Buxtehude: Chaconne e-moll BuxWV 160

in Vacha/Rhön

Seitdem ich das Zitat Hermann Hesses zur Passacaglia d-moll BuxWV 161 in seiner Erzählung „Demian“ gelesen habe, drängen sich mir immer, wenn ich ähnliche Werke Buxtehudes im Ostinato-Stil (Variationen über eine meist vier- oder achttaktige feste Basslinie, also Chaconne bzw. Passacaglia) höre, Jugenderinnerungen, m. a. W. Erinnerungen an die Traumzeit auf, an Träume, die man einst hatte und die man nun wieder entdeckt, für die man sich endlich Zeit nehmen kann. Was ich damit meine, kann am besten ein Zitat aus Hermann Hesses Morgenlandfahrt erklären (mehr kann ich zu diesem irrationalen Zeugs nichts sinnvoll sagen außer: die festgehaltene Basslinie der Passagaclia bzw, Chaconne stehen für meine einstigen Träume, die ich nun verbissen  in die Tat umzusetzen versuche). Aber nun das Zitat:


Von den Taten, die David getan hat

JETZT SIEHT WIEDER ALLES ANDERS AUS, UND ich weiß noch nicht, ist meine Sache dadurch eigentlich gefördert worden oder nicht, aber ich habe etwas erlebt, es ist mir etwas begegnet, was ich niemals erwartet – – – oder nein, hatte ich es nicht dennoch erwartet, hatte ich es nicht vorgefühlt, gehofft und ebensosehr gefürchtet? Ja, das hatte ich. Und doch bleibt es wunderbar und unwahrscheinlich genug.

Ich war manche Male, zwanzigmal oder mehr, zu den mir günstig scheinenden Stunden durch den Seilergraben gegangen und viele Male am Haus Nr. 69 a vorübergeschlendert, die letzten Male immer mit dem Gedanken: »Jetzt probiere ich es noch ein einziges Mal, und wenn es nichts ist, komme ich nie wieder.« Nun, ich kam dennoch immer wieder, und vorgestern abend ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Oh, und wie ist er in Erfüllung gegangen!

Als ich mich dem Hause näherte, in dessen graugrünem Bewurf ich nun schon jeden Sprung und Spalt kannte, hörte ich aus einem der oberen Fenster die Melodie eines kleinen Liedes oder Tanzes, eines Gassenhauers, mit den Lippen gepfiffen. Ich wußte noch nichts, aber ich horchte auf, die Töne mahnten mich, und irgendeine Erinnerung begann sich in mir aus dem Schlaf zu arbeiten. Es war eine banale Musik, aber es waren wunderbar süße, leicht und anmutig geatmete Töne, welche dieser Pfeifer mit seinen Lippen hervorbrachte, ungemein reinlich, wohlig und naturhaft anzuhören wie Vogeltöne. Ich stand und horchte, bezaubert und zugleich von innen her sonderbar bedrängt, ohne aber irgendeinen Gedanken dabei zu haben.

Oder wenn ich doch einen hatte, war es etwa der, das müsse ein sehr glücklicher und sehr liebenswerter Mensch sein, der auf diese Art zu pfeifen wisse. Manche Minuten stand ich gebannt auf der Gasse still und lauschte. Ein alter Mann ging vorbei, mit einem eingesunkenen Krankengesicht, der sah mich so stehen, horchte ebenfalls, nur einen Augenblick, dann lächelte er mir im Weitergehen verstehend zu, sein schöner weitsichtiger Greisenblick sagte etwa: »Bleib du nur stehen, Mann, so hört man nicht alle Tage pfeifen.« Der Blick des Alten hatte mir das Gemüt erhellt, es tat mir leid, daß er weiterging. Zugleich aber merkte ich in dieser Sekunde, daß ja dieses Pfeifen die Erfüllung all meiner Wünsche sei, daß der Pfeifende Leo sein müsse.

Es dämmerte schon, doch brannte noch in keinem Fenster Licht. Die Melodie mit ihren naiven Variationen war zu Ende, es wurde still. »Jetzt wird er oben Licht machen«, dachte ich, es blieb jedoch alles dunkel. Und jetzt hörte ich oben eine Tür gehen und hörte bald auch Schritte im Treppenhaus, das Haustor ging sachte auf, und es kam jemand herausgegangen, und sein Gang war von der gleichen Art wie vorher sein Pfeifen: leicht, spielerisch, aber straff, gesund und jugendlich. Es war ein nicht großer, aber sehr schlanker Mann mit bloßem Kopf, der da ging, und jetzt erkannte ihn mein Gefühl mit Sicherheit: es war Leo, nicht nur der Leo vom Adreßbuch, es war Leo selber, unser lieber Reisekamerad und Diener Leo, der damals, vor zehn oder mehr Jahren, uns durch sein Verlorengehen so sehr in Betrübnis und Verlegenheit gebracht hatte. Beinahe hätte ich im Augenblick der ersten Freude und Überraschung ihn angerufen. Und nun erinnerte ich mich auch, jetzt erst, daß ich sein Pfeifen ja auch damals, auf der Morgenlandfahrt, so viele Male gehört hatte.

