Joh. Seb. Bach: „Chromatische Fantasie & Fuge“ BWV 903 (Orgel)
bearbeitet für Orgel von Max Reger und von mir mit Samples der Riegerorgel des Großen Saals im Konzerthaus Wien (Vienna Konzerthaus Organ) eingespielt.
Für Johann Sebastian Bach bildete Musik immer auch die Möglichkeit, die Ordnung Gottes in der Welt auszudrücken. Die Musik konnte – diesem Verständnis zufolge – somit auch in persönlichen Dingen Halt geben, sensibilisiert die intensive Beschäftigung mit ihr doch für die göttliche Ordnung in unserer Welt, macht sie doch das Göttliche in besonderer Weise erfahrbar. Vor allem bei der Verarbeitung von Verlusten ist die Musik Bach vermutlich eine bedeutende Hilfe gewesen, denn die Verarbeitung dieser Verluste vollzog sich in seinem Falle vielfach in einem religiösen Kontext. Mit der Musik ließ sich dieser Kontext so ausdrücken, dass hier auch Leiden und Klagen, Hoffen und Vertrauen, Erfüllung und Freude in ganz individueller Gestalt zu Worte kamen – sodass sich Vieles, was Johann Sebastian Bach innerlich bewegt hat, in seiner Musik mitteilen konnte. Das verbindende Element zwischen der inneren Situation einerseits sowie der Komposition andererseits bildete im Falle Johann Sebastian Bachs der religiöse Kontext, in den sowohl das eigene Leben als eben auch die Musik gestellt waren. Dabei bildete aber die Religiosität nichts Abstraktes, sondern vielmehr etwas, was dem Kern seiner Person, dem Kern seiner Existenz, mithin seinem Innersten entsprang.
[…] In einer Arbeit mit dem Titel Johann Sebastian Bachs „Chromatische Fantasie“ BWV 903/1 – ein Tombeau auf Maria Barbara Bach? (2003) geht der Göttinger Musikwissenschaftler Uwe Wolf der Frage nach, ob es sich … bei der Chromatischen Fantasie (BWV 903/1) – einem in d-Moll gesetzten Stück für Cembalo (Piano) – um ein Tombeau auf Maria Barbara Bach handelt. Da schon seit Philipp Spitta (1880) die Annahme vertreten wird, dass die Chromatische Fantasie und Fuge (BWV 903) um 1720 entstanden sind, also dem Todesjahr Maria Barbaras, und diese Annahme in den 1980er-Jahren durch musikwissenschaftliche Analysen von George B. Stauffer (1988) gestützt werden konnte, liegt diese Frage nahe.
In diesem Kontext ist zunächst eine von Dieter Gutknecht (2001) getroffene Aussage aufschlussreich, wonach es sich bei der Chromatischen Fantasie möglicherweise um eine „Meditation“ über den Tod handelt („meditatio mortis“). Diese Aussage scheint gerade vor dem Hintergrund der Grundstimmung der Fantasie wie auch des in ihr enthaltenen ausführlichen Rezitativ-Teils (Takt 49 ff ) plausibel zu sein.
Uwe Wolf (2003) analysiert die Tombeau-These aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei können als Ergebnisse seiner Analyse festgehalten werden: Die Entstehung der Chromatischen Fantasie um das Jahr 1720 kann als wahrscheinlich angenommen werden; Johann Sebastian Bach war mit der Tombeau-Tradition vertraut; die Chromatische Fantasie erweist sich als einzigartig – und zwar sowohl in ihrer Zeit als auch im Bach’schen Œuvre, somit kommt ihr durchaus eine ganz besondere Stellung zu; mit dieser Aussage ist aber auch die Feststellung verbunden:
Bach, das kann man mit Gewissheit sagen, imitiert mit der Chromatischen Fantasie kein Tombeau; sowenig wie er in diesem Werk irgendetwas anderes imitiert. Er schafft neu. Aber man wird die Tombeaux wohl unter die wichtigen Vorbilder für Bachs Chromatische Fantasie einreihen müssen – mit allen Einschränkungen, die dem Begriff „Vorbild“ bei einem solchen vereinzelt dastehenden Werk eben zukommen (Wolf 2003, S. 112).
