Wolfgang Amadeus Mozart: Kleine c-moll Fantasie KV 396

Mit Samples „The Hammersmith Pro“ eines Steinway-Konzertflügels eingespielt.

 

Hanns Dennerlein: Das c-moll-Fragment (KV 396)

Man hatte sich gewöhnt, diesen c-moll-Satz mit dem rhapsodischen Schwung und der gewaltigen Entladung als die „Kleine c-moll-Fantasie für Klavier“ zu bezeichnen, zum Unterschied von der „Großen c-moll-Fantasie“ des Jahres 1785. Ganz wohl ist es den Kennern nie bei dieser Bezeichnung gewesen. Denn weder der Name Fantasie trifft recht zu für diesen bei aller Ausladung merkwürdig formgebundenen Körper, noch ist das Format dieses Einzelsatzes klein zu nennen. Gehört dieses seltsame Werk doch zu dem allergrößten, was Mozart für Klavier geschrieben hat. Für Klavier allein? Selbst dies wurde neuerdings ernsthaft in Frage gestellt.

Im Jahre 1920 entdeckte R. Haas im Weimarer Goethe-Schiller-Archiv unter Goethes Handschriftensammlung das Autograph, Geschenk der Eleonore Fließ an Goethe 1812, das die Rätsel um diese Komposition recht bedeutend vermehrt. Seine aufsehenerregenden Feststellungen hat Haas in dem Mozart-Buch von 1933 und insbesondere in dem quellenkritischen Aufsatz im „Augsburger Mozart-Buch 1942/43“ niedergelegt. Darnach sind von den insgesamt 73 Takten Gesamtumfang nur die 38 Expositionstakte Mozarts eigene Handschrift. Durchführungs- und Reprisenteil sind von einer anderen Hand geschrieben, in der Haas jene von Maximilian Stadler erkennt. Stadler, der bereits als Ergänzer der G-dur-Fuge, der g-moll-Fuge, ferner der a-moll-Fuge bekannt ist und der im Benehmen mit Constanze auch das Klaviertrio KV 442 in sämtlichen drei Sätzen, die Kyrie KV 322 und KV 323, endlich die Weltallkantate KV 429 und die Requiemsätze „Hostias“ und „Domine Jesu“ abgeschlossen hat, ist tatsächlich der Schreiber der Resttakte. Im Nekrolog auf Maximilian Stadler des Ignaz Freiherrn von Mosel, den Haas herbeizog, wird klar ausgesprochen, daß Stadler „zu der, nach Mozarts Tode im Stich erschienenen Klavierfantasie in c-moll, wovon nur der erste Teil vollendet war, den ganzen zweiten Teil komponierte.“ Die andere aufsehenerregende Feststellung, die der Autographfund ermöglichte, war, daß Takt 24/28 von Mozarts Eigenschrift, d. h. die fünf letzten Takte der Exposition mit eigener Violinstimme notiert sind.

Seine Herkunft wird klar, wenn man den Anfang von dem 18. Probestück (Klavierfantasie) aus Phil. Emanuel Bachs „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ heranzieht, dessen 2. Auflage eben erst 1780 erschienen war, und die im Gegensatz zur ersten von 1753 unterlegte Hamlet- und Gottsched-Texte von Gerstenberg enthielt. Wieder soll die Analyse versuchen, die gehäuften Rätsel um das c-moll-Fragment zu lösen.

Aber ebensowohl läßt sich Joh. Seb. Bachs c-moll-Fantasie heranziehen, auf deren verwandten klaren Gliederbau schon Riemann (Handbuch der Kompositionslehre II, 129 ff.) hingewiesen hat, und der Eingang der ouvertürenmäßigen Tokkata aus der e moll-Fartita mit dem cembalogerechten Intradenrhythmus

Schließlich ist die affektgeladene Hochspannung letzten Endes dem ganzen Seriastil und auch der Gluckschen Pathetik verschuldet.

