Johann Sebastian Bach: Chromatische Fantasie und Fuge d-moll BWV 903
Meine Fassung für Orgel (mit Samples der Riegerorgel im Großen Saal des Konzerthauses Wien (Vienna Konzerthaus Organ) eingespielt:
Die Fantasie steht in der Tonart d-moll. Das verbindet sie mit der ebenso populären Toccata und Fuge BWV 565 für Orgel. Nicht nur die Tonart verbindet sie, sondern auch ihre freie, der Improvisationskunst Bachs Rechnung tragende Form. Unklar wann und wo komponiert existiert heute auch das Autograph nicht mehr, was eine Datierung schwierig bis unmöglich macht. Seit 1730 lies Bach seine Schüler Abschriften von der Chromatischen Fantasie fertigen, was zumindest darüber Auskunft gibt, dass sie nicht später entstanden sein kann.
Johannes Brahms pflegte als junger Virtuose mit dieser Chromatischen Fantasie seine Konzerte zu eröffnen, auch Franz Liszt setzte das Stück auf seine Programme, Max Reger fertigte gar von ihm eine Orgelbearbeitung an – die von mir eingespielte Fassung stammt aber nicht von ihm, sondern ist mein Werk – seine Faszination hat dieses expressive und sicher zu den persönlichsten Werken Bachs zählende Stück über alle Jahrhunderte behalten.
Meine Einspielung mit Samples eines Konzertflügels (HAMMERSMITH PROFESSIONAL EDITION):
Das Vorwort Hans von Bülow’s zur Edition seiner Fassung für Konzertflügel bei Bote und Bock, Berlin (Orthografie des Originals):
Neue Ausgaben von klassischen Werken, welche bereits als Gemeingut der Kunstgebildeten wenigstens gelten, pflegen, wo es sich nicht um kaufmännische Speculation handelt, aus der Erkenntniss von der Unzulänglichkeit der früheren hervorzugehen. Selbstverständlich leitet auch im gegenwärtigen Falle den Herausgeber eine solche Ueberzeugung, deren Stoff ihm mannigfache Erfahrungen aus seiner Lehrthätigkeit geliefert haben. Dennoch erscheint ihm diesmal eine Rechtfertigung seiner reformatorischen Absicht mit einigen einleitenden Bemerkungen geboten, abgesehen von seinem Vertrauen, dass eine solche sich hauptsächlich aus der Art der Ausführung seiner Absicht ergeben dürfte.
Von keinem anderen Werke des grossen Urmeisters existirt nämlich bis jetzt eine so hochverdienstliche, so eingehend sorgfältig redigirte Ausgabe, als die bekannte, im Verlage von C. F. Peters zu Leipzig veröffentlichte, fortwährend verbesserte und bereicherte – der chromatischen Fantasie und Fuge. Freilich bedurfte auch kein anderes so sehr der genauesten Vortragsbezeichnungen u. s. w., als eben dasjenige merkwürdige Werk, in welchem die Romantik zum ersten Male das Gebiet der Clavier-Literatur beschritten hat. Was diesem unentbehrlichen Commentar seinen grössten Werth verleiht, ist ferner der Umstand, dass derselbe sich auf die beglaubigste Tradition stützt, deren successive Träger Glieder einer ununterbrochenen Kette sind. Sebastian Bach’s ältester Sohn, Friedemann Bach — Forkel – Prof. Griepenkerl, des Vorbergenannten Schüler, das sind die 11ierfür Bürgschaft leistenden Namen. Sie haben trotz ihrer glänzenden Autorität den Herausgeber von dem Versuche nicht zurückgeschreckt, diese Tradition praktisch zn kritisiren, worunter ebensowohl ein anknüpfendes Ergänzen, als bisweilen ein änderndes Widersprechen zu verstehen ist. Aber selbst in dieser letzteren Richtung bekennt der Herausgeber, stets auf jener Tradition zu fussen, welche ihm zuerst den Schlüssel zur intimeren Vertrautheit mit dem Riesengeiste gereicht, ihm die erste Ahnung von der Grossartigkeit seiner Harmonik, von der Tiefe und Innigkeit seiner Melodik (den „Architekten“ Bach bewundern lehrt die „Schule“) erschlossen, ihm das erhabene Menschenantlitz aus den bergenden Perückenlocken enthüllt, ihm die Bach’sche Tonwelt zuerst „entledert“ hat. Durch solches Geständniss, dem sich vielleicht der eine oder der andere aufrichtige Musiker als Mitunterzeichner anschliessen möchte, wäre wohl der etwaige Vorwurf einer Opposition gegen Autoritäten als entkräftet zu betrachten. Ein Citat von Forkel’s Auslassungen über das Werk in Rede (Ueber Joh. Seb. Bach’s Leben, Kunst und Kunstwerke – Leipzig·, Hofmeister & Kühnel 1802. S. 55 und 56) dürfte weiterhin geeignet sein, die Fortschrittsbemühungen des Herausgebers um eine das Technische mit dem Geistigen verschmelzend erfassende Wiedergabe des Bach’schen Geistes zu erläutern.
