Kollektive Kultur und individuelles Bewusstsein

Schlusskapitel  aus dem Buch Triumph des Bewusstseins: Die Evolution des menschlichen Geistes von Merlin Donald. Merlin Donalds brillantes Buch widerlegt die vorherrschenden Theorien derjenigen Naturwissenschaftler und Philosophen, die das menschliche Bewußtsein als Abfallprodukt der Evolution abtun. Für ihn sind es die Kultur und das neuronale System, die das menschliche Bewußtsein zu dem gemacht haben, was es ist. Genau dieser hybride Geist macht den evolutionären Vorsprung des Menschen aus.Die Fähigkeiten des Bewußtseins liefern den Schlüssel für die umwälzenden Entwicklungen, die der Mensch auf der Leiter der Evolution zurückgelegt hat.


Wie ist es zu erklären, daß unser Gehirn dem anderer Primaten so stark ähnelt und ihm doch so dramatisch überlegen ist? Warum stattet unser Hirn das Zentrum unseres Ichs mit so viel Autonomie und autobiographischem Vermögen aus? Donald zeigt die Vielschichtigkeit des Bewußtseins auf und erläutert, wie es sich auf der Grundlage der Kultur entwickeln konnte.
Für den Autor ist der menschliche Geist ein hybrides Produkt, in dem Materie, nämlich unser Gehirn, mit einem unsichtbaren symbolischen Gewebe, nämlich der Kultur, verwoben ist, woraus ein weit verzweigtes kognitives Netzwerk entsteht. Allein dieser hybride Charakter unseres Geistes ermöglichte es der menschlichen Spezies, die Grenzen zu überschreiten,denen die übrigen Säugetiere unterworfen sind.

Die Kohärenz des Bewußtseins:

 

Die Hierarchie des Bewusstseins

Das Bewußtsein war und ist treibende Kraft unserer kognitiven Entwicklung. Jeder Fortschritt in diesem Evolutionsprozeß gründete darauf, daß dasselbe Ensemble von grundlegenden Fähigkeiten erweitert und der Geist immer wieder umprogrammiert wurde, während das Gefüge der Kultur sich weiter verzweigte und verfeinerte. Das geistige Universum des Menschen differenzierte sich immer weiter aus, ohne dass die grundlegende Kohärenz von Kognition und Bewußtsein verlorenging.

Wir müssen uns das menschliche Bewußtsein als einen verteilten Prozeß vorstellen. Seine Struktur gibt vor, in welcher Geschwindigkeit eine Kultur Wissen ansammeln und welche Symbolisierungssysteme sie entwickeln kann. Die Geschlossenheit dieses riesigen kognitiv-kulturellen Systems, auf die ich immer wieder abgehoben habe, gründet in den Steuerungsmechanismen, die über alle drei beschriebenen Stufen von Kultur und Bewußtsein hinweg wirksam sind.