Die Fragwürdigkeit von Stadlers gutgemeinter Ergänzung sowohl im einzelnen wie in der Wahl der Reprisenform ist offenkundig und erklärt das Unbefriedigte, das Pianist wie Hörer empfinden, wenn nach so bedeutendem Anlauf und Höhepunkt der wirklich befreiende Schluß ausbleibt.

Anders steht es mit der Durchführung. Sie ist von solcher Kraft und Geschlossenheit, wie sie nur dem Genie, nimmer dem braven Talent gelingt, so daß man, entgegen dem Augenschein des Autographs, sie Mozart zuschreiben muß. Es ist anzunehmen, daß Stadler hier nur eine Abschrift geleistet hat. Mit Recht verteidigt denn auch St. Foix, Bd. III, die Echtheit dieses Kernstückes gegen Haas. Das Weimarer Autograph schließt nicht aus, daß Stadler weitergehendes, inzwischen verlorengegangenes Material zur Verfügung gestanden hat

Vom Autograph her ist also letzter Aufschluß nicht zu gewinnen, es sei denn, dessen überraschende 5 Takte Violinstimme lenkten das Augenmerk auf den Torso der a-moll-Fuge und deren Vordersatz. War nicht auch dieser ein halber Sonatensatz, oder besser ein in Barform gebrachtes, den Raum der Intrada einnehmendes Gebilde, das entsprechend der französischen Ouvertüre Vorspiel war zur nachfolgenden Fuge? Liegt nicht derselbe Sachverhalt auch hier vor, bei dem rätselhaften c-moll-Fragment? Auch hier eine pathetische Intrada, die in die dem A-dur-Satz analoge Barform der halben Sonate gekleidet ist. Wie bei dem A-dur-Satz so auch hier der Dominanthalbschluß vor der zu erwartenden Fuge. Es ist merkwürdig, daß sich Stadler des ähnlich gelagerten Falles bei der Ergänzung nicht bewußt wurde. Es ist nicht zuviel behauptet: Auch dem c-moll-Fragment liegt der Ouvertürengedanke zugrunde, mit seiner Kopplung von schreitbarer Einleitung und großem Fugato, welche gewissermaßen die kirchliche Form von Präludium und Fuge ins Weltliche übertrug und gesellschaftsfähig machte. Die Ouvertüre der С-dur-Partita, der Komplex der a-moll-Fuge und unser c-moll-Fragment, alle drei großen rätselhaften Torsi des Jahres 1782 also, stehen einander formal nahe und sind Dokumente von Mozarts Bemühungen um die Form der Lullyschen Ouvertüre. Das Zyklushafte im Schaffen Mozarts tritt auch hier zutage.

Bei solchem Zusammenhang ist der herkömmliche Name „Kleine c-moll- Fantasie für Klavier“ nicht länger haltbar. In dem Riesentorso war der „Fantasie“ nur ein scharf umrissener Raum, der Durchführungsteil zugedacht. Auch Einsteins Neubezeichnung als Satz einer Violinsonate ist abzulehnen. Genau so wenig wie beim Werk in A-dur mit der Mollfuge sollte man hier von Sonate sprechen. Man lasse es, wenn man nicht gleich die Bezeichnung „Introduktion in c-moll“ anwenden will, bei der neutralen Bezeichnung Großes c-moll-Fragment. Bei der Aufführung als Solowerk für Klavier unterbleibe die schwächliche Reprise Stadlers. Versuchsweise schließe man an deren Stelle mit der C-dur-Fuge. Trotz des Mangels unmittelbarer thematischer Bindung zwischen beiden Hälften wird man überrascht sein, wie beide miteinander verwachsen.

Ein Rätsel bleibt ungelöst. Woher das Ausmaß von Erschütterung in der gewaltigen Eruption dieses Fragments? Denn hier ist nicht Nachahmung, nicht Experiment, sondern Urlaut eines in seinen tiefsten Tiefen bewegten Herzens.

Zitiert aus
Hanns Dennerlein
Der unbekannte Mozart
Die Welt seiner Klavierwerke
Seiten 180-186
Leipzig 1955

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

dreizehn + elf =