Yourcenar über geistige Einsicht

thomas-carlyle»Jede geistige Einsicht[1] stützt sich auf willkürliche Fundamente; Jede Lehre, die sich bei den Massen durchsetzt, muß der menschlichen Dummheit Vorschub leisten: es käme auf das gleiche heraus, wenn Sokrates morgen zufällig den Platz von Mohammed oder von Christus einnähme. Aber wenn dem so ist, warum auf das leibliche Wohl und auf die Wonnen der Übereinstimmung verzichten? Es dünkt mich, als hätte ich all das schon seit Jahrhunderten erwogen und nochmals erwogen. …
Jeder von uns ist sein einziger Lehrer und sein einziger Jünger. Die Erfahrung fängt jedesmal wieder bei Null an. «
Zitat aus dem Roman „Die schwarze Flamme“ von Marguerite Yourcenar.
So wie Marguerite Yourcenar mit diesem Zitat kann man die Essenz des Beitrages „Bielefeld gibt es nicht”, auch in Knappe Worte fassen, der mit dem weisen Satz endete:

Nicht der „Inhalt“ des Konsenses ist wichtig, sondern die soziale Demonstration von Einigkeit durch die Partizipation am Kult.
Im Beitrag „Was ist Kitsch?“ kam ich bereits zu dem Schluss:
Vorstellungen, Bilder, Wörter und Archetypen aber sind nichts anderes als Mythen, deren profanes Konstruktionsprinzip durch den als Gaudi erfundenen Mythos „Bielefeldverschörung“ sinnfällig vorgeführt wird. Es ist das romantisch verklärte „Herz“, das sich sehnt im Takt der „Marschmusik für Mäuse“ (ab Seite 339 des verlinkten Kapitels „Die Moral“ aus „Bauplan für eine Seele“ von Dietrich Dörner) in eine unausweichlich (weil Naturgesetz) bessere Zukunft zu schreiten, das solche Mythen bastelt.

Zum Zitat:
Der Domherr, Zenons alter Lehrer, war in die Zelle zu Zenon gekommen, in der dieser auf sein morgiges, öffentliches Verbrennen auf dem Scheiterhaufen wartete, um ihm einen Deal anzubieten: Begnadigung durch Verbannung ins Kloster gegen Widerruf seiner Ketzerschriften. Aber er beißt mit dieser „Gnade“ bei Zenon auf Granit.

