Louis-Claude Daquin: Livre de Noëls (Weihnachtsliederbuch)
Alternativer Titel:
Nouveau Livre de Noëls pour l’Orgue et le Clavecin, dont la plûpart peuvent s’exécuter sur les Violons, Flutes, Hautbois etc.
eingespielt mit Samples der historischen Orgel (1627-2000) der Kathedrale Notre-Dame du Bourguet in Forcalquier (Alpes-de-Haute-Provence, Frankreich).
Die Reihenfolge der zwölf französischen Weihnachtslieder im der YouTube-Playlist (siehe oben) und ihre Titel:
- I. Noël, sur les jeux d’Anches sans tremblant: «À la venuë de Noël» (Weihnachten kommt)
- II. Noël, en dialogue, Duo, Trio, sur le cornet de récit, les tierces du positif et la pédalle de Flûte: «Or nous dites Marie» (Nun sag uns, Maria)
- III. Noël en Musette, en Dialogue, et en Duo: «Une bergère jolie» (Eine hübsche Schäferin)
- IV. Noël en Duo, sur les jeux d’Anches, sans tremblant: «Noël, cette journée» (Weihnachten, an diesem Tag)
- V. Noël en Duo: «Je me suis levé»/«Ô jour glorieux» (Ich bin aufgestanden/O herrlicher Tag)
- VI. Noël, sur les jeux d’Anches, sans tremblant, et en Duo: «Qu’Adam fut un pauvre homme» (Der Adam war ein armer Mann)
- VII. Noël, en Trio et en Dialogue, le cornet de récit de la main droitte, la Tierce du Positif de la main gauche: «Chrétiens qui suivez l’Église» (Christen, die der Kirche folgen)
- VIII. Noël Étranger, sur les jeux d’anches sans tremblant et en Duo: «ausländisches Lied» (wahrscheinlich italienisch)
- IX. Noël, sur les Flûtes: «Noël pour l’amour de Marie» & «Chantons, je vous prie» („Noël für Maria“ & „Lasst uns singen“)
- X. Noël, Grand jeu et Duo: «Quand Dieu naquit à Noël»/«Bon Joseph, écoutez-moi» („Als das Christkind geboren wurde“/„Guter Joseph, hör mir zu“)
- XI. Noël, en Récit en Taille, sur la Tierce du Positif, avec la Pédalle de Flûte, et en Duo: «Une jeune Pucelle» (Eine Jungfrau reinen Herzens)
- XII. Noël Suisse, Grand jeu, et Duo: «Il est un p’tit l’ange»/«Ô Dieu de clémence» („Er ist ein kleiner Engel“/„O Gott der Gnade“). Weinachtslied aus der Schweiz
Louis-Claude Daquin wurde in Paris in eine Familie mit verhältnismäßig guten Beziehungen zu höheren Kreisen hineingeboren. Mütterlicherseits war er mit Rabelais verwandt, väterlicherseits mit dem Rabbi von Avignon (der vor seinem Tod im Jahre 1650 zum Christentum konvertiert war). Sein Großonkel war einer der Leibärzte Ludwigs XIV. und ebenfalls ein Berater des Königs. Sein Vater war ein Maler, der weit herumreiste, jedoch geschäftlich wenig Erfolg hatte. Louis-Claude war eines von fünf Kindern, allerdings das einzige, das das Erwachsenenalter erreichte. Wenig in seiner Herkunft schien auf eine Karriere als Musiker hinzudeuten, aber Daquin zeigte frühreifes Talent auf dem Manual schon als sehr kleiner Junge; ein Kaplan der Sainte-Chapelle erteilte ihm einige erste Musikstunden und er erhielt informellen Unterricht in Komposition von Nicolas Bernier. Im Alter von sechs Jahren soll er dem König selbst vorgespielt haben: Der Dauphin sagte voraus, daß er „der führende Mann seines Zeitalters“ werden würde; mit acht Jahren dirigierte er (unter Berniers Anleitung) eine Aufführung seines eigenen Beatus vir für großen Chor und Orchester in der Sainte-Chapelle.
Seine Kunstfertigkeit auf dem Manual brachte ihm eine Reihe von Posten ein: 1706 wurde er Organist bei den Hospitaliers de St. Antoine und Assistent von Marin de la Guerre an der Sainte-Chapelle. Seinen ersten Erfolg als Erwachsener hatte er im Jahre 1727, als er Rameau in einem aufwendigen Wettbewerb schlug, um Organist an St. Paul zu werden. Louis Marchand hörte ihn dort spielen und sie wurden Freunde. Als Marchand im Jahre 1732 im Sterben lag, soll er zu seiner Orgel in Les Cordeliers gesagt haben: „Lebwohl, geliebte Witwe: nur Daquin ist deiner würdig.“ Daquin wurde dann auch sein Nachfolger. Den krönenden Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn erreichte er 1739, als er zu einem der persönlichen Organisten des Königs ernannt wurde. Bei seiner ersten Aufführung in dieser Funktion „übertraf [er] sich selbst und erstaunte den ganzen Hof“, laut dem Abbé de Fontenay, und brachte den König dazu, ihm seine persönlichen Komplimente auszusprechen und nicht weniger als eine Viertelstunde damit zu verbringen, das Wunder mit dem Comte d’Eu (der Daquins Förderer werden sollte) zu diskutieren. Im Jahre 1755 wurde er Organist an Notre Dame.
