Doppelte Kontingenz
Der Begriff der Kontingenz markiert heute eine Sonderstellung zwischen den traditionellen Modalitäten, er enthält Wirkliches (es ist etwas da), er enthält Mögliches (es könnte anders sein), und er enthält Notwendiges (es ist, wie es ist). Das heißt mit der Herausstellung der Kontingenz verlieren die einzelnen Modalitäten ihren Vorrang. Selbst- und Weltverhältnis des Menschen sind nicht mehr allein am Wirklichen oder Verwirklichten zu orientieren, wie das – grob gesagt – für die griechische Antike und die hebräische Religion gegolten haben wird; sie sind aber auch nicht mehr allein am Notwendigen, einem höchsten, mit aller Realität ausgestatteten und darin notwendig zu denkenden Sein, nämlich Gottes, zu orientieren, wie das für die christliche Philosophie der Scholastik verbindlich war; und sie sind schließlich auch nicht mehr allein am Möglichen, dem Inbegriff logischer Nicht-Widersprüchlichkeit zu orientieren, wie er aus scholastischem Denken in die Neuzeit überging. Kontingenz wahrt eine Zwischenstellung und partizipiert an den Modalitäten, weil sie derart dem menschlichen Dasein verhaftet ist, dass sie dessen ‚faktisches Sein’ (mit Kierkegaard gesprochen) nicht verlässt, aber ebenso wenig dessen Alternativmöglichkeiten, dessen Reflexionsfähigkeit und unumgängliche Einfügung in Bedingungsstrukturen verspielt. Leben vollzieht sich in den modalen Hinsichten, ist von ihnen her analysierbar, mit keiner von ihnen aber deckungsgleich oder in einem höchsten Sinn zu idealisieren, so als wäre wahres Leben letztlich notwendig, höchste Wirklichkeit oder pure Möglichkeit. Kierkegaards Existenzanalysen beschreiben genau das Überschneidungsfeld der modalen Hinsichten, beispielhaft im ‚Zwischenspiel’ der Philosophischen Brocken, in der Einleitung zum Begriff Angst und im ersten Teil der Krankheit zum Tode.
Kierkegaards Entdeckung ist das existentielle ‚Werden’ als ein Akt, ein Übergehen, ein Realisieren, das von seinen Möglichkeiten herkommend gedacht, das im Akt des Sich-Realisierens von diesen her aber niemals ausreichend bestimmt, d. h. nicht determiniert werden kann. Werden impliziert folglich Freiheit und schließt damit (geschichtliche) Notwendigkeit aus. Kontingenz bedeutet dann, dass sowohl bezüglich der Vergangenheit wie bezüglich der Zukunft derselbe Freiheitsvorbehalt gilt: Es ist geworden / es kann werden (kommen), ohne dass eine Notwendigkeit vorweg oder nachträglich zu bestimmen wäre. Zwar gelten Bedingungen, und diese sind im Sinne der Außenperspektive auch anzugeben und von einem gewissen prognostischen und erklärenden Wert, aber letztlich ist dabei über Ursachenverkettungen nicht hinauszukommen. Kontingenz heißt, es hätte auch anders sein können, wobei Wirklichkeit und bedingende Notwendigkeit ebenso impliziert sind wie die alternativen Möglichkeiten. Diese schwingen immer mit, daher der Irrealis am Gegebenen, dessen ‚faktisches Sein’ nie pures Faktum, sondern immer in der leidenschaftlichen (existentiellen) Gespanntheit des Werdens ist.
Logische Notwendigkeit, damit beginnt die Einleitung im Begriff Angst, ist folglich etwas ganz Anderes, das seine eigene Berechtigung hat, aber nicht mit der als gelebt erfahrenen Wirklichkeit vermischt werden darf. Der Einwand gegen die Notwendigkeit ist die Kontingenz, die ‚Zufälligkeit’, die ein unaufgebbares Element unserer Wirklichkeit ausmacht und durch keine Prognose aufgehoben werden kann. Es muss also etwas kalkuliert werden, dessen Kennzeichen jenes ‚Es-hätte-auch-anders-sein / werden-können’ ist, und wird dieses Kalkulieren nicht nur in der Außenperspektive von statistischen Wahrscheinlichkeiten vor Augen gebracht, sondern in die sich ihrer selbst bewusste Existenz des Menschen hineingenommen, so ist die Kontingenz die Anzeige von Gewordensein, Selbstwerden und Selbstentwurf. Diese binden sich an keine vorgegebene Notwendigkeit, an kein fixiertes Wirkliches und auch nicht an die Fülle der Possibilitäten, sondern nur an die Kontingenz selbst.