Das vollständige Zitat aus dem Roman „Die schwarze Flamme“ von Marguerite Yourcenar:
Zenon las in dem alten Gesicht einen Schmerz, der ihm leid tat. Er entgegnete behutsam:
»Mein Tod schien sicher, und ich hatte nur noch wenige Stunden in summa serenitate zu verbringen . . . vorausgesetzt, ich wäre dazu imstande gewesen«, fuhr er mit einem freundschaftlichen Kopfnicken fort, das dem Domherrn närrisch erschien, das sich aber an einen Spaziergänger richtete, der auf einer Straße in Innsbruck Petronius las. »Aber Ihr führt mich in Versuchung, mein Vater: ich sehe mich bereits meinen Lesern in aller Aufrichtigkeit erklären, daß der Bauernlümmel, der höhnisch erklärte, daß er in seinem Kornfeld Jesus Christus’ Unendlichkeiten besäße, ein gutes Possenthema ist, aber daß der Kerl sicher ein schlechter Alchimist wäre, oder auch, daß die Riten und Sakramente der Kirche ebensoviel und manchmal mehr Wirkkräfte haben als meine medizinischen Arzneien. Ich sage Euch nicht, daß ich gläubig bin«, sagte er und kam damit einer freudigen Regung des Domherrn zuvor, »ich sage, daß das bloße Nein mir keine Antwort mehr zu sein scheint, was nicht bedeutet, daß ich bereit bin, ein bloßes Ja auszusprechen. Das Prinzip der Dinge, das uns unzugänglich ist, im Innern einer [göttlichen] Person einzusperren, die nach menschlichem Vorbild zugeschnitten ist, scheint mir noch immer eine Lästerung zu sein, und trotzdem fühle ich unwillkürlich irgendeinen Gott in diesem Fleisch gegenwärtig, das sich morgen in Rauch auflöst. Sollte ich auszusprechen wagen, daß gerade dieser Gott mich zwingt, Euch mit nein zu antworten? Und dennoch: jede geistige Einsicht stützt sich auf willkürliche Fundamente; warum nicht diese? Jede Lehre, die sich bei den Massen durchsetzt, muß der menschlichen Dummheit Vorschub leisten: es käme auf das gleiche heraus, wenn Sokrates morgen zufällig den Platz von Mohammed oder von Christus einnähme. Aber wenn dem so ist«, sagte er und fuhr sich plötzlich müde mit der Hand über die Stirn, »warum auf das leibliche Wohl und auf die Wonnen der Übereinstimmung verzichten? Es dünkt mich, als hätte ich all das schon seit Jahrhunderten erwogen und nochmals erwogen.«
»Laßt mich Euch führen«, sagte fast zärtlich der Domherr, »Gott allein wird Richter sein über den Grad von Heuchelei, den Euer Widerruf morgen enthalten wird. Ihr selbst könnt es nicht beurteilen: was Ihr für eine Lüge haltet, ist vielleicht ein echtes Glaubensbekenntnis, das sich ohne Euer Wissen formuliert. Die Wahrheit hat geheime Mittel, um sich in eine Seele einzuschleichen, die sich nicht mehr gegen sie verschließt.«
»Sagt dasselbe von der Heuchelei«, erwiderte ruhig der Philosoph.»Nein, mein vortrefflicher Vater, ich habe manchmal gelogen, um zu leben, aber ich beginne, meine Begabung zum Lügen zu verlieren. Zwischen Euch und uns, zwischen den Ideen des Hieronymus van Palmaert, denen des Bischofs und den Euren einerseits und den meinen andererseits gibt es manche Ähnlichkeit, oft einen Kompromiß, niemals aber eine dauerhafte Beziehung. Es ist mit ihnen wie mit Kurven, die nach einem gemeinsamen Plan, dem menschlichen Verstand, gezeichnet sind, alsbald aber auseinanderstreben, um sich dann einander wieder zu nähern, sich darauf von neuem voneinander entfernen, sich manchmal in ihren Flugbahnen überschneiden oder sich – im Gegenteil – in einem Segment dieser Bahnen berühren, von denen aber keiner weiß, ob sie sich in einem Punkt jenseits unseres Horizontes wieder vereinen oder nicht. Es ist eine Unwahrheit, wenn man behauptet, sie seien parallel. «
»Ihr sagtet uns«, murmelte der Domherr wie erschreckt. »Ihr seid jedoch allein. «
»In der Tat«, erwiderte der Philosoph, »ich habe glücklicherweise keine Namenslisten abzuliefern, an wen auch immer. Jeder von uns ist sein einziger Lehrer und sein einziger Jünger. Die Erfahrung fängt jedesmal wieder bei Null an.« »Der verstorbene Prior der Franziskaner, der – obwohl zu nachsichtig – ein guter Christ und ein beispielhafter Mönch war, hat nicht wissen können, in welchem Abgrund von Aufruhr zu leben Ihr Euch entschlossen habt«, sagte der Domherr beinah scharf. »Ihr habt ihn ohne Zweifel viel und oft belogen. «
»Ihr täuscht Euch«, erwiderte der Gefangene und warf einen fast feindseligen Blick auf diesen Mann, der ihn hatte retten wollen, »wir fanden jenseits der Gegensätze wieder zusammen. «
