populär.

Das gilt mE auch für Schostakowitsch. Ist „slawischer Espressivo“ nur in Rohform erlaubt wie beim von Rimsky nicht bearbeitetem Mussorgsky? Was sind „mitteleuropäische Musikformen“? Ist ein Walzer bei Chopin erlaubt, bei Strawinsky aber verboten? Oder steckt da nicht die Urangst dahinter, dass Popularität bedenklich ist? Bedenklicher scheint mir – mit Verlaub – mangelnde Verständlichkeit (s. Kriterium Nr. 4 bei Feurich). Also verständlich ist Tschaikowsky offensichtlich, wie steht es mit den anderen Kategorien der ästhetischen Wertung?

Tschaikowskys Neigung, Musik als Ausdrucksgefäß persönlicher Neurosen zu benutzen, ist nicht minder bedenklich wie populär, was auch für die notwendigerweise aus solchen Spannungen entstehenden Vulgaritäten gilt.

Dieser Satz ist für mich so bedenklich, wie nur einer sein kann. Man kann Musik – auch mit Nutzen – psychoanalytisch betrachten, man hat es mit unterschiedlichem Erfolg etwa bei Gluck, Mozart – und selbstverständlich bei Wagner versucht. Ob man es kann, hat wenig mit dem Wert oder Unwert der Musik zu tun. Sind bei Berg nicht auch „persönliche Neurosen“ in die Musik „gegossen“? Auch hier überrascht wenig, dass „populär“ mit „bedenklich“ gleichgesetzt wird. Auch der weitere Verlauf des Satzes stellt Rätsel: man findet dank der Neurosen „solche Spannungen“, dass daraus „Vulgaritäten“ entstehen. Wenn vorher die Trivialität gesucht wurde in der Verbindung von „slawischen Espressivo mit mitteleuropäischen Musikformen“ wird sie hier wegen der musikalischen Verarbeitung von „Neurosen“ postuliert. Diese behaupteten Vulgaritäten sollte man einmal näher unter die Lupe nehmen, auch da könnte der Vorwurf im Auge des Betrachters liegen und nicht im Werk Tschaikowskys selbst. Es mag sein – und darauf weist Tschaikowskys Selbstkritik hin – dass bei einer verfehlten Aufführung seines Werkes Triviales produziert wird – das geschieht aber bei Gluck, Mozart und Wagner gleichermaßen. Bei Gluck gibt es eine vielzitierte Äußerung in Bezug auf „Che farò senza Euridice“. Dass man ein Werk missbrauchen kann, darf seinem Schöpfer nicht vorgeworfen werden, sonst dürften wir keinen Bach, keinen Beethoven und keinen Bruckner mehr hören. Immerhin weist die Überlegung Schreibers darauf hin, dass mangelnde Authentizität Tschaikowsky wohl kaum vorgeworfen werden kann. Wie kommt man nun zu dem Urteil, Tschaikowsky sei der Tiefpunkt des 19. Jahrhunderts? Sicher ist ein Grund genannt mit der Popularität Tschaikowskys. Authentizität muss also verbunden sein damit, dass man nur von einer (oft intellektuellen) In-Group geschätzt wird. Dass aber die Größe eines Kunstwerks eine Vielfalt von Zugängen zulässt, haben eigentlich alle Großen der Musikgeschichte bewiesen. Zu ihnen gehört Tschaikowsky, mag man ihn nun mögen oder nicht. Ich habe – ehrlich gestanden – meine Probleme mit ihm – aber das sind *meine* Probleme, nicht seine ;+)

Es grüßt herzlich Peter Über alles aber ergriff ihn „Iphigenia auf Tauris“ von Gluck. (La Mara: Musikalische Studienköpfe: Franz Schubert)

Quelle: http://www.capriccio-kulturforum.de/komponisten/1760-tschaikowski-%E2%80%93-ein-absoluter-tiefpunkt-der-musik-des-19-jahrhunderts/ Peter Brixius Der fahrende Ritter Peter Brixius ist männlich Wohnort: Leverkusen



 

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