Was ist Kitsch?
Milan Kundera über Kitsch
In seinen Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ hat Milan Kundera einen Essay eingefügt, überschrieben „Der lange Marsch“, in dem er seine an Hermann Broch angelehnte Auffassung, was für ihn Kitsch sei, erläutert und in Abschnitt 13 des Essays provozierend definiert:
Die Quelle des Kitsches ist das kategorische Einverständnis mit dem Sein.
Es geht ihm also nicht in erster Linie um das, was man in den „Schönen Künsten“ als „Kitsch und Krempel“ bezeichnet, sondern um den Kitsch von menschlichen Mythen, die als kollektive Intentionalität (Searle) die Grundlage jeder Gesellschaftsordnung bilden.
Seit der Französischen Revolution nennt sich die eine Hälfte Europas Linke, während die andere sich die Bezeichnung Rechte erworben hat. Es ist nahezu unmöglich, den einen oder den anderen Begriff aufgrund irgendwelcher theoretischer Prinzipien, auf die er sich stützte, zu definieren. Das ist nicht weiter verwunderlich: politische Bewegungen beruhen nicht auf rationalen Haltungen, sondern auf Vorstellungen, Bildern, Wörtern und Archetypen, die als Ganzes diesen oder jenen politischen Kitsch bilden.
Vorstellungen, Bilder, Wörter und Archetypen aber sind nichts anderes als Mythen, deren profanes Konstruktionsprinzip durch den als Gaudi erfundenen Mythos „Bielefeld gibt es nicht“ sinnfällig vorgeführt wird. Es ist das romantisch verklärte „Herz“, das sich sehnt im Takt der „Marschmusik für Mäuse“ (ab Seite 339 des verlinkten Kapitels „Die Moral“ aus „Bauplan für eine Seele“ von Dietrich Dörner) in eine unausweichlich (weil Naturgesetz) bessere Zukunft zu schreiten, das solche Mythen bastelt. Kundera meint
Wenn das Herz spricht, ziemt es sich nicht, daß der Verstand etwas dagegen einwendet…. Im Reich des Kitsches herrscht die Diktatur des Herzens. … Die Verbrüderung aller Menschen dieser Welt wird nur durch den Kitsch zu begründen sein. … Der Kitsch ist eine spanische Wand, hinter der sich der Tod verbirgt. Noch bevor man uns vergessen wird, werden wir in Kitsch verwandelt. Der Kitsch ist die Umsteigestation zwischen dem Sein und dem Vergessen.
In seinem Buch „Die Kunst des Romans“: ZWEITER TEIL Gespräch über die Kunst des Romans führt er seine Intentionen näher aus, einen scheinbar gattungsfremden Essay in einen Roman einzufügen:
C. S.: Aber oft sind Ihre Meditationen an keine Figur gebunden: die musikwissenschaftlichen Reflexionen in Das Buch vom Lachen und Vergessen oder Ihre Betrachtungen über den Tod von Stalins Sohn in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins …
M. K.: Das stimmt. Ich greife ab und zu gern direkt ein, als Autor, als ich selbst. In dem Fall hängt alles vom Ton ab. Vom ersten Wort an hat meine Reflexion einen spielerischen, ironischen, provozierenden, experimentellen oder fragenden Ton. Der ganze Sechste Teil von Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins („Der große Marsch“) ist ein Essay über den Kitsch mit der Hauptthese: »Der Kitsch ist die absolute Negation der Scheiße.« Diese ganze Meditation über den Kitsch hat für mich die allergrößte Bedeutung, dahinter stecken viele Reflexionen, Erfahrungen, Studien, sogar Leidenschaft, aber der Ton ist nie ernst: er ist provozierend. Dieser Essay ist außerhalb des Romans undenkbar; er ist das, was ich einen »spezifisch romanesken Essay« nenne.
In seinem Buch „Die Kunst des Romans: SECHSTER TEIL Fünfundsechzig Wörter“ definiert er das Wort „Kitsch“ wie folgt
KITSCH. Als ich Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins schrieb, war ich etwas unsicher, weil ich das Wort »Kitsch« zu einem der Schlüsselwörter des Romans gemacht hatte. Dieses Wort war nämlich in Frankreich noch vor kurzem fast unbekannt oder aber in einer sehr eingeschränkten Bedeutung bekannt. In der französischen Fassung des berühmten Essays von Broch ist das Wort »Kitsch« mit art de pacotille übersetzt. Ein Sinnfehler, denn Broch legt dar, daß Kitsch etwas anderes ist als bloß ein geschmackloses Werk. Es gibt eine kitschige Einstellung. Kitschiges Verhalten. Das Bedürfnis nach Kitsch des Kitschmenschen: es ist das Bedürfnis, sich im Spiegel der beschönigenden Lüge zu betrachten und sich mit gerührter Befriedigung darin zu erkennen. Broch zufolge ist der Kitsch historisch mit der empfindsamen Romantik des 19. Jahrhunderts verknüpft. Da das Jahrhundert in Deutschland und in Zentraleuropa viel romantischer (und viel weniger realistisch) war als anderswo, hat sich der Kitsch dort maßlos ausgebreitet; dort ist das Wort Kitsch auch entstanden, ist es noch immer geläufig. Für uns in Prag war der Kitsch der Hauptfeind der Kunst. Nicht so in Frankreich. Hier wird der wahren Kunst die Unterhaltung entgegengesetzt. Großer Kunst die leichte, die Kleinkunst. Aber was mich angeht, mir sind Agatha Christies Kriminalromane nie auf die Nerven gegangen! Dagegen Tschaikowski, Rachmaninow, Horowitz am Klavier, die großen Hollywoodfilme, Kramer gegen Kramer, Doktor Schiwago (o armer Pasternak!), das hasse ich zutiefst, aufrichtig. Und mich reizt zunehmend der Geist des Kitschs in den Werken, die formal modernistisch sein wollen. (Ich füge hinzu: Nietzsches Abneigung gegen Victor Hugos »schöne Worte« und seine »Prunkmäntel« war die Abneigung gegen den Kitsch avant la lettre.)
