Alexander Borodin: Petite Suite für Klavier (1884/85)

Borodin schrieb eine viersätzige »Kleine Suite« für die belgische Gräfin de Mercy-Argenteau, die sich um die Verbreitung der russischen Musik hohe Verdienste erworben hatte, die ihn aber anscheinend nicht voll zufriedenstellte, weshalb er noch 3 Kompositionen der 70er Jahre hervorsucht und sie dem Zyklus anfügt. Das endgültige Werk, zu dem sich übrigens Liszt begeistert äußerte, besteht nun aus 7 farbigen Miniaturen (die Anfangszeiten in min:sec der einzelnen Stücke im Video sind vorangestellt) :

00:15 Im Kloster (Andante religioso, cis-Moll, 4/4)
06:18 Intermezzo (Tempo di minuetto, F-Dur, 3/4)
10:07 Mazurka (Allegro C-Dur, 3/4)
15:48 Mazurka (Allegretto, Des-Dur, 3/4)
16:26 Rêverie (Andante, Des-Dur, 4/4)
18:35 Serenade (Allegretto, Des-Dur, 6/8)
20:41 Nocturne (Andantino, Ges-Dur, 4/4)

Erhalten sind Korrekturabzüge mit einzelnen ursprünglich vorgesehenen Kommentaren: Ihr Inhalt stimmt zu dem ehemals geplanten Titel »Petit poème d’amour d’une jeune fille« (»Kleine Liebesgeschichte eines jungen Mädchens«). Ihnen zufolge beginnt das Mädchen im Intermezzo, vom »weltlichen Leben zu träumen«. Die zweite Mazurka illustriert des Mädchens Traum »vom Tanz und vom … Tänzer«, während die »Rêverie« selbst nur noch den letzteren zum Gegenstand hat,; »Neuartige, unbestimmte, doch quälend süße Empfindungen steigen auf.« Das Nocturne zeigt die Kleine vom »Traum, geliebt zu werden«, in Schlaf gewiegt. Auf diese Erläuterungen wurde später verzichtet; immerhin erfassen sie ja nur Teilaspekte der in der Musik enthaltenen Stimmungen, und von ihr ausgehenden Assoziationen. Besonders gilt das vom Eingangsstück Im Kloster. »Quasi campane« (»wie Glocken«) läuten die freistehenden Akkorde des Prologs die Suite ein — auf einen stereotypen »schwarzen« Baßton senken sich allmählich die oberen Register herab. Im Unterschied zu den bisherigen Glockenimitaten russischer Komponisten umspannt Borodin hier einen besonders weiten Raum und erreicht ein seltsames Vibrieren der Atmosphäre, das analoge Stellen bei Debussy vorwegnimmt (»La cathédrale engloutie«); der Eindruck des Glockentimbres wird sich verstärken, je länger man das Pedal zu halten versteht. In der Pause setzt »weich und mit Schlichtheit« eine dem russischen Melos abgelauschte Weise ein (für Borodin typisch: kein Folklorezitat!), die dann chorisch behandelt und bis zu echter Vierstimmigkeit geführt wird.

Ein nächster Abschnitt verleiht dem Gesang größeres Gewicht, indem sich nun dem tieferen Register immer mächtigere Akkordflächen aufschichten, bald sogar in orchestraler Breite Thema und Umkehrung gleichzeitig erscheinen. Spiegelbildlich folgen dann jener chorartige Teil und abschließend die Glockenepisode. — Die nächsten 3 Stücke tragen Tanzcharakter — man erinnere sich des ursprünglichen Kommentars: das Mädchen träumt vom »weltlichen Leben«. Das Intermezzo bedient sich der Gattung Menuett, führt den Hörer jedoch weniger in das höfische Milieu jenes Tanzes als vielmehr in das Lager der Polowzen (»Fürst Igor«) und gemahnt in rhythmischer Zeichnung und harmonischer Ausstattung mit reizvollen Dissonanzen und chromatisch gleitenden Mittelstimmen, die wechselnde Klangerwartungen auslösen, besonders an die Melodien der Kontschakowa (NB a). Daß Borodin früher auch Violoncello gespielt und häufig in Streichquartetten mitgewirkt hat, äußert sich unverkennbar in der oft strengen Vierstimmigkeit etlicher Episoden, so der kurzen, aber interessanten Mittelstrecke des Intermezzo. Auf einem langen Orgelpunkt (des) führt der Komponist die Stimmen derart, daß sich nie der ihm zugehörige Dreiklang ergibt — die Wirkung ist seltsam und neuartig (NB b).

