Pragmatismus, Religion und Metaphysik
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Es hat sich herausgestellt, daß sowohl die christliche Religion als auch die materialistische Metaphysik Artefakte sind, die sich selbst verzehren. Das Bedürfnis nach orthodoxer Religiosität wurde durch Paulus‘ Beharren auf dem Primat der Liebe untergraben. Nach und nach erkannten die Christen, daß eine Religion der Liebe nicht verlangen kann, jeder müsse das gleiche Glaubensbekenntnis aufsagen. Das Bedürfnis nach Metaphysik wurde durch die Fähigkeit der modernen Wissenschaft untergraben, den menschlichen Geist als ein außergewöhnlich komplexes Nervensystem zu begreifen und somit sich selbst eher pragmatisch als metaphysisch zu sehen. Die Wissenschaft hat uns gezeigt, wie man die empirische Forschung als Gebrauch dieser physiologischen Zusatzausstattung zur Erlangung stets größerer Herrschaft über die Umwelt sehen kann, anstatt sie als eine Form der Verdrängung von Erscheinungen durch Wirklichkeit zu deuten. Genauso wie es dem achtzehnten Jahrhundert gelang, das Christentum nicht als Offenbarung von oben, sondern als kontinuierliche Fortsetzung der sokratischen Reflexion zu sehen, so ist es dem zwanzigsten Jahrhundert gelungen, die Naturwissenschaft nicht als Offenbarung des inneren Wesens der Wirklichkeit, sondern als kontinuierliche Fortsetzung jener Form des praktischen Lösens von Problemen zu begreifen, in der die Ingenieure brillieren.
Wer die Vorstellung preisgibt, es gebe ein inneres Wesen der Wirklichkeit, das die Priester, die Philosophen oder die Naturwissenschaftler ausfindig zu machen haben, trennt das Bedürfnis nach Erlösung vom Streben nach allgemeiner Übereinstimmung. Was er preisgibt, ist die Suche nach einer genauen Darstellung der menschlichen Natur und somit nach einem Rezept für DAS GUTE LEBEN DES MENSCHEN. Sobald man diese Bestrebungen aufgibt, tritt die Ausdehnung der Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft in den Vordergrund, um die Rolle zu übernehmen, die in der religiösen Kultur vom Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes gespielt wurde, sowie die Rolle, die in der philosophischen Kultur von der Entdeckung des wirklich Wirklichen gespielt wurde. Dieser Rollenwechsel ist allerdings kein Grund, weshalb man die Suche nach einer utopischen Form des politischen Lebens – nach der GUTEN WELTGESELLSCHAFT – aufgeben sollte.
aus Richard Rorty „Philosophie als Kulturpolitik„
Kapitel II.6 Philosophie als Übergangsgenre,
Literarische Kultur
und demokratische Politik
Artikel zu Richard Rorty bei Wikipedia