In dessen SIEBTEN TEIL, dem Schluss der Jerusalemer Rede sagt er:
Etwa achtzig Jahre nachdem Flaubert seine Emma Bovary erdacht hat, in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts, sollte ein anderer großer Romancier, Hermann Broch, von der heroischen Anstrengung des modernen Romans sprechen, der sich gegen die Woge des Kitschs stemmt, am Ende aber von ihr niedergeschmettert wird. Das Wort Kitsch bezeichnet die Einstellung eines Menschen, der um jeden Preis und möglichst vielen gefallen will. Um zu gefallen, muß man bestätigen, was alle hören wollen, muß man die Gemeinplätze bedienen. Kitsch, das ist die Übersetzung der Dummheit von Gemeinplätzen in die Sprache der Schönheit und Emotion. Er bringt uns zu Tränen der Rührung über uns selbst, über die Banalitäten, die wir denken und fühlen. Heute, nach fünfzig Jahren, wird Brochs Satz noch wahrer. In Anbetracht der zwingenden Notwendigkeit, zu gefallen und auf diese Weise größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen, ist die Ästhetik der Massenmedien zwangsläufig zur Ästhetik des Kitschs geworden, und je weiter die Massenmedien in unser ganzes Leben eindringen und es erfassen, um so mehr wird der Kitsch unsere alltägliche Ästhetik und Moral. Bis vor kurzem hieß Modernismus eine nonkonformistische Revolte gegen Gemeinplätze und Kitsch. Heute wird Modernität mit der ungeheuren Vitalität der Massenmedien verwechselt, und modern sein heißt, sich wahnsinnig anstrengen, um zeitgemäß zu sein, konform zu sein, noch konformer als die Konformisten. Die Modernität hat das Gewand des Kitschs angelegt.
Die Agelasten, das Nicht-Denken der Gemeinplätze, der Kitsch sind ein und derselbe dreiköpfige Feind der Kunst, die als Echo auf Gottes Lachen entstand und diesen faszinierenden imaginären Raum zu schaffen vermochte, in dem niemand im Besitz der Wahrheit ist und in dem jeder das Recht hat, verstanden zu werden. Dieser imaginäre Raum entstand mit dem modernen Europa, er ist das Bild von Europa oder zumindest unser Traum von Europa, ein so manches Mal verratener Traum, aber dennoch stark genug, um uns alle in der Bruderschaft zu vereinen, die weit über unseren kleinen europäischen Kontinent hinausreicht. Doch wir wissen, daß die Welt, in der das Individuum geachtet wird (die imaginäre Welt des Romans und die wirkliche Welt Europas), zart und vergänglich ist. Am Horizont sieht man Heerscharen von Agelasten auf uns lauern. Und ausgerechnet in dieser Zeit eines nicht erklärten, permanenten Krieges, in dieser Stadt mit ihrem so dramatischen und grausamen Schicksal, habe ich mich entschlossen, nur über den Roman zu sprechen. Sie haben gewiß verstanden, daß ich damit nicht den sogenannten ernsten Fragen ausweichen wollte. Denn auch wenn mir die europäische Kultur bedroht erscheint, wenn sie von außen und innen in ihrem Kostbarsten bedroht ist, ihrer Achtung vor dem Individuum, der Achtung vor der Originalität seines Denkens und vor seinem Recht auf ein unantastbares Privatleben, dann, so scheint mir, ist diese kostbare Essenz des europäischen Geistes in der Geschichte des Romans, in der Weisheit des Romans wie in einem Silberkästchen aufgehoben. (Hervorhebung durch mich) Dieser Weisheit wollte ich meine Dankesrede widmen. Doch es ist Zeit, zum Ende zu kommen. Ich war drauf und dran, außer acht zu lassen, daß Gott lacht, wenn er mich denken sieht.
Hinter dem Symbol verbirgt sich ein Link zur PDF »Der Lange Marsch«, dort kann man nachlesen, was vielleicht nur der Ostblockerfahrene und Mythenherätiker in seiner ganzen Tragweite nachvollziehen kann.
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