Und weiter: Johann Sebastian Bach hat diese Komposition sehr lange für sich behalten. Obwohl (vermutlich) 1720 komponiert, hat er sie erst in den 1730er-Jahren an seine Schüler weitergegeben.
Es sind ohne Zweifel verschiedene Gründe denkbar, warum Bach diese Komposition so lange für sich behielt, ja möglicherweise nicht einmal selbst anschaute. Eine Verbindung der Komposition mit dem schmerzlichen Erlebnis des Todes von Maria Barbara könnte ein möglicher Grund sein (Wolf 2003, S. 113).
Und schließlich: Aus der Tradition der Tombeaux ist manches in die Chromatische Fantasie eingegangen. Aber, so Uwe Wolf, man kann trotzdem nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Fantasie als Tombeau, als Stück mit „düsterem Charakter“ oder als „Meditation über den Tod an sich“ zu deuten ist.
Doch wenn letzteres zuträfe und die Datierung auf 1720 stimmt, wodurch wäre diese „Meditation“ dann angestoßen worden, wenn nicht durch den Tod Maria Barbaras? Und wäre die Chromatische Fantasie damit als Tombeau auf Maria Barbara anzusprechen oder nicht? Diese Fragen sind leider nicht zu beantworten. Es gibt zweifelsohne gute Indizien für die Tombeau-These – mehr aber auch nicht (Wolf 2003, S. 115).
Wenden wir uns noch einer Deutung der Chromatischen Fantasie zu, die wir Martin Geck (2000b) verdanken, der in seiner Schrift Bach – Leben und Werk hervorhebt, „dass die Chromatische Phantasie nebst Fuge zu seinen Lebzeiten und noch mehr nach seinem Tode als unerreichter Gipfel der Gattung verstanden worden ist“ (S. 533). Der mit Recitativo überschriebene Schlussteil „stellt sich als ein kunstvoll angelegter harmonischer Irrgarten mit einer Fülle von Dissonanzen, Trugschlüssen und enharmonischen Verwechslungen dar; der harmonische Gang entspricht der in der zeitgenössischen Theorie so genannten ,Teufelsmühle‘. Den systematischen Durchgang durch die Tonarten der chromatischen Skala, welchen Bach im Wohltemperierten Klavier weiträumig vornimmt, probiert er hier auf engstem Raum und wie in einem Zeitraffer. Bereits Forkel hat eine Verbindung zwischen beiden Werken hergestellt, indem er . . . bewundernd feststellte, Bach habe mühelos durch ,alle 24 Tonarten‘ phantasiert“ (Geck 2000b, S. 533 f ).
„Die Chromatische Phantasie ist vermutlich das erste Instrumentalwerk überhaupt, das einen seelischen Zustand – denjenigen leidenschaftlicher Trauer – prozesshaft aus der Ich-Perspektive nachzeichnet“ (S. 534). Es sei deutlich, „dass hier wortlos ein Subjekt spricht“ (Geck 2000b, S. 534).
Sichtbar wird in jedem Fall, dass Bach ein klassisches und offenbar unwiederholbares Muster zum Thema „Bindung und Freiheit“ geschaffen hat: Hier wird der Weg der später so genannten absoluten Musik vorgezeichnet – in ihrem Ringen um authentischen Ausdruck des Subjekts auf der einen und um objektivierbare Form auf der anderen Seite. Nicht zufällig, sondern geradezu notwendig ist das von Bach erarbeitete Muster mit dem Ausdruck von Leid und Verzweiflung verbunden: Die wesenhafte Struktur der absoluten Musik ist die der Melancholie. . . . Das Subjekt artikuliert sich als leidendes und einzig darin authentisches, bleibt aber ohnmächtig gegenüber den Ordnungen, die es ursprünglich bestimmen (Geck 2000b, S. 535).
zitiert aus
Andreas Kruse
Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach
Psychologische Einblicke
Siehe auch den Blogbeitrag Johann Sebastian Bach: Chromatische Fantasie und Fuge d-moll BWV 903.
Die Tombeau-These beschränkt sich übrigens nicht auf die „Chromatische Fantasie“ BWV 903/1, sondern ist gleichen Sinne für die Chaconne d-moll aus BWV 1004 denkbar.