Wolfgang Amadeus Mozart: Fantasie c-moll KV 475 für Klavier
Eingespielt mit Samples „Vienna Grand“ eines Bösendorfer Konzertflügel der Firma Galaxy Instruments.
Wenn meine Einspielung gefällt, bitte über PayPal
für den Kauf eines Sampleset „Silbermannorgel“ und die zugehörige Orgelsoftware „Hauptwerk“ oder einfach nur, weil meine Website gefällt.
Hanns Gennerleien: Die große с moll-Fantasie
Mit einer zweimal erhobenen Frage von ernster Eindringlichkeit hebt das Adagio 4/4 an, in dem suggestiven forte-Einsatz mit dem gleichen dreifachen c-Ton ebenso schlagartig die tragische Atmosphäre schaffend wie die gewaltsame Akkordbrechung am Sonateneingang. Wie dort, so auch hier die Antithese von Frage und p(p) Antwort, wie dort auch hier das Intervall der verminderten Septime, jedoch schon vorverlegt in den Themakopf. Es ist überhaupt ein anderer Mozart als der von 1778/79, der diese Fantasie schreibt.
Ist es ein Zufall oder klingt die Beschäftigung mit Joh. Seb. Bach während der Stilrevision nach in der Spannung der Themafrage g-as-c-h, die auch in der g-moll-Fuge des Wohltemperierten Klaviers I enthalten ist? Dieses tragische Motiv wendet sich (Takt 5) nach dem sanften Des-dur. Dann wird es in der beschwingten Modulationsart, wie sie sonatischen Durchführungen, aber auch manchen Präludien des Wohltemperierten Klaviers eignet, aus dem Diskant in immer tiefere Baßregionen hinabgezogen, wobei dreimal mittels enharmonischer Verwechslung der Wechsel von b-und # -Tonarten vollzogen wird. Schließlich wird in pp-Takt 18 die Durdominante von c-moll erreidit. Der ursprüngliche Gegensatz Unisono : Mehrstimmigkeit innerhalb des zweipoligen Themas scheint sich gemildert zu haben unter den immer sanfteren Begleitharmonien, die aus Akkordbrechung alsbald in eindringliche Tonrepititionen übergehen. Im tiefen Baß erscheint (Takt 18 ff.), viermal wiederholt, wie ein leises Grollen eine dem Hauptmotiv entstammende Zweiunddreißigstelverkürzung. Sie wird in rezitativischer Weise vom Diskant und von beiden Mittelstimmen imitierend aufgenommen. Hierbei wird die Dominante von h-moll erreicht. Das so nachdrücklidi unterstrichene, zur Zweiunddreißigstelfigur geballte Eingangsmotiv löst folgerichtig die weitergebildete Seufzerantwort aus Takt 2 aus, unter deren Wiederholung das Adagio in rechter Wehmut auf dem fis-moll-Halbschluß, der Dominante von h-moll, anlangt.
Den folgenden D-dur-Liedsatz muß man trotz fehlender Eigenbezeichnung und entgegen Riemann (Handbuch der Kompositionslehre) als Sondersatz rechnen. Mit dem anschließenden Allegro 4/4 bildet er eine ebensolche Einheit wie hernach das В-dur-Andantino mit dem darauffolgenden Piu Allegro. Abert nennt es einen Jugendtraum. Es ist von ungemeiner Wärme, die Gefühls dichte, schon rein äußerlich ablesbar an den Maßen
А = / : 4 : / В = /‘: 2 А = 4 :/
Bezeichnend sind auch die sf-Druckstellen der minderbetonten Taktzeiten. Man wird nicht fehlgehen, in ihm die Vergegenwärtigung tiefsten früheren Glücks zu sehen. Daher denn auch der dreifache Seufzer, mit dem der Liedsatz in den Dominantseptimenakkord von e-moll ausläuft.
Ist es die Erkenntnis von der Unwiederbringlichkeit dahingeschwundenen Glücks, welche den Ausbruch des Allegro 4/4 heraufbeschwört?