Es waren die Töne von damals, und wie wunderlich anders klangen sie mir doch! Ein Wehgefühl ging mir wie ein Schnitt durchs Herz: O wie anders war alles seit damals geworden, der Himmel, die Luft, die Jahreszeiten, die Träume, der Schlaf, der Tag und die Nacht! Wie tief und wie schrecklich hatte sich alles für mich verändert, wenn mich der Ton eines Pfeifenden, der Takt eines bekannten Schrittes, nur durch die Erinnerung an das verlorene Einstmals, so im Innersten treffen, mir so wohl und so weh tun konnte!

Der Mann ging nahe an mir vorbei, elastisch und heiter trug er seinen bloßen Kopf auf bloßem Halse, der aus einem offenen blauen Hemd herauskam, hübsch und fröhlich wehte die Gestalt die abendliche Gasse hinab, kaum hörbar, auf dünnen Sandalen oder Turnschuhen. Ich folgte ihm, ohne irgendeine Absicht, wie hätte ich ihm nicht folgen sollen! Er ging die Gasse hinab, und wenn sein Schritt auch leicht und mühelos und jugendlich war, er war doch abendlich, er war vom selben Klang wie die Dämmerung, er war befreundet und eins mit der Stunde, mit den gedämpften Lauten vom Stadtinnern her, mit dem Halblicht der ersten Laternen, welche eben zu leuchten begannen.

In die kleinen Anlagen beim St.-Pauls-Tor bog er ein, verschwand zwischen den hohen runden Gebüschen, und ich beeilte mich, daß er mir nicht verlorengehe.

Da war er wieder, langsam schlenderte er unter den Fliederbüschen und Akazien hin. Der Weg schlängelte sich in zwei Schleifen durch das kleine Gehölz, ein paar Bänke stehen da am Rand des Rasens. Hier unter den Bäumen war es schon recht dunkel. Leo ging an der ersten Bank vorbei, es saß ein Liebespaar auf ihr, die nächste Bank war leer, hier setzte er sich, lehnte sich an, ließ den Kopf nach hinten hängen und schaute eine Weile in das Laub und zu den Wolken hinauf. Dann holte er aus einer Rocktasche eine kleine runde Dose heraus, eine Dose aus weißem Metall, stellte sie neben sich auf die Bank, schraubte den Deckel ab und begann langsam irgend etwas aus der Dose herauszufingern, das er in den Mund steckte und mit Behagen aß. Ich war indessen am Eingang des Gehölzes hin und her gegangen; jetzt näherte ich mich seiner Bank und setzte mich ans andere Ende. Er schaute auf, sah mir aus hellen grauen Augen ins Gesicht und aß weiter. Es waren getrocknete Früchte, ein paar Pflaumen und halbe Aprikosen. Er nahm sie eine um die andere mit zwei Fingern, drückte und tastete ein wenig an jeder, steckte sie in den Mund und kaute lange und genießend. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die letzte genommen und verzehrt hatte. Jetzt machte er die Dose wieder zu und steckte sie ein, lehnte sich zurück und streckte die Beine lang aus; ich sah jetzt, seine Stoffschuhe hatten Sohlen aus Seilgeflecht.

»Heute nacht wird es Regen geben«, sagte er plötzlich, ich wußte nicht ob zu mir oder zu sich selber.

»Es kann schon sein«, sagte ich etwas befangen, denn wenn er mich schon an Gestalt und Gang bisher nicht erkannt hatte, so konnte es doch sein, vielmehr ich erwartete es beinahe bestimmt, daß er mich jetzt an der Stimme wiedererkennen werde.

Aber nein, er erkannte mich keineswegs, auch nicht an der Stimme, und obwohl das meinem anfänglichen Wunsch entsprach, empfand ich dabei doch eine tiefe Enttäuschung. Er erkannte mich nicht. 

Während er selbst in zehn Jahren der gleiche geblieben und anscheinend gar nicht gealtert war, stand es mit mir anders, traurig anders.