Das, was wir über Daquins Leben und seinen Charakter wissen, hängt sehr von seinem Sohn ab, der Briefe über führende Persönlichkeiten seiner Zeit sammelte und veröffentlichte. Wenn man seinen Biographen Glauben schenken kann, war Daquin ein Mann einfachen Geschmacks, untadeliger Integrität, großer Frömmigkeit und eines unabhängigen Geistes, der über jedem Ehrgeiz und geschäftlichem Interesse stand, Ruhm erlangte, ohne danach zu streben, und die Kunst um ihrer selbst willen liebte. Selbst zu seinem größten Rivalen, Calvière, hatte er ein gutes Verhältnis. Wie wörtlich man solche Hagiographie nehmen sollte, sei dem eigenen Urteil überlassen, er war jedoch zweifellos auf dem Manual sehr geschickt. Er wurde als der beste Improvisator seiner Zeit anerkannt — und gewann sogar den Beifall von Rameau. Seine Gütezeichen waren die Präzision seines Vortrags und seine Fähigkeit, beide Hände gleichberechtigt zu behandeln. Er spielte bis zu seinem Lebensende weiter: Gemäß Sébastien Merlier in seinem Tableau de Paris versetzte Daquin nur drei Wochen vor seinem Tod eine große Menge mit einer Improvisation über Iudex crederis in Begeisterung, und sein Vortrag „flößte ihren Herzen solch lebhafte Eindrücke ein, daß alle erbleichten“.
Es wird überliefert, daß Daquin neben seiner Tastenmusik auch verschiedene Chor- und Orchesterwerke komponierte, es blieben jedoch nur zwei Werke erhalten. Das erste (von 1735) ist ein Band mit Cembalosuiten, die seiner Schülerin Mlle de Soubise gewidmet sind, und zu denen, innerhalb einer Reihe virtuoser Paradestücke, Nachahmungen eines Kuckucks und eines Sturms gehören. Das zweite (von ca. 1740) ist die Sammlung von zwölf Noëls, auf denen sein Ruhm vorwiegend beruht. Sie waren dem Comte d’Eu gewidmet (Louis-Auguste de Bourbon, Prince de Dombes, Sohn des Herzogs von Maine und eine führende Persönlichkeit bei Hofe). Er war für Daquin ein wichtiger Förderer, dessen Großzügigkeit, laut seinen Biographen, den Komponisten später davor bewahrte, als armer Mann zu sterben. Sowohl die Cembalosuiten als auch die Noëls bringen den Gegensatz zum Vorschein, in dem Daquin zu seinen unmittelbaren Vorgängern, Lalande, Charpentier, Couperin und Rameau, steht. Er kümmerte sich weniger um Struktur oder Form, um Modulation oder echten Kontrapunkt, und zielte eher auf bildliche Direktheit und Virtuosität um ihrer selbst willen ab. Seine Fähigkeit, eine Melodie in ihre einzelnen Fragmente zu zerlegen und diese in blendender Passagen-Arbeit zu entwickeln, ohne die ursprüngliche Melodie aus den Augen zu verlieren, war unübertroffen. Die Form des Noël paßte perfekt zu seinem besonderen Können.
Sammlungen von Weihnachtsversen (Noëls), einige davon mit Musik, begannen im 15. Jahrhundert in Frankreich zu erscheinen und fanden im 16. Jahrhundert weite Verbreitung. Noëls — Weihnachtsverse in regionalen Dialekten — hatten seit dem Mittelalter in der Weihnachtsmesse eine Rolle gespielt. Im Laufe des 17. Jahrhunderts begannen Organisten, sie als Grundlage erweiterter Improvisationen zu gebrauchen und damit die freie Zeit vor Mitternacht auszufüllen. Instrumentale und Vokalbearbeitungen von Weihnachtsliedern wurden ebenfalls verwendet. Die erste noch erhaltene Sammlung von Variationen für Orgel stammt von Nicolas-Antoine Lebègue (1676), der tatsächlich der Begründer dieses Genres war; andere von Nicolas Gigault (1682), André Raison (1714) und Pierre Dandrieu (1720) folgten. Nach Daquin gab es weitere Reihen von Michel Corrette (1753) und Claude Balbastre (1783). In seinem unentbehrlichen Buch La Musique d’orgue français de Jehan Titelouze à Jehan Alain (Paris, 1949) bemerkt Norbert Dufourcq: „Das Noël mit Variationen erforderte ein besonderes Geschick auf dem Manual. Nicht gerade jeder konnte es sich aneignen. Es ging nicht darum, Originalität zu beweisen. Es ging nur um den Geist—und die Fingerarbeit. Viele Franzosen jener Zeit besaßen beides. Das ist der Grund, warum sie frühe Meister in dieser gewandten Kunst waren, die vom echten französischen Orgelstil weit entfernt war und an beschreibende Musik grenzte … die Noëls eines Pierre Dandrieu, eines Michel Corrette, oder eines Dornel und eines Daquin, sind Impressionen in frischen Farben, Bilder mit klaren Umrissen und haben unseres Wissens keine Entsprechung im gesamten Korpus der Orgelmusik.“ Wie Jean-Jacques Rousseau in seinem Dictionary von 1768 erklärte, „sollten [Noëls] einen rustikalen und pastoralen Charakter haben, der der Schlichtheit der Worte und der Schäfer entspricht, die sie gesungen haben sollen, als sie Christus in der Krippe huldigten“. Daquin, schließt Dufourcq, war „der König der Noëlisten“.
