Das Land der armen Leute – Schluss

„Der unverdrossene Mut der hohen Rhöner bei ihrem steten Kampf mit der feindseligen Natur ist seit alten Tagen sprichwörtlich. In einem Spruchverse, der die rhönischen Städte nach ihren besonderen Besitztümern schildert, heißt es von Bischofsheim, der Stadt der hohen Rhön, bloß, sie habe ‚den Fleiß’. Das ist eine schöne Devise unter dem Wappenbild einer Stadt. Man sieht in den obern Rhöntälern noch Versuche von Obstbaumzucht in Lagen, wo man anderwärts längst aufhört, sich mit Schnee und Nordsturm um saure Apfel zu raufen. In den Wäldern zwischen Dammersfeld und Kreuzberg begegnete mir in diesen Märztagen ein Mann, der mit einer Spitzhacke hinauszog, wie man sie sonst braucht, um Steine loszubröckeln. Als er mir erklärte: er wolle in entlegene Waldwiesen gehen, um die frühmorgens noch halbgefrorenen und halbverschneiten Maulwurfshügel zu zerschlagen, glaubte ich ihm nicht, und hatte Verdacht, er gehe auf schlimmen Wegen. Als ich ihm aber nachgehends von einer Höhe herab lange noch zusah, wie er in der Tat die gefrornen Maulwurfshügel im Talgrunde zerschlug, schämte ich mich über mein Mißtrauen. Ich hatte keinen solchen Begriff mitgebracht von dem hoffnungslosen kummervollen Fleiß dieser armen Leute.
Wenn die Stadtleute etwa auf einer Pfingstpartie einmal in unsre Gebirge kommen und dort die Strohdächer sehen und die mit Papier verklebten Fensterscheiben, und dazu entdecken, daß die überwiegende Mehrzahl des Volkes barfuß geht, so meinen sie häufig, sie hätten in ein ungeheures Elend geschaut. Und doch waren es vielleicht ganz glückliche, nach Landesart wohlhabende Menschen, die sie gesehen haben. Denn ein Strohdach hält wärmer als ein Ziegeldach, eine verklebte Scheibe macht eine Bauernstube immer noch hell genug, und wer barfuß geht, den drückt wenigstens kein Schuh. Im Winter und Frühjahr sieht es ganz anders aus! Allein der Kampf mit den unbändigen Naturgewalten hat selbst für den ganz rohen gemeinen Mann unbewußt seinen Reiz, es ist das Rittertum dieser Leute, mit dem Winter und seiner Not zu kämpfen. Es kann einer so gut an Heimweh nach dieser öden, aber großartigen Winterwildnis krank werden wie ein andrer am Heimweh nach den Orangegärten Italiens.
Ein Chronist des Mittelalters, der Zeit, wo die Rhöner ‚armen Leute’ in ganz Deutschland ihre Sitze hatten, hat uns eine wunderbar ergreifende Sage überliefert von diesem Heimweh, welches sich sehnt, mutterseelenallein in der starren Wildnis zu sein. Von dem Fortsetzer des Geschichtsbuchs des Lambert von Aschaffenburg finden wir nämlich zu dem Jahre 1344 angemerkt, daß damals, wo Witterungsnot, Hunger und Seuchen in einer Weise gewütet hatten, gegen welche unsre modernen Notzustände Spielerei sind, bei Hersfeld in den Wildnissen des Verödeten und entvölkerten Landes ein Knabe gefunden worden sei, den die Wölfe erzogen hätten. Er ward vor den hessischen Landgrafen geführt und lernte mit großer Mühe menschlich gehen und essen. Der Chronist aber sagt, als er sprechen gelernt, habe er den Wölfen den Vorzug vor den Menschen gegeben und sei, in der ungestillten Sehnsucht nach seiner Wildnis, am gebrochenen Herzen gestorben!“



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