J. S. Bach: Fantasie und Fuge g-moll BWV 542

Entstanden nach 1720 in Köthen, zumindest was die Entstehung des Fuge betrifft, und zwar zum Zweck der Bewerbung um die Organistenstelle an der Arp-Schnitger-Orgel in St. Jacobi, Hamburg, im Jahr 1720.

  1. 00:00 Fantasie
  2. 04:44 Fuge

Ich habe dieses Orgelwerk mit Samples der Rieger-Orgel im Konzerthaus Wiens eingespielt.

Zur Entstehungsgeschichte dieses Werkes und über den Bezug von Inhalt und Form zu Bachs Biografie:

Das Paar „Fantasie (Präludium) und Fuge in g-moll“ (BWV 542) ist lediglich in Abschriften überliefert – meist sogar getrennt. Im allgemeinen bringt man (vor allem aufgrund einer Notiz bei Mattheson) die Fuge mit Bachs – erfolgloser – Bewerbung um die Organistenstelle an der Arp-Schnitger-Orgel in St. Jacobi, Hamburg, im Jahr 1720 in Verbindung (siehe unten). Da Bach dort vor dem Magistrat der Stadt und dem großen niederländischen Meister Jan Adam Reinckenmehr als zwei Stunden lang“ (wie die Quellen bezeugen) vorzuspielen hatte, nimmt man an, dass Bach ihm mit dem Thema der Fuge, das auf ein bekanntes niederländisches Volkslied zurückgeht, seine Reverenz erweisen wollte. In Köthen, wo Bach eine Orgel mit dem notwendigen Manualumfang bis d’’’ zur Verfügung stand, habe er die Fuge dann „künstlich zu Papier gebracht“, so Mattheson.
Auch die Fantasie, in manchen Abschriften Präludium genannt, schlägt mit ihren ausgedehnten rezitativischen Abschnitten voll leidenschaftlichem Ausdruck typisch norddeutsche Töne an; allerdings geht sie weit hinaus über alles bisher Dagewesene, sowohl in Deklamation als auch im harmonischen Geflecht, das so sehr mit Modulationen und Chromatik durchsetzt ist, dass man meint, Musik des 19. Jahrhunderts zu hören. Entspannung von diesen ungeheuer dichten Harmoniestauungen bringen zwei kurze, eher lyrisch-meditative Zwischenspiele mit Terzmotivik im Fugato. Die Schlusskadenz wird eingeleitet durch zwei dicht aufeinander folgende Trugschlüsse; über einen verminderten Doppeldominant-Septakkord und eine chromatisch aufsteigende Baßlinie wird schließlich die Kadenz erreicht. Die meisten Handschriften verzeichnen einen Moll-Schlußakkord: Die Spannung soll sich erst in der Fuge lösen.
Erstaunlich ist die Geschlossenheit der Thematik in der Fantasie, die dadurch erreicht wird, dass alle Teilmotive bereits im Beginn enthalten sind. Anzumerken ist ferner, dass der Aufbau der Fantasie genau dem einer Rede entspricht. Es ist bekannt, dass Bach die Affektenlehre (die in der norddeutschen Orgelschule, z.B. auch bei Buxtehude, Grundlage vieler Orgelkompositionen war) kannte und vielfach anwandte; fraglich ist nur, ob er bewusst oder unbewusst seine Werke im Sinne einer Rede gestaltete.


Im Frühjahr 1720 begab sich der Fürst auf Rat seines Leibarztes nach Karlsbad, um dort zu kuren. Die Kapelle begleitete ihn, denn er wollte auf ihre Musik nicht verzichten, und zudem bot sich so die gute Möglichkeit, sich gewissermaßen öffentlich in ihrem Glanz zu sonnen, traf sich doch in dem Heilbad der Adel Europas. Johann Sebastian war unglücklich über die lange Trennung von seiner Familie, aber die Reisebegleitung gehörte zu seinen Dienstpflichten. Allerdings bot sich in Karlsbad die Möglichkeit, viele Kontakte zu knüpfen und sich anderen Fürsten bekannt zu machen, auch wenn es ihm bei Leopold so gut gefiel, dass er sich vorstellen konnte, sein Leben im Dienst dieses Fürsten zu verbringen.

