Das Land der armen Leute 3

Die Rhön dagegen hat bessere Tage gesehen als die gegenwärtigen, sie hat eine Geschichte gehabt, welche mehr war als eine bloße Geschichte des Elendes. Für die feudale Zeit war sie kein übles Land, aber unser industrielles Jahrhundert weiß nicht, was es mit solchen abgelegenen, produktenarmen Gebirgen anfangen soll. Nicht bloß die Ungunst den Klimas, auch der ganze eigentümliche Entwicklungsgang unseres Kulturlebens, wenn man will die Weltgeschichte, hat sich wie ein tragisches Schicksal auf diese Berge gelegt. Die Rhön gehört so ganz zu jenen deutschen Gauen, von welchen einer unsrer Dichter sagt, sie seien zu romantisch, um noch glücklich sein zu können, ein Dichter, der selber zu romantisch war, um glücklich sein zu können – Gottfried Rinkel.
Hier also ist die Rhön dem sonst so gleichgearteten hoben Westerwalde ungleich; ihre Blütezeit liegt in der Vergangenheit, die des Westerwaldes in der Zukunft. Die Parallele ließe sich in tausend Einzelzügen entwickeln. Auf der Rhön gibt es allerlei an den natürlichen Schätzen des Gebirges haftende Industrie, aber immer nur sprunghaft, verspritzt, und wie zum Versuch. Es werden Eisenerze gewonnen, plastischer Ton, Schwerspat, Torf, Traß, Braunkohlen, es werden Färberpflanzen gebaut, sogar für Lyoner Seidenfabriken, es wird fleißig gewebt, es werden Holzschnitzwaren gefertigt, Krüge gebacken, es wird Porzellan gebrannt; aber eine massenhafte, das ganze Gebirge beherrschende und emporhebende Industrie hat sich an keinen dieser oft glücklichen Versuche zu heften vermocht. Die ,,Silberhöfe«, welche neben einem der ärmsten Dörfer, Altglashütte, liegen, haben ihren Namen, charakteristisch genug, daher, weil man dort Silber gesucht und keins – gefunden hat. Das Eisen findet sich nur „nesterweis“. Dies ist eben der Fluch der Rhön, daß sich alles hier nur „nesterweis“ findet, Industrie und Ackerbau so gut wie das Eisenerz. Wo man früher auf Eisen gebaut, sind mitunter längst alle Gruben verschüttet. Auf dem Markt zu Bischofsheim reden alte eiserne Brunnentröge von dem verschollenen Bergbau des Kreuzberges, und in den herrschaftlichen Häusern zu Fulda stehen große eiserne Öfen aus den versunkenen Schachten der Dammersfeldes.

Die Wohnhäuser und Kirchen vieler Rhöndörfer sind stattlicher gebaut, als sich’s mit dem gegenwärtigen Wohlstand der Bewohner zusammenreimt. Vergebens sucht man hier die moosige Lehmhütte des hohen Westerwaldes, welche mitunter eher für Indianer, als für deutsche Bauern bestimmt erscheint. Auch die Reste der alten Volkstracht deuten durchaus nicht auf den Bettlerrock zurück. Der turmartig spitze schwarze Kopfaufsatz der Weiber in den Rhöntälern mit den langen flatternden Bändern ist ein kostbares Stück, weit reicher als das rote, von zwei auf- und niederschwankenden Eselsohren flankierte Kopftuch der Bäuerinnen im reichen Bamberger Maingrund. Ja jene in den mitteldeutschen Gebirgen so weit verbreitete Haubenpyramide ist sogar eine der seltenen, noch wirklich aus dem Mittelalter stammenden Volkstrachten. Auf zahlreichen Bildern und Skulpturen der spätgotischen Zeit sieht man vornehme Frauen mit demselben Kopfputz. Der Westerwald dagegen hat weit nüchterne, ärmere und minder alte Trachten. Dort ist in der Tat der Bettlerrock vielfältig seit Anbeginn das Volkskleid gewesen.
Die hohe Rhön hat im Mittelalter eine ausgeprägte politische Geschichte: eine Menge zertrümmerter Burgsitze zeugen dafür.

Die Rhöner dagegen, deren Gebirge einen weit glänzenderen historischen Namen hat, machen es nicht also. Dort war das Dammersfeld, jetzt berühmt durch seine Armut, einst berühmt durch seinen Bodenreichtum. Die Hoftafel der Fuldaischen Fürstäbte wurde buchstäblich fett durch seine Ergiebigkeit, denn es sollen alljährlich an dreißig Zentner der besten Butter von dort in die Hofküche gewandert sein, der saftigen Dammersfelder Rinds- und Kalbsbraten gar nicht zu gedenken. Andere herrschaftliche Domänen wurden aufgebessert mit den Überschüssen vom Ertrag der Dammersfelder Güter. Es klingt uns jetzt wie ein Märchen, wenn wir lesen, daß Eroberungskriege zwischen Fulda und Würzburg um das Dammersfeld geführt worden sind, weil dieser reiche Besitz den Fürsten so verlockend in die Augen gestochen hatte. Jetzt führt man hier keine Eroberungskriege mehr, nur noch Verteidigungskriege – gegen den Hunger. Es ist aber (beiläufig bemerkt) eine für den Volkswirt höchst beherzigenswerte Tatsache, daß die Wiesen des Dammersfeldes nur so lange ihren großen Wert behaupteten, als sie in Form einer großen herrschaftlichen Schweizerei in einer Hand geeinigt bewirtschaftet wurden. „Seitdem das Dammersfeld einzeln verpachtet ist,“ sagt Schneider in seiner Beschreibung der Rhön, „und die den Graswuchs befördernden Schweizerpferche fehlen, ist es ein mageres, kahles Gebirge, wie seine Nachbarn.“



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