»Sie können so schön pfeifen«, sagte ich, »ich habe es vorher gehört, drüben am Seilergraben. Es hat mir sehr gefallen. Ich bin nämlich früher Musiker gewesen.«

»Musiker?« sagte er freundlich. »Das ist ein schöner Beruf. Haben Sie ihn denn aufgegeben?«

»Ja, zeitweilig. Ich habe sogar meine Violine verkauft.«

»So? Das ist schade. Sind Sie in Not? Ich meine: sind Sie am Ende hungrig? Ich habe noch Essen zu Hause, ich habe auch ein paar Mark in der Tasche.«

»Ach nein«, sagte ich schnell, »so war es nicht gemeint. Ich bin in ganz guten Verhältnissen, ich habe mehr, als ich brauche. Aber ich danke schön, es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mich einladen wollten. Man trifft nicht so oft auf freundliche Menschen.«

»Meinen Sie? Nun, es mag sein. Die Menschen sind verschieden, oft sind sie recht sonderbar. Auch Sie sind sonderbar.«

»Ich? Warum denn?«

»Nun, wenn Sie Geld genug haben und doch Ihre Geige verkaufen! Haben Sie denn keine Freude mehr an der Musik?«

»O ja. Aber es kommt doch zuweilen vor, daß ein Mensch die Freude an etwas verliert, was ihm vorher lieb war. Es kommt vor, daß ein Musiker seine Geige verkauft oder an die Wand wirft, oder daß ein Maler alle seine Bilder eines Tages verbrennt. Haben Sie nie von so etwas gehört?«

»Ja, schon. Es ist dann aus Verzweiflung. Das kommt vor. Ich habe auch zwei gekannt, die sich selber umgebracht haben. Dumme Menschen gibt es, sie können einem leid tun. Manchen kann man eben nicht helfen. — Aber was tun Sie denn jetzt, wenn Sie Ihre Geige nicht mehr haben?«

»Ach, dies und jenes. Ich tue eigentlich nicht viel, ich bin nicht mehr jung, und ich bin auch oft krank. Warum sprechen Sie denn immer von dieser Geige? Es ist doch nicht so wichtig.«

»Von der Geige? Da habe ich an den König David gedacht.«

»Wie? An den König David? Was hat denn der damit zu tun?«

Ernst Josephson: David und Saul

Ernst Josephson: David und Saul

»Er ist auch Musiker gewesen. Als er ganz jung war, hat er dem König Saul Musik gemacht und hat ihm manchmal seine böse Laune weggespielt. Und nachher ist er selber König geworden, so ein großer sorgenvoller König mit allerlei Launen und Plagen. Er hat eine Krone getragen und hat Kriege geführt und alles das, und manche richtige Gemeinheiten hat er auch begangen, und ist sehr berühmt geworden. Aber wenn ich an seine Geschichte denke, dann ist das Schönste von allem der junge David mit seiner Harfe, und wie er dem armen Saul Musik gemacht hat, und ich finde es schade, daß er nachher König geworden ist. Er war viel glücklicher und hübscher, als er noch Musikant war.«

»Gewiß«, rief ich, etwas eifrig. »Gewiß war er damals jünger und hübscher und glücklicher. Aber der Mensch bleibt nicht ewig jung, und Ihr David wäre mit der Zeit älter und häßlicher und sorgenvoller geworden, auch wenn er Musikant geblieben wäre. Und dafür ist er der große David geworden, er hat seine Taten getan und hat seine Psalmen gedichtet. Das Leben ist doch nicht bloß ein Spiel!«

Leo erhob sich jetzt und grüßte.

»Es wird Nacht«, sagte er, »und es wird bald regnen. Ich weiß nicht mehr viel von den Taten, die David getan hat, und ob sie eigentlich groß waren. Und auch von seinen Psalmen weiß ich, offen gestanden, nicht mehr sehr viel. Ich möchte nichts gegen sie sagen. Aber daß das Leben nicht bloß ein Spiel sei, das beweist mir kein David. Gerade das ist es ja, das Leben, wenn es schön und glücklich ist: ein Spiel! Natürlich kann man auch alles mögliche andere aus ihm machen, eine Pflicht oder einen Krieg oder ein Gefängnis, aber es wird dadurch nicht hübscher. Auf Wiedersehen, es hat mich gefreut.«


Das ist das, was diese Musikstücke Buxtehudes in mir auslösen: die Heiterkeit des Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt, das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegeben, der Einheit zugehörig. Die festgehaltene Basslinie (oder der Fluss in Hermann Hesses Siddhartha wie auch bei Heraklit)  ist das Symbol für das ewig sich Verwandelnde und gleichzeitig das ewig Seiende. Worte können die Gefühle, die diese Chaconne in mir auslöst, nur unvollkommen ausdrücken, dem Verstand begreifbar machen. Ich, so sagt es der weise Diener Leo in Hermann Hesses „Morgenlandfahrt“, halte es mit Siddhartha, unsrem weisen Freund aus dem Osten, der einmal gesagt hat: „Die Worte tun dem geheimen Sinn nicht gut, es wird immer alles gleich ein wenig anders, ein wenig verfälscht, ein wenig närrisch – ja, und auch das ist gut, auch damit bin ich einverstanden, daß das, was eines Menschen Schatz und Weisheit ist, dem andern immer wie Narrheit klingt.


Schalom!


 

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