Als er Mitte Juli nach Köthen zurückkehrte, fand er seine Familie in Trauer. Maria Barbara war ein paar Tage vor seiner Rückkehr gestorben und schon begraben. Er war untröstlich, mehr als zwölf Jahre hatten sie, wie Carl Philipp Emanuel in seinem Nekrolog schrieb, »eine vergnügliche Ehe geführet«. »Die erste Nachricht, dass sie krank gewesen und gestorben wäre, erhielt er beym Eintritte in sein Hauß.«

Wie hätte er diese schwere Zeit ohne Friedelena Margaretha, Maria Barbaras Schwester, die bei ihnen lebte, überstehen sollen? Sie kümmerte sich um den Haushalt und vor allem um die Kinder: die elfjährige Catharina Dorothea, den neunjährigen Wilhelm Friedemann, den sechsjährigen Carl Philipp Emanuel und den fünfjährigen Johann Gottfried Bernhard. Ein Dreivierteljahr zuvor war schon der kleine Leopold Augustus gestorben.
Köthen, die Stadt, in die sie mit so viel Hoffnung gekommen waren, in der sesshaft zu werden er sich bis eben noch vorgestellt hatte, wurde zum Gefängnis seiner Trauer. Plötzlich sah er ihre Provinzialität und Kleinlichkeit, das ewige Gezänk zwischen Lutheranern und Calvinisten, auch angeheizt durch den lutherischen Prediger Paulus Becker, der das Kartenspiel mehr liebte als den Gottesdienst und Trinkgelage am liebsten mit Hörner- und Trompetenmusik veranstaltete. Klagen, dass er seine kranke Schwägerin unversorgt ließ, gingen in der fürstlichen Kanzlei ebenso ein wie über das »hoffärtige« Wesen seiner Frau, die durch teure Kleider, Schmuck und aufwendige Frisuren auffiel. Zur Finanzierung dieser Lebenshaltung unterschlug er Kirchengelder.
In dieser Situation kam Johann Sebastian die Einladung nach Hamburg gelegen, ein Orgelkonzert in der Katharinenkirche zu geben. Da der Organist der Jacobikirche, Heinrich Friese, am 12. September gestorben war, stand die Möglichkeit im Raum, als Organist nach Hamburg zu gehen. Die Verlockung war umso größer als er inzwischen die Virtuosität besaß, um die Möglichkeiten des mächtigen Instruments auszuschöpfen.
Einige Kantaten von Johann Sebastian aus den Jahren 1711 bis 1714 beruhten auf Texten von Erdmann Neumeister, der inzwischen Hauptpastor von Sankt Jacobi in Hamburg war. In der Berufungskommission für die Jacobikirche wirkten auch der alte Reincken, Organist der Katharinenkirche, und dessen Schwiegersohn Andreas Kniller, der Organist der Petrikirche, mit. Ausgegangen war die Initiative sicherlich von Erdmann Neumeister, der zuvor in Weißenfels gewirkt hatte und sich einen Vertreter der mitteldeutschen Orgelschule an seiner Seite wünschte. Und da gab es keinen Besseren als Johann Sebastian Bach.
So reiste er Anfang November mit der Postkutsche nach Hamburg, um ein denkwürdiges Konzert in der Katharinenkirche zu geben. Dachte er an seine Jugend, an die Zeit in Lüneburg, an seine Besuche in Hamburg, als er diese herrliche Orgel spielte? Begonnen haben dürfte Bach sein Konzert in Hamburg mit der Fantasie und Fuge g-Moll (BWV 542), ein Werk von großer Vitalität, das des Menschen Ringen mit den Widrigkeiten der Existenz volltönend auskostet. Die Fantasie komponierte Johann Sebastian Bach streng nach den Mustern der Rhetorik, mit dem Wechsel von Rede und Gegenrede, wie in Hiobs Zwiesprache mit Gott. Lob und Tadel konzentrieren sich schließlich in einem Moll-Akkord und erzeugen eine Leidensspannung und Unsicherheit, die in der Fuge mit engelsgleicher Leichtigkeit aufgelöst wird, bis aus dem Widerstreit der Gefühle das Leben triumphiert. Die einfache Melodie eines niederländischen Volksliedes – eine Referenz an den gebürtigen Niederländer Reincken – setzt den Kontrapunkt zum Reigen des Todes. Und mitten im Stück fand Johann Sebastian sein Asyl, fernab allen Leids suchte er mit Tönen einen neuen Weg. Wieder nahm ihn die Musik auf, wieder ließ sie ihn allen Schmerz vergessen, es galt, die Harmonie der Welt in ihrer ganzen Vielfalt zum Klingen zu bringen. Unbeschwert war es nicht, nein, aber leicht. Im Spiel verliebte er sich mit aller Gewalt wieder in die Orgel und fühlte, wie sehr er sie vermisst hatte.
Der alte Meister Reinken, den Bachs Spiel ergriffen hatte, bat ihn, seine Komposition »An Wasserflüssen Babylon« zu spielen, und Johann Sebastian tat noch mehr. Er spielte »aus dem Stegreife, sehr weitläufig, fast eine halbe Stunde lang, auf verschiedene Art, so wie es ehedem die braven unter den Hamburgischen Organisten in den Sonnabends Vespern gewohnt gewesen waren«, und eroberte seine Zuhörer damit vollends. Nach dem Konzert trat der greise Reincken tief bewegt zu Johann Sebastian und sagte: »Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, dass sie in Ihnen noch lebet.« Spätestens nach diesem Konzert wollte man Johann Sebastian in Hamburg unbedingt haben und setzte ihn auf die Liste der Bewerber. Erdmann Neumeisters Kalkül schien aufzugehen. Aber die Regeln der Stellenbesetzung sahen vor, dass allen Bewerbern die Gelegenheit zum Vorspiel gegeben werden musste. Am 28. November, als die Orgelprobe der anderen Kandidaten in der Jacobikirche stattfand, war Johann Sebastian bereits wieder in Köthen, denn er hatte »den 23 Nov: nach seinen Fürsten reisen müssen«.