Auf dem Titelblatt werden Daquins Noëls als für „Orgel und Cembalo, von denen die meisten auf Violinen, Flöten, Oboen usw. gespielt werden könnten“ beschrieben. Es besteht kein Zweifel, daß sie im Hinblick auf den Wohlklang der französischen klassischen Orgel geschrieben wurden, viele konnten jedoch auf einem oder zwei Cembalos gespielt werden, und die einfacheren auf Kombinationen anderer Instrumente. Fast alle Melodien sind bereits aus anderen Quellen bekannt, allerdings oft mit unterschiedlichen Texten. In seiner Ausgabe von 1983 hat Christopher Hogwood alle außer einer unverbindlich mit einem Titel versehen, bemerkt jedoch, daß wir zu wenig wissen, um irgendeine andere als die weiteste programmatische Bedeutung in die Vertonungen hineinlesen zu können. Die Stimmung variiert von der Kühnheit und Brillanz der Nr. I zur Zartheit der Nr. VII (mit ihrer munteren Melodie über einem chromatischen Baß) und zum abschließenden, überwältigenden Gewicht der Nr. XII, mit ihrem Einsatz der großen pédale de trompette.
Viele der Noëls verwenden eine kumulative Variationstechnik, in der die Figurierung im Laufe des Stückes zunehmend schneller wird und einen Effekt immer größerer Brillanz erzeugt. Überwältigende Echoeffekte, wie in den Nrn. I, VI und X, werden durch Springen von einem Manual zum anderen (grand orgue, récit, écho) erzielt. Die Pedalführung in den Nrn. II und IX deutet einen großen Umfang, ähnlich dem der Viola da gamba, an; darauf stellt man sich ein, indem man die 1,22m hohe flûte allein verwendet.
Die französische Orgeltradition
Der erste Nachweis für eine Orgel in Frankreich geht auf das 8. Jahrhundert zurück. Bis zum 10. Jahrhundert war Rheims ein Zentrum für hervorragende französische Organisten. Illustrationen in Manuskripten deuten an, daß in den darauffolgenden Jahrhunderten die Orgel eine zentrale Rolle in der französischen Kirchenmusik spielte. Im allgemeinen schreibt man Guillaume de Machaut zu, daß er der erste war, der (im 14. Jahrhundert) die Orgel als „den König der Instrumente“ bezeichnete. Die Orgeln begannen sehr groß und kunstvoll zu werden: Die Orgeln in Amiens (1429), Rheims (1487) und Straßburg (1489) hatten alle über zweitausend Pfeifen. Bis zum 17. Jahrhundert war die große tonale Vielfalt kodifiziert worden und wich einer bemerkenswerten Beständigkeit im Design und der Registrierung, die bis zur Revolution andauerte. Diese Beständigkeit war in Deutschland und Nordeuropa einmalig. Seite an Seite mit einem gefestigten Schema für Orgeldesign gab es auch eine deutlich bestimmte Schule des Vortrags, die von einigen wenigen Schlüsselfiguren vertreten wurde: Eustache de Caurroy (dessen Fantasien von ca. 1610 den Grundstein für die Französische Schule legten) an der Sainte-Chapelle, Jean Titelouze (1563–1633) in Rouen, André Raison (1646–1721) in Nanterre und Nicolas de Grigny (1671–1703) in Rheims, dessen Livre d’Orgue, das Bach kannte und nachahmte, als Zusammenfassung der Schule angesehen werden kann.
Den Kern des unverwechselbaren Charakters der französischen klassischen Tradition bildet das plein jeu, das reichhaltige und volle Gefüge, das sich aus dem ergab, was Fenner Douglass als „die kontrollierte Brillanz von Mischungen, die weder schrill noch durchdringend waren“, bezeichnete. Es wird von anderen tonalen Gruppen, die methodisch angeordnet sind, und insbesondere von auffälligen Schnarrwerktönen ergänzt, den jeux d’anches, einschließlich der trompette in voller Länge, der cromorne und der voix humaine. Die beliebtesten Strukturen waren das jeu de tierce und das cornet (die um Flötenregister, die eine Terz und eine Quinte in der Skala ertönen lassen, aufgebaut sind).