Wie diese nun genauer zu bestimmen ist, das zeigen vor allem die Phänomenanalysen im Begriff Angst und in der Krankheit zum Tode. Kontingenz – im Selbst- und Weltverhältnis des Menschen, d. h. aus der Innenperspektive gedacht – ist aus der Modalitätsstruktur zu beschreiben, so dass aus der drohenden Möglichkeit der Möglichkeiten die Angst, aus dem tief empfundenen Missverhältnis in den gegebenen Strukturbedingungen die Verzweiflung resultieren. Kontingent bleibt der Selbst- und Weltenwurf in jeder Richtung, weil er riskant und ungewiss gehalten ist und keine Ruhe finden kann, solange er für den Drohcharakter der Kontingenz des Kontingenten kein Gegengift hat finden können. Dass Kierkegaard im christlichen Glauben, jener „glücklichen Leidenschaft“, die Macht der drohenden Kontingenz gebrochen sieht, setzt ihn instand, sie zunächst einmal aufzudecken bzw. Scheinlösungen – und zwar gerade solche, die sich des Christentums versicherten – abzuwehren. Rein philosophisch gesehen bleibt deshalb etwas Schwebendes an Kierkegaards Kritikinstanz der Kontingenz: Sie wird gegen alles ins Feld geführt, ohne die Sicherheit mitzuliefern, dann auch mit ihr fertig werden zu können.
Denn zwischen der theoretischen Analyse und der Lebensbewältigung gibt es konsequent gedacht ebenfalls keine notwendige Vermittlung, keinen glatten Übergang. Immerhin, wo im Ableben der neuzeitlichen Metaphysik die alten Stützen versagten, ist Kierkegaards Programm, im Kontingenten selbst nach dessen Heilung zu suchen, ein Trost vor allen gewaltigen und zu viel versprechenden Außenperspektiven. Das meint gebündelt Kierkegaards Bemerkung gegen Hegels Allgemeinbegriff des Ethischen, über den Abrahams Glaube hinausgreift: „wofern nichts Inkommensurables in einem Menschenleben ist, vielmehr das Inkommensurable, das da ist, es nur durch einen Zufall ist, aus dem, soweit das Dasein unter der Idee betrachtet wird, nichts folgt, hat Hegel recht“. – Im Namen des Kontingenten aber hat Hegel eben nicht recht!
aus
Hermann Deuser :
„Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee?
Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus.
Gesammelte Aufsätze zur Theologie und Religionsphilosophie.“
Zur hoffentlich nicht verwirrenden Erläuterung:
Das Verwirklichte oder Wirkliche, woran sich der Mensch in seinem Selbstverständnis, aber auch in seinem Verhältnis zur Gesellschaft und der externen Welt orientiert, meint die Gegenwart, nur sie ist wirklich, die Vergangenheit war es, aber wir wissen mit zunehmendem Abstand von ihr nicht mehr wie sie wirklich war, die Zukunft wird es irgendwie werden.
Die ist aber auch nicht mehr allein am Notwendigen, einem höchsten, mit aller Realität ausgestatteten und darin notwendig zu denkenden Sein, nämlich Gottes, zu orientieren, wie das für die christliche Philosophie der Scholastik verbindlich war; Aber auch nicht an einer alles bestimmenden Vernunft, wie sie definitiv für die Denker der Aufklärung war. Camus führt über das Zustandekommen des Glauben an eine solche ‚Vernunft’, wie ihn die Aufklärung dogmatisierte, in Der Mensch in der Revolte u.a folgendes aus:
„Wenn der Gesamtwille [Camus meint den des Volkes] sich frei ausdrückt, kann er nichts anderes sein als der allgemeine Ausdruck der Vernunft. Wenn das Volk frei ist, ist es unfehlbar. Nach dem Tod des Königs und der Lösung der Ketten des alten Despotismus wird das Volk nun ausdrücken, was zu allen Zeiten die Wahrheit ist, gewesen ist und sein wird. Es ist das Orakel, das man befragen muss, um zu wissen, was die ewige Weltordnung fordert. Vox populi, vox naturae. Ewige Prinzipien lenken unser Verhalten: die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Vernunft. Sie ist der neue Gott. Das höchste Wesen, das ganze Trupps junger Mädchen beim Fest der Vernunft anbeten, ist nur der alte Gott, entkörpert, aller Verbindung mit der Erde jäh enthoben und wie ein Ballon in den leeren Himmel der großen Prinzipien gesandt. Aller Stellvertreter und Mittler bar, hat der Gott der Philosophen nur den Wert einer Demonstration. Er ist recht schwach in Wirklichkeit, und man versteht, dass Rousseau, der die Toleranz predigte, dennoch der Meinung war, man müsse die Atheisten zum Tode verurteilen.“
Und sie sind schließlich auch nicht mehr allein am Möglichen, wie ihn die zweiwertige Logik des „Wenn→Dann“ postuliert, zu orientieren, der nicht nur aus dem scholastischem Denken des Mittelalters resultiert, sondern der auch aus dem Determinismus des Newtonschen Weltbildes in die Neuzeit überging.