Forkel sagt in der angeführten Stelle seines berühmten Buches Folgendes:
„Unendliche Mühe habe ich mir gegeben, noch ein Stück dieser Art von Bach aufzufinden. Aber vergeblich! Diese Fantasie ist einzig und hat nie ihres Gleichen gehabt. Ich erhielt sie zuerst von Wilhelm Friedemann aus Braunschweig. Einer seiner und meiner Freunde, der gern Knittelverse machte, schrieb auf ein beigelegtes Blatt:
Anbei kommt an
Etwas Musik von Sebastian,
Sonst genannt: „Fantasia chromatica“;
Bleibt schön in alle Saecula.Sonderbar ist es, dass diese so ausserordentlich kunstreiche Arbeit auch auf den allerungeübtesten Zuhörer Eindruck macht, wenn sie nur irgend reinlich vorgetragen wird.“
Dieser „sonderbaren“ Schlussbehauptung ist Forkel selbst praktisch entgegengetreten, indem er seinen Schüler Griepenkerl zur Mittheilung der bereits nach Verdienst hervorgehobenen bahnbrechenden Winke über den wahren Vortrag Bach’scher Tonstücke angeregt hat. Ein blos „reinlicher“, blos correcter Vortrag hiesse nur so viel, als ein tödtendes Buchstabiren. Er gehört unter die Rudimente. Deutliche Aussprache ist noch kein verständiges Declamiren, sinnvolle Declamation ist noch nicht empfindungs- und somit eindruckssichere Beredsamkeit. Eine „Kunst des Vortrags“ wird aber, zumal In der Tonsprache, erst durch das Zusammenwirken dieser drei Factoren gegründet, von denen jeder höhere den niederen bedingt.
Diese genannten Factoren hat eine Ausgabe Bach’scher Compositionen, welche es sich zum Zweck stellt, ihn dem grösseren Publikum, Spielern und (in Folge dieser) Zuhörern zugänglich, verständlich zu machen, mit gleicher Aufmerksamkeit zu berücksichtigen.
Als ihre Erfordernisse nächst der Beschaffung eines correcten kritisch revidirten Textes ergeben sich also folgende:
Erleichterung der Ausführung durch praktische Fingersatzbezeichnung, bei welcher die Rücksicht auf Bequemlichkeit, sogenannte Handlichkeit, sich stets einer genauen Satzinterpunktion, einer logischen rhythmischen Phrasirung unterzuordnen hat; endlich consequente organische Vorschriften über die Qualität des Anschlags und über die Quantität de1· Bewegung, des Zeitmaasses.
In dieser letzten Beziehung glaubt der Herausgeber einen Fortschritt gegen die alte Ausgabe dadurch erzielt zu haben, dass er sich bestrebt hat, die psychologische innere Einheit der Fantasie und der Fuge zu veranschaulichen, beide Stücke als den zweitheiligen Monolog einer und derselben Person darzustellen, während die frühere Entgegensetzung derselben den Eindruck machte, als würde ein träumender Poet durch einen räsonnirenden Schulmeister abgelöst. Dem entsprechend hielt er ein äuserst ruhiges, still klagendes Beginnen des Fugenthema’s für angemessen, eine im weiteren Verlaufe bis zum Schlusse bewusstvoll, ohne irgend welche Eilfertigkeit, sich gipfelnde Steigerung des Tempo’s und der Kraft für würdig wirkungsvoll. Mendelssohn’s treffliche E-moll-Fuge, deren treue Interpretation – der Meister hat sie so sorgsam nüancirt, dass keine Irrung statthaben kann – ein rückwirkendes Vortragsmuster für schwungvolles Fugenspiel darbietet, hat ihm hierbei vorgeschwebt. In seinen Modificationen an der Interpunction ist der Herausgeber sich bewusst, ohne alle subjective Willkür verfahren zu haben: die Correcturen des Fingersatzes finden ihren Grund in den technischen Errungenschaften des modernen Clavierspiels. Verdoppelungen von Passagen, Verstärkungen von Accorden schienen nothwendig, um das Colorit zu erhöhen; die Fantasie an den Klang der Orgel zu mahnen, schien bach’scher, als sie durch die Vorstellung eines Spinetts oder Clavichords herabzudrücken. Liszt’s imposante Transcsription der Bach’schen Orgelfugen bietet in dieser Hinsicht vielleicht das belehrendste Studium zum Eindringen in den Geist des grössten Zukunftscomponisten, dessen eigentliche Wirksamkeit erst hundert Jahre nach seinem Tode begonnen hat. Endlich ist durch ausführliche Notirung der in der „Fantasie“ vorkommenden häufigen Arpeggiando’s der rathlosen Verlegenheit vieler gutwilligen Dilettanten ein vermuthlich willkommenes Ende gemacht worden.
Zur Verantwortung gewisser Licenzen, bei denen ihn stets jene Pietät geleitet hat, die sich von der Buchstabenanhängigkeit antiquarischer Wortklauber, welche es mitunter bis zur Druckfehleranbetung treiben, wesentlich unterscheidet, ist der Herausgeber bereit. Um eine derselben namentlich zu erwähnen: die Auseinanderlegung eines einzelnen Taktes in mehrere (bei der Fantasie), so glaubte er dieses Mittel, „Luft zum Athmen zu schaffen“, im Interesse der Verständlichung für den Spieler benutzen zu dürfen.
Ist somit alles Thunliche geschehen, den Spieler in den Geist des „in seiner Art einzigen“ Werkes einzuleiten und ihm die .Mittel zur Besiegung der Vortragsschwierigkeiten darzubieten, so ist schliesslich doch nur erst die Anregung zu einer schönen und geistvollen Ausführung damit gegeben. „U n’y a que l’esprit, qui sente resprit“, sagt Chamfort. Wer nicht zwischen den Zeilen zu lesen vermag, wer nicht über ein gewisses Quantum receptiver Genialität verfügt, wer selbst keine Phantasie hinzubringt, bleibe in respectvoller Entfernung von der „chromatischen Fantasie“ abseits stehen.
Was endlich deren Titel anlangt, so sind die Musiker nicht einig darüber, ob die chromatische Tonfolge, welche das Fugenthema bildet, oder die weitausschreitenden Modulationen in der Fantasie ihn veranlasst haben. In letzterem Falle könnte sie eben so gut die „enharmonische“ heissen. Beide Annahmen sind zulässig.
Hans von Bülow.