Ein pathetischer Oktavenbaß erfährt die Antithese des leidenschaftlich bewegten Diskants. Die Wiederholung erfolgt eine Tonstufe tiefer, somit die Struktur des Fantasie-Eingangs aufnehmend. Wie in einer Sonatenexposition stellt sich ein klar umrissenes Gesangsthema in F-dur, allerdings nicht in der eigentlichen Dominante, entgegen. Dieses zweite Thema klingt deutlich an die c-moll-Sonate an. Da sind dieselben, die Tonalität festlegenden Vortakte zum Thema II, wie im с-moll-Allegro (Takt 34/35) und im dortigen Finale (Takt 44). Da ist der unverkennbare Doppelschlag und (hier fallende Sekundschritt) des Sonatengesangsthemas (Takt 36). Auch die F-dur-Rakete in der Fantasie scheint nicht von ungefähr zu sein und die modulierend Fortspinnung nach der f-moll-Variante zitiert deutlich aus der Sonate den dort sowohl im Allegro (Takt 59) wie im Finale (Takt 72) gebrachten Abgesang. Die positiven Erinnerungswerte halten stand. Auch der von triolischen Dissonanzen umspielte chromatische Abwärtsgang vermag ihnen nichts anzuhaben. Eine auf dem Dominantseptimenakkord von В dur entwickelte Kurzkadenz zerteilt das Gewölk.
Im Andantino in В erscheint unter Übergang vom 4/4– zum 3/4-Takt in sprechender Diktion das arios umgebildete Seufzermotiv vom Ende des D-dur-Satzes. Es ist, als ob eine Primadonna die Bühne der Opera seria betreten hätte. Die Wiederholung des Vorderteils der kleinen Szene in tiefer und tiefster Lage läßt den Mittelteil, der bis zum f3 ansteigt, umso heller aufleuchten. Der chromatische Niedergang dieses beseelten Mittelglieds (Takt 18) verbindet die Chromatik aus dem Sonatenallegro (Takt 9/10) mit der Seufzerweise. Aus dieser Seufzerweise entwickelt sich der die Wiederkehr des Vorderteils ersetzende rezitativische Schlußteil, welcher das Seufzermotiv in wechselnder Dynamik nach unten und oben trägt, um schließlich auf dem Dominantseptimenakkord von g-moll pp in der Höhe schweben zu bleiben.
Wie aus dem D dur-Arioso das leidenschaftliche Allegro, so erwächst aus der B-dur-Szene die Entladung des Piu Allegro. Dieses steigert das Motiv, in durchführungsartiger Harmonik, verschiebt es synkopisch, verlangsamt es zu Vierteln, ja Volltaktnoten und geleitet ins ruhige As-dur. Die Ruhe ist allerdings keine gefestigte, sondern Ausgang einer zweiten Durchführungsphase. Hier wird ein viermaliges Aufbrauchen mit den kräftigen Schlägen eines aus den Seufzern der B-dur-Szene gewonnenen Motivs beantwortet, das zuletzt in dichter Häufung den tragischen Verhalt besiegelt und endlich erschöpft verhaucht.
Sinnvoll erscheinen, nun als Postludium, die Takte des Adagioeingangs. Aber es unterbleiben jene weichen, hoffnungsfrohen Modulationen. Vergeblich setzt das Des-dur des Taktes 5 an. Unerbittlich zwingt es der absteigende Dominantseptimenakkord zurück nach с-moll. Wie das Geläut einer zu Grabe getragenen Hoffnung wiederholen die Sechzehntel der rechten Hand den Ton g, indes im Baß jene aus dem Eingangsmotiv entwickelte Zweiunddreißigstelfigur grollt. Sie ist der Schlußfigur im Sonatenfinale nächstverwandt. Mit voller Macht bricht verhaltener Schmerz durch in dem Forteteil des Taktes 9. Die Wiederholung mit den Zweiunddreißigsteln im Diskant steigert ihn auf das Äußerste. Zweieinhalb wundersame Epilogtakte singen ihn zur Ruh. Gewaltsam reißt sich in dem so unendlich vielsagenden c-moll-Lauf des Schlußtaktes der Komponist von dem, was war.
