Das Land der armen Leute 7
„Wie die Gegensätze des Klimas, so sind auch die Gegensätze von arm und reich auf der Rhön eng zusammengerückt, denn die Bevölkerung des ganzen Gebirges ist keineswegs arm. Die Armut tritt weniger überallhin verstreut auf, wie in den meisten mitteldeutschen Gegenden, als nach Berggruppen und Talzügen ziemlich bestimmt abgesondert. Diese historische, unausrottbare Armut haftet an einzelnen Strichen, an denen auch das nordische Klima haftet. Diese sind namentlich: das Dammersfeld, die Kreuzberggruppe und die lange Rhön.
Die Armut dieser ödesten Winkel unsrer feuchten und kalten Basaltgebirge will mit ganz anderm Maßstabe gemessen sein als die andauernde oder vorübergehende Verarmung der glücklicheren Gegenden. Sie ist hier ein uraltes Erbstück des Volkes, und der Hunger ist nicht bloß heuer, sondern in jedem Frühjahr der treueste Hausfreund. Es geht diesen Leuten wie dem Wild, wie den Vögeln, die auch im Sommer fette, im Winter magere Zeit haben. Und sie wissen’s nicht besser.
Sonst ist der Begriff der Armut schwer zu bestimmen; hier ganz leicht. Diese Naturkinder sind arm, weil sie mit ihrem Kartoffelvorrat bis zum Junius hätten reichen sollen, und haben nur bis zum Februar ausgereicht Sie sind arm, nicht weil die Summe ihrer Bedürfnisse im Mißverhältnis stünde zu der Summe ihrer Arbeitskraft, sondern nur zu der Summe des schlechten Wetters vom vorigen Jahr. Der Himmel hat ihren Hunger größer werden lassen, als ihre Kartoffeln. Dies ist die einfachste und ursprünglichste Form der Armut. Die national ökonomischen Wertbegriffe des Geldes und der Arbeitskraft sind hier noch nicht entdeckt.
Die eigentümliche Erscheinungsform der naturnotwendigen passiven Armut ist als Anachronismus in unsrer Zeit stehen geblieben: die Bewohner solcher unwirtlichen, weltverlassenen Hochflächen sind heute noch die ‚armen Leute’ des Mittelalters. So sehen wir auch den letzten Schatten der mittelalterlichen Hungersnöte über solche Gebirge streifen, während bei der gegenwärtigen Verkehrs- und Arbeitsweise eine Hungersnot im übrigen Deutschland nicht mehr möglich ist. Aber ich hörte auch auf der hohen Rhön von Geistlichen und Beamten allgemein rühmen, daß diese ‚armen Leute’ mit einer christlichen Ergebenheit ihr Kreuz trügen, wie sie uns sonst nur von den Armen des Mittelalters, aber kaum je von denen der neueren Zeit berichtet wird.“
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