Auf den ersten Blick scheint es gewagt, Stücke gleicher Bezeichnung nebeneinanderzustellen, doch unterscheiden sich beide Mazurken genügend voneinander: Während die erste das realistische Bild eines festlichen Balles entwirft, wendet sich die zweite nach innen und erzählt von der Gefühlswelt eines liebesfähigen und Liebe suchenden Menschen. Weich und ausdrucksvoll klingt die Melodie der Unterstimme, im 1. Takt begleitet von dem ungewöhnlichen, doch hier überaus lieblich wirkenden Zweiklang der Sekunde (NB a). Bemerkenswert die chromatisch absteigende Baßlinie, wenn die Melodie in den Diskant überwechselt — ein Vorzugsverfahren des Komponisten, das immer neue, schillernde und oft exotisch anmutende harmonische Färbungen erzeugt (NB b).

Zuletzt träumte das Mädchen ja nur noch »vom Tänzer« — also fällt der Mittelteil besonders innig aus; dann lassen die engschrittigen Unterstimmen mit ihren steten chromatischen Verschiebungen die Erregung schließlich bis zu lautem Jubel ansteigen. Harmonisch geradezu kühn kehrt abschließend die Anfangsweise zurück (wieder im Violoncelloregister).
Die Rêverie (»Träumerei«) ist das erste der nachträglich angefügten, schon früher entstandenen 3 Stücke und schildert das Aufkeimen bislang unbekannter, süßer Gefühle im Herzen des schlummernden Mädchen. Unter harmonischem Aspekt fällt die Vorliebe für den weich und zärtlich wirkenden Quintsextakkord auf; das Anfangsmotiv erinnert an das Wiegen einer Berceuse, die Melodie in ihrer schmelzenden Wärme und leichten Wehmut dann an die Frauenpartien der Novatoren-Opern, besonders an Borodins Jaroslawna (»Fürst Igor«).


Zwei nationale Folkloren prägen die Eigenart der Serenade, die von einem federnden Ostinatrhythmus umrahmt und fast ständig von ihm untermalt wird: Der l. Achttakter bringt eine spanisch gefärbte Melodie (NB a) mit stereotyper Baßfiguration, die absichtlich nicht auf der Тоnika (des) ruht, sondern sie umspielt — dadurch wird die Leichtigkeit des Themas erreicht. Der 2. Achttakter (NB b) ist eine orientalisch geprägte Weise mit unerwarteten Melismen, nun auf dem — ihrem Rhythmus angepaßten — Tonikagrundton; die typischen Ornamente verweisen zusammen mit Borodins spezifischer Harmonisierung auf die östliche Abkunft dieser Wendungen, die vollendet verschmelzen mit den so ganz andersartigen, südeuropäischen der ersten Melodie — ein Beispiel für des Komponisten Geschick und freizügige Folkloreauffassung.


Zart und innig wirkt das die Suite beschließende Nocturne, dessen Einleitung wieder eine typisch Borodinsche Initialdissonanz, einen Sekundakkord, aufweist. Eine Ruhe verströmende Monotonie mit geringfügigen würzigen Abweichungen verleiht dem Stück pikantes Kolorit; große Bedeutung kommt auch hier den beiden Vorzugstechniken des Komponisten zu — Ostinatofigurationen und chromatische Fortschreitungen in Mittel- und Unterstimmen. Gegen Ende tritt dann die Linke mit einem Melodiefragment hervor, bis die leichte Bewegung räumlich und dynamisch ausschwingt, im ppp — wie vom Schlaf überrascht — geradezu stehenbleibt: eine Lieblingspraxis der romantischen Genrestücke.

Christof Rüger,
in
Konzertbuch Klaviermusik A-Z. Christoph Rueger, Hrsg. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978.

Diese Interpretation der Petite Suite von Alexander Borodin habe ich mit Hilfe eines MIDI-Sequenzers und des virtuellen Klaviers „The Hammersmith Grand“ auf meinem PC erstellt.

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