Der in Abbildung 7.3 dargestellte episodische Kern ist seinem Wesen nach fremdgeleitet. Er nimmt die Welt aus einer Perspektive wahr, die kein Bewußtsein von der eigenen Person einschließt. Dagegen ist sich ein Individuum auf der mimetischen Stufe seiner selbst intensiv bewußt und überprüft und revidiert unablässig das eigene Handeln. Durch die mimetisch strukturierte Kognition, die sich im Wesentlichen auf dasselbe Repertoire an Bewußtseinsprozessen stützt wie ein rein episodisch strukturierter Geist, aber einen größeren Kontext von Handlungen einbezieht, gewinnt die Kultur zunehmend an Konturen. Auf der narrativen Stufe erlangen Ideen und Vorstellungen eine gewisse Unabhängigkeit vom Erleben des Einzelnen, so daß abstrakte Überzeugungen und ein kollektiver Diskurs entstehen können. Narrative Strukturen können im kognitiv-kulturellen System aber nur eine maßgebliche Rolle einnehmen, wenn sie die Oberhand über dessen mimetische Schicht gewinnen. Dies gelingt ihnen dadurch, daß sie die mimetischen Grundmuster der Kultur modifizieren und in den Dienst des Mythos stellen. Das hierarchische Verhältnis ist klar: Sprache und Narration können nur bestimmend werden, wenn es ihnen gelingt, Fertigkeiten und kognitive Operationen der Mimesis, beispielsweise die Nachahmung, in ihrem Sinne zu beeinflussen. Der Mythos gewinnt nur dann an Macht, wenn ihm die direkte Kontrolle über die mimetische Vorstellungskraft zufällt. Durch den Triumph des Mythos geht die Geschlossenheit der bewußten Erfahrung jedoch nie verloren, weil die Sprache, wie wir gesehen haben, nur eine Oberflächenschicht des kognitiven Ozeans bildet. Sie ist nicht autonom und kann die grundlegende Einheitlichkeit des bewußten Erlebens nicht erschüttern, weil sie ebenso wie die episodische und die mimetische Kognition in ihm wurzelt.
Die externe Speicherung von Symbolen verschiebt die Kräfteverhältnisse im übergreifenden kognitiv-kulturellen System, weil sie die Voraussetzungen dafür schafft, daß formale theoretische Systeme entstehen können. Doch auch die Symboltechniken können die grundlegende Geschlossenheit des bewußten Erlebens nicht sprengen. Symboltechniken und theoretische Systeme sind innerhalb des gesamten kognitiv-kulturellen Gefüges denselben zentrifugalen Kräften ausgesetzt wie jedes andere Medium des symbolischen Denkens. Theoretische Systeme können auf eine Kultur nur dann bestimmenden Einfluß gewinnen, wenn es ihnen gelingt, an den richtigen Stellen des kognitiv-kulturellen Gefüges anzusetzen und die direkte Kontrolle über die episodische, mimetische und narrative Kognitionsebene zu erlangen. Theoretisches Denken hat eine wichtige Überlebensfunktion, bleibt für sich genommen aber wirkungslos; es kann in einer Kultur nur zum ausschlaggebenden Faktor werden, wenn es seinen Einfluß auf sämtlichen Ebenen des kognitiv-kulturellen Gefüges durchsetzt.
Die Geschlossenheit des bewußten Erlebens hängt eng mit dem Aspekt der Ziel- oder Zweckgerichtetheit zusammen. Diese setzt bewußtes Abwägen voraus. Es mag zwar unbewußte Motive und Triebkräfte geben, doch eine Zielgerichtetheit oder ein Wille ohne bewußte Absicht ist undenkbar. Die Reichweite des zweckgerichteten Denkens ist allerdings sehr begrenzt. Wir sind allenfalls fähig, vergleichsweise überschaubare Prozesse zu regulieren, wie etwa Fischbestände, kleinere Wirtschaftssysteme oder Kriege. Wenn wir aber zum Beispiel in der Lage wären, globale Klimaprozesse in den Griff zu bekommen, dann könnten wir wohl mit gutem Recht behaupten, dass unsere Zweckgerichtetheit ein Faktor ist, der für den Lauf der Welt von großer Bedeutung ist. In einem vom Zufall regierten Universum wäre das indes nur ein kleiner Triumph.
Die Zweckgerichtetheit des Menschen ist in seinem Bewußtsein verankert, doch es hätte wenig Sinn, sie dem isoliert betrachteten Bewußtsein eines einzelnen Menschen zuschreiben zu wollen. Denn Quelle zielgerichteten Handelns kann letztlich nur das in die Kultur eingebundene Bewußtsein sein. Die Zielgerichtetheit hat also immer eine kulturelle Dimension und ist von ihrem Ursprung her ein verteiltes und kollektives Phänomen. Ihr Motor ist ein Bewußtsein, das die Algorithmen einer Kultur assimiliert und sich so zu einem Medium entwickelt hat, das im Sinne des kognitiv-kulturellen Kollektivs tätig ist.
Diese Hybridnatur des Menschen, die uns in selbstgeschaffene Kollektive hineinwachsen läßt, ist unser Schicksal. Wir bleiben zwar als Einzelne unterscheidbar, sind aber niemals ganz autonom. Auf sich allein gestellt wäre das menschliche Gehirn ein armseliges Gebilde, undifferenziert, dem Strom der Sinneseindrücke ausgeliefert und sprachlos. Im Zusammenschluß mit anderen seiner Art ist es aber im Stande, sich in ein kollektives mentales System einzugliedern, Fertigkeiten des Symbolgebrauchs zu erwerben und, je nach Intensität seiner Enkulturation, den Aktionsradius seines Bewußtseins gewaltig zu erweitern.
Wir sind, bis in die Struktur unseres Bewußtseins hinein, Kollektivwesen. Wenn wir uns dieser Tatsache stellen, wird die irrationale Kreatur in uns, die letztlich die treibende Kraft unserer kognitiven Evolution ist, sich am Ende als das erkennen können, was sie wirklich ist, nämlich als Teil eines kollektiven Prozesses, der uns zwar nicht von unserer Stofflichkeit, aber doch aus unserem solipsistischen Gefängnis befreit hat. Der Triumph des Bewußtseins ist vollkommen, wenn es am Ende über diesen kollektiven Prozeß zu reflektieren vermag und erkennt, daß es darin allein sich selbst gespiegelt sieht.

Ende des Zitats


Ein Gedicht von Octavio Páz drückt diese auf den ersten Blick verwirrende Schlußfolgerung Merlin Donalds – nämlich die zirkuläre Bedingtheit unseres Bewußtseins durch die Außenwelt der Dinge und der Kultur unserer Gemeinschaft, und die Bedingtheit (unserer Wahrnehmung) dieser Außenwelt durch unser Bewußtsein – sehr poetisch, aber durchaus treffend so aus:

ich schaue mich an in dem was ich anschaue
wie eindringen durch meine augen
in ein klareres auge
mich schaut an was ich anschaue

meine schöpfung ist das hier was ich sehe
die wahrnehmung ist vorstellung
wasser der gedanken
ich bin die schöpfung dessen was ich sehe

Octavio Páz

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