 

Klaus-Rüdiger Mai
Die Bachs
Eine deutsche Familie


Joachim Winkler über Bach, seine Musik und eine Analyse dieses Orgelwerks:

Video2 von BWV 542 habe ich ebenfalls mir Samples der Rieger-Orgel im Konzerthaus Wiens eingespielt.

Video3 und einen weiteres Video4 habe ich eingespielt mit Samples der historischen Orgel in Forcalquier,  zu hören.

Weiter Beiträge in diesem Blog zu BWV 542:

J. S. Bach: Fantasie und Fuge g-moll BWV 542 (Rieger-Orgel der Matthiaskirche in Budapest)

Das folgende Zitat aber nur nebenbei:

Der Theologe an sich, auch der angehende, neigt zum schwarzen Humor. Sogar Zynismus ist möglich, wenn auch eher unerwünscht. Aber auch der evangelische Kirchenmusiker, und ich habe in meinem Bekannten- und Freundeskreis einige davon, ist da nicht anders, wenn es darum geht, fromme Texte zu parodieren oder umzudeuten, eine erschöpfende Aufzählung ist mir nicht möglich, wenn doch, würde sie diesen Rahmen sprengen. Jeder kennt Bachs berühmte Feld-, Wald- und Wiesentoccata in d-moll, BWV 565, als „epidemische“, die dorische, BWV 538, dagegen als „notorische“, hätte Präludium (Phantasie) und Fuge g-moll, BWV 542, einen Text, so müßte der in der Fuge eine Taktlänge nach Beginn „nimm den Deckel ab, das Kaffeewasser kocht“ heißen. Soweit so brav. Aber die Trauerode auf das Ableben der Gemahlin Augusts des Starken, Christiane Eberhardine, Königin von Polen und Kurfürstin von Sachsen, BWV 198, mit dem erhabenen Textanfang „Laß Fürstin, laß noch einen Strahl . . .“ als Pinkelkantate zu bezeichnen, entbehrt durchaus nicht einer delikaten Frivolität. Bei den Katholiken nicht anders, da gibt es das Lied der Waschfrauen „Ich will dich lieben, meine Stärke“, den Hebammen – Boogie „Ihr Kinderlein kommet“, das Lied von dem hellblau gestrichenen Schwein „Himmelsau, licht und blau“ und, ich weiß nicht, wieviele andere noch, so auch die deutsche Nachdichtung (Schlesien, 19.Jh.) des uralten Hymnus „Ave stella maris“ in „Meerstern ich dich grüße“, da konnte schon mal „versehentlich“ ein Meerschwein daraus werden. Das aber nur nebenbei, …

 

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