Mit ihrer Satzfolge
- Präludium c-moll
- D-dur-Liedsatz — Allegro
- B-dur-Szene — Piu Allegro
- Postludium c-moll
ist die c-moll-Fantasie nicht freies Sichergehen und Verströmen, sondern ein wohlgegliederter Organismus. In seinem geschlossenen Gefühlsablauf kann er recht wohl für sich allein, d. h. ohne die Sonate, bestehen. Mozart hat, wie Nissen angibt, denn auch 1789 in Leipzig die Fantasie ohne die Sonate gespielt und mit den Variationen über La Belle Françoise beschlossen. Andererseits bestehen, wie die Analyse ergab, deutliche Bindungen, sogar thematischer Art zur Sonate. Man wird nicht fehlgehen, sich die Entstehung der jüngeren Fantasie ähnlich zu denken wie die des Präludiums zur großen C-dur-Fuge, d.h. bei der Niederschrift der c-moll-Sonate werden sich die Gedanken zur Fantasie eingestellt haben. Daher einerseits die thematischen Bezüge, andererseits die Verschiedenheit der Ausdrucksmittel. Wohl mag Mozart ursprünglich die Absicht vorgeschwebt haben, der Sonate eine freie kontrastierende Einleitung vorzuschalten. Doch wuchs unter seinen Händen diese Fantasie über die dienende Rolle eines Präludiums hinaus und wurde zu einem in sich geschlossenen Kreis. Sonate und Fantasie sind somit ein Doppelgestirn, von dem jeder Einzelstern sich getrennt behaupten kann.
Im Grunde genommen stellt die Fantasie eine neue Lösung desselben Problems dar wie die Sonate, eben die Lösung von 1785 gegenüber der älteren sonatischen. In beiden Fällen steht der Widerstreit von Wunsch und Versagung zur Frage. Die Sonate bedient sich hierzu des herkömmlichen Kontrasts des ersten und zweiten Themas sowie des weiteren Kontrasts zwischen Mittelsatz und Ecksätzen. Die Fantasie verwendet neue Mittel. Sie kontrastiert sonatische Elemente (Expositionscharakter von Teil III, Durchführungsstil von Teil I und V) mit Liedformen (Teil II und IV), durchweht sie mit dem Atem der Opera seria und schließt sie zu sinnvollem Ganzen zusammen: Die beiden Hauptkörper der liedhaften
Verdichtungen mit den von ihnen ausgelösten Gefühlsausbrüchen — St. Foix nennt sie „Stürme“ — sind eingebettet in die unvergleichliche Rahmung des noch hochfliegenden Präludiums und des die Tragik besiegelnden knapp bemessenen Postludiums.
Angesichts der enormen Schöpferleistung hat die Frage nach den Ahnherrn nur geringe Bedeutung. R. Haas, Augsburger Mozart-Buch 1941, wird der Hinweis verdankt, daß das Ausgangsthema abstammt von dem Adagiothema im 3. Klavierkonzert von Phil. Em. Bach aus dem Jahre 1737 bzw. 1745. Aber auch der Geist der Opera seria und die Tragik Glucks haben das Werk berührt. Es bedurfte eines Mozart, um die mannigfaltigen Anregungen und Formelemente zu einem aus größten Gefühlstiefen gespeisten Großwerk zu verschmelzen. Für ihre Zeit war die Fantasie mit ihrem großzügigen Gebrauch der Enharmonik und Chromatik eine revolutionäre Tat. Die Niederschrift verzichtet für den größten Teil des Werkes bewußt auf tonartliche Vorzeichen! St. Foix ruft angesichts dieses Werkes aus „Quel miracle! Un mystere!“ H. Schwartz, der in der Neuen Musikzeitung Jahrgang 1911 gute Hinweise für die pianistische Wiedergabe veröffentlicht hat, sieht in dieser Fantasie eine erfüllte Idealform. Paumgartner erblickt in ihrer pathetischen Intensität den Durchbruch zum Subjektivismus Beethovens.
Die Lösung des Rätsels der c-moll-Sonate macht auch die Frage von St. Foix nach dem Urgrund der Fantasie, dem „unbekannten dessous psychologique“ gegenstandslos. Wie bei der a-moll- und A-dur-Sonate hat Mozart sein Geheimnis anderthalb Jahrhunderte lang zu hüten vermocht.
Zitiert aus
Hanns Dennerlein
„Der unbekannte Mozart
Die Welt seiner Klavierwerke“
Seiten 206-209
Leipzig 1955