Er stand auf, als ob er es wäre, der sich zu verabschieden hätte. Der Kummer des alten Mannes verwandelte sich in Zorn.
»Euer Eigensinn ist ein Ketzerglaube, für dessen Märtyrer Ihr Euch haltet«, sagte er entrüstet. »Ihr scheint den Bischof zwingen zu wollen, sich die Hände zu waschen in . . . «
»Das Wort ist unglücklich«, bemerkte der Philosoph.
Der alte Mann beugte sich vor, um die beiden Stöcke aufzuheben, die ihm als Krücken dienten, wobei er seinen Stuhl mit Gepolter nachzog. Zenon bückte sich und reichte sie ihm. Der Domherr stand mit Mühe auf. Der Wärter Hermann Mohr, der im Flur auf der Lauer lag, wurde durch diesen Lärm von Schritten und Stühlerücken aufgescheucht und drehte schon den Schlüssel im Schloß um, weil er glaubte, die Unterredung sei zu Ende, aber Bartholomäus Campanus rief ihm mit erhobener Stimme zu, noch einen Augenblick zu warten. Die halbgeöffnete Tür wurde wieder geschlossen.
»Ich habe meine Mission schlecht erfüllt«, sagte der alte Priester mit plötzlicher Demut. »Eure Standhaftigkeit erfüllt mich mit Grauen, weil sie einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber Eurer Seele gleichkommt. Ob Ihr es wißt oder nicht, die falsche Scham allein veranlaßt Euch, der öffentlichen Ermahnung, die dem Widerruf vorangeht, den Tod vorzuziehen. «
»Mit brennender Kerze und einer lateinischen Antwort auf die lateinische Rede von Monsignore«, sagte der Gefangene mit beißendem Spott, »das wäre für mich – ich gebe es zu – eine böse Viertelstunde gewesen . . . «
»Der Tod auch«, sagte kummervoll der Greis.
»Ich gestehe Euch, daß es ab einem gewissen Grad von Narrheit oder vielmehr von Weisheit wenig wichtig erscheint, ob ich es bin oder ein ganz Beliebiger, den man verbrennt«, sagte der Gefangene, »und auch nicht, ob diese Hinrichtung morgen oder in zwei Jahrhunderten stattfindet. Ich mache mir keine Hoffnung, daß so noble Gefühle angesichts der Hinrichtungsstätte standhalten: wir werden in Kürze sehen, ob ich wirklich diese anima stans et non cadens in mir habe, die unsere Philosophen beschreiben. Aber vielleicht legt man zu großen Wert auf den Grad von Standhaftigkeit, den ein sterbender Mensch beweist. «
»Meine Gegenwart macht euch nur noch verstockter«, sagte der alte Domherr voller Schmerz. »Ich lege dennoch Wert darauf, Euch, ehe ich Euch verlasse, auf einen rechtmäßigen Vorteil aufmerksam zu machen, den wir Euch sorgfältig aufgehoben haben und den Ihr vielleicht nicht erkannt habt. Wir wissen sehr wohl, daß Ihr einst aus Innsbruck geflohen seid, nachdem man Euch heimlich vor einem Haftbefehl, der vom örtlichen Kirchengericht ausging, gewarnt hatte. Wir bewahren Stillschweigen über diese Sache, die – wenn sie bekannt wäre – Euch in die unheilvolle Lage des fugitivus brächte und Eure Wiederaussöhnung mit der Kirche erschweren, wenn nicht unmöglich machen würde. Ihr bräuchtet also nicht zu befürchten, unnötigerweise gewisse Zugeständnisse zu machen . . . Ihr habt zum Überlegen noch eine ganze Nacht vor Euch . . . «
»Da habe ich nun den Beweis, daß ich mein ganzes Leben noch mehr bespitzelt worden bin, als ich angenommen hatte«, sagte wehmütig der Philosoph. Sie waren allmählich bis zur Tür gelangt, die der Wärter wieder geöffnet hatte. Der Domherr näherte sein Gesicht dem des Verurteilten.
»Was den körperlichen Schmerz betrifft«, sagte er, »so kann ich Euch versprechen, daß Ihr jedenfalls nichts zu befürchten habt. Der Monsignore und ich haben alle Anordnungen getroffen . . . «
»Ich sage Euch meinen Dank dafür«, erwiderte Zenon und erinnerte sich dabei nicht ohne Bitterkeit, daß er Florian und einem der Novizen vergeblich den gleichen Dienst erwiesen hatte.
Eine schwere Müdigkeit hatte den alten Mann überkommen. Die Idee, den Gefangenen entfliehen zu lassen, kam ihm in den Sinn; sie war absurd; man durfte nicht daran denken. Er hätte Zenon gern seinen Segen gegeben, fürchtete aber, daß dieser schlecht aufgenommen würde, und wagte aus diesem Grunde nicht, ihn zu umarmen. Zenon seinerseits machte eine Bewegung, um seinem alten Lehrer die Hand zu küssen, hielt sich aber zurück, da er befürchtete, diese Geste könnte etwas Unterwürfiges haben. Was der Greis für ihn zu tun versucht hatte, reichte nicht aus, um seine Liebe zu ihm zu erwecken.

[1]

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