Georg Böhm: Vater unser im Himmelreich (Choralvorspiel)

Dieses Orgelwerk von Georg Böhm habe ich mit Samples der Riegerorgel im Großen Saal des Konzerthauses Wien (Vienna Konzerthaus Organ) eingespielt.

Zitat aus dem Vorwort zu:

GEORG BÖHM
SÄMTLICHE WERKE
KLAVIER- UND ORGELWERKE,
Band 1
FREIE KOMPOSITIONEN UND KLAVIERSUITEN,
BREITKOPF & HÄRTEL · WIESBADEN
Edition Breitkopf Nr. 6634

Den Gipfelpunkt im gesamten Kunstschaffen Georgs Böhms bilden seine Choralbearbeitungen. Zu einer Zeit, in der die dogmatischen Bindungen noch ihre Gültigkeit hatten und das Volk mit dem Schatze der protestantischen Kirchenlieder immer von neuem vertraut zu machen war, entstand die didaktische oder „dogmatische“ Form des Choralvorspiels. Ihr hervorragendster Vertreter war Pachelbel. Auch Böhm war seit seiner Jugend mit ihr vertraut.
Das Schema dieser „großen“ dogmatischen Form, die sich in der Folgezeit bis zu Joh. Seb. Bach und Reger als eine der entwicklungsfähigsten erwies, sieht folgendermaßen aus:

Fuge über die 1. Choralzeile

Die einzelnen Teile durch den c. F. in langen Notenwerten zusammengehalten
Imitatorische Durchführung der 2. Choralzeile
Imitatorische Durchführung der 3. Choralzeile
Imitatorische Durchführung der 4. Choralzeile
usw.

Diese Form barg die Gefahr in sich, in lauter einzelne Teile zu zerfallen. Böhm sucht nun durch gemeinsame rhythmische Bindungen der kontrapunktierenden Stimmen die einzelnen Teile miteinander zu verbinden. z. B. „Christ lag in Todesbanden“. Dieser Gedanke führte schließlich zu den freien ostinaten Motiven Joh. Seb. Bachs. Auch der cantus firmus steht bei Böhm nicht mehr so isoliert da wie bei Pachelbel. Wo er noch in langen Notenwerten daliegt, wird seine Sonderstellung durch Kolorierung gemildert. (vgl. Christum wir sollen loben schon, Gelobet seist du, Jesu Christ, Vom Himmelhoch da komm ich her). In allen anderen Fällen bringt Böhm im cantus firmus kolorierte Viertelnotenwerte. Am stärksten ist die Verschmelzung des cantus firmus mit den übrigen Stimmen in „Nun bitten wir den heil’gen Geist“.
Durch Loslösung und Verselbständigung der Fuge des dogmatischen Choralvorspiels entwickelt sich die Choralfuge, (über die erste oder über sämtliche Choralzeilen; letzterer Typus bei Böhm in „Christ lag in Todesbanden“).
Ebenfalls aus der dogmatischen Form hervorgegangen ist das Choralvorspiel „Allein Gott in der Höh sei Ehr„. Der einleitenden Fuge liegt das Thema der ersten Choralzeile zugrunde, zu der aber bereits ein freies Gegenthema hinzutritt. – War in den bisherigen Choralvorspielen noch eine starke Bindung an die thüringische Formenwelt zu konstatieren, so gehört das Choralvorspiel „Vater unser im Himmelreich“ offenbar Böhms reifster Lüneburger Periode an. Die gänzliche Loslösung von der dogmatischen Form, die bis ins Übermaß gesteigerte Kolorierung des cantus firmus zeigt, daß in die Lebenszeit Böhms der Übergang fällt von einer Zeitperiode in eine neue, daß die subjektivistischen Geistesströmungen der Zeit auch in der Musik ihren erhöhten Ausdruck finden.
Die Choralvariationen Böhms weisen eine solche Fülle verschiedenster Form- und Stilelemente auf, daß es nicht möglich ist, hier näher darauf einzugehen. Sehr stark sind diese Variationen stilistisch durch die weltliche (Klavier-)Liedvariation beeinflußt, denn noch besteht ja die enge Verbindung zwischen Geistlichem und Weltlichem in der Musik. Alte Formen werden mit neuem, persönlichem Ausdruck erfüllt, so das Bicinium, z. B. in „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“, Versus 1 und die dogmatische Form in „Vater unser im Himmelreich“, Versus 2 u. a. Alte kompositorische Mittel wie der ostinato erhalten hier eine ganz neue Gestalt.
Manches ist noch unfertig und sollte seine Vollendung erst mit Joh. Seb. Bach erfahren; aber stets sind diese Variationen musikalisch fesselnd. Sie zeugen, wie auch alle übrigen Werke Böhms, von reicher Phantasie, echter Musizierfreude und tiefer Gläubigkeit und dienen „dem Lobe Gottes und der Recreation des Gemütes“.

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