Entmystifizierung des Zufalls
Ich will in diesem Beitrag versuchen – nun aber endgültig -; die in allen Fachgebieten zirkulierenden und sich teils widersprechenden Vorstellungen über den Zufall zu entmystifizieren. Die Definition des physikalischen Zufalls in der externen, vom Einfluss des Menschen unabhängigen Wirklichkeit, wie sie im Blogbeitrag hinter dem Link durch Thomas & Brigitte Görnitz formuliert wurde, erscheint mir als die plausibelste. Alles was geschieht, passiert innerhalb eines Möglichkeitsraumes, der durch die Naturgesetze und die Werte aller voneinander unabhängigen Einflussgrößen beschrieben werden kann. Wir können aber aus diesen Vorgaben nur vorhersagen, welche Ereignisse wahrscheinlich und welche sicher nicht eintreten werden.
Man kann das auch so ausdrücken, dass das hierdurch ausgewählte und somit kausal bestimmte Ereignis von den Anfangs-, Rand- und Nebenbedingungen am Ereignisort, also von dessen momentanen Zustandsgrößen, abhängt. Was aber nichts weiter bedeutet, als dass die Anfangswerte aller Einflussgrößen (der unabhängigen Variablen) zur betrachteten Zeit und am betrachteten Ort bekannt sein müssen. Diese Voraussetzung muss immer und trivialerweise erfüllt sein, will ich ein System von Gleichungen, in dem die allgemeinen Naturgesetze – im speziellen Fall komplexer Zusammenhänge (vieler Variablen und dynamischer Prozesse) von Differentialgleichungen – konkrete Gestalt erhalten, wenigstens angenähert, also numerisch, lösen. Die Rand- und Nebenbedingungen fassen bei Ereignissen mit grobkörnigen und trägen Objekten, wie sie vor allem die klassische Physik beschreibt, alle Variablen, die nur unwesentliche Veränderungen in der betrachteten Zeit und/oder von außerhalb des betrachteten, komplexen Systems zeigen, zu Konstanten zusammen.
Wie es überhaupt möglich ist, dass die klassische Physik das Verhalten der von ihr betrachteten Objekte als determiniert beschreiben kann, das hat Murray Gell-Mann in seinem Buch „Das Quark und der Jaguar. Vom Einfachen zum Komplexen – die Suche nach einer neuen Erklärung der Welt“ im Kapitel 11 „Eine moderne Interpretation der Quantenmechanik“ für den physikalischen Laien, der nicht mehr als die vier Grundrechenarten beherrschen muss, locker und verständlich beschrieben. Er betrachtet darin auch auf erfrischende Weise das leidige Scheinproblem mit Schrödingers halbtoter Katze. Selbst den Mythos lässt er nicht außen vor, dass nämlich unser Gefühl einen freien Willen zu besitzen, das uns hin und wieder mit heftig großem Stolz erfüllt, durch die quantenmechanische Unbestimmtheit bedingt sei; wobei er allerdings dieses wahrlich wonnige Wohlgefühl weise im Unbestimmten schmoren lässt – so wie es uns ja auch überfällt: unbestimmt. 😉
Was den „Entdecker des Quarkteilchens“ Gell-Mann als Physiker antreibt, drückt er in diesem Kapitel so aus: „Die theoretischen Physiker, die an der modernen Interpretation der Quantenmechanik arbeiten, möchten, dass die Epoche zu Ende geht, die unter dem Diktum von Niels Bohr stand: »Wer behauptet, über die Quantenmechanik nachdenken zu können, ohne verrückt zu werden, zeigt damit bloß, das er nicht das Geringste davon verstanden hat.«“
Erst die Gegenwart des Menschen im geschichtlichen (als Historiker) als auch im räumlichen Sinn (als Experimentator bei einer Messung) macht aus der Unbestimmtheit der Zukunft (die ja nur in seinem Kopf existiert) in der kurzen Dauer der Beobachtung bzw. Messung eine determinierte Vergangenheit in der es keinen Zufall mehr geben kann, weil nun im Prinzip alles gewesene Geschehen durch naturgesetzliche Ursachen in der einstigen Gegenwart erklärt werden kann, sofern man aller Ursachen/Variablen dieser singulären, nicht wiederholbaren Gegenwart habhaft werden könnte.
In der Geschichtsschreibung kann es im wissenschaftlichen Sinne keinen Zufall mehr geben, denn die Vergangenheit ist nicht mehr veränderlich bzw. veränderbar, sie bleibt wie sie geworden ist, auch wenn Ursachen und Wirkungen vom Historiographen auf Grund mangelhaften Wissens und nicht möglicher Verifizierung seiner Modelle einander nicht eindeutig zuzuordnen sind, – wie im Beitrag Geschichtsschreibung von Rusch erläutert.
Was in der Historiographie als Zufall der Geschichte kursiert, ist nichts weiter als die Bezeichnung für Einflussgrößen, die gänzlich bzw. als Zahlengröße unbekannt sind, weil häufig völlig nebensächliche Variablen, durch deren magersüchtige Schwankungen den letzten Impuls (Flügelschlag eines Schmetterlings) zum Umschlag von einer Qualität in eine andere (Bifurkation) liefern. Dass die Bändigung des Zufalls, also die Verleugnung der Nichtkenntnis aller unabhängigen Variablen eines geschichtlichen Geschehens, zur Ersatz-Konstruktion eines Mythos bzw. einer Ideologie führen muss, hat Kosellek sehr anschaulich im Aufsatz „Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ dargelegt. Luhmann hat dieses erfindungsreiche Verfahren hier herrlich sarkastisch so formuliert: „Damit würde das Problem jedoch auf eine erkenntnistheoretische Fassung und auf ein Paradox (Wissen gründet auf Nichtwissen) reduziert werden“. Aber so neu ist diese Idee auch nicht, da jeder Glaube, jeder Mythos, jede Ideologie schon immer nur einem einzigen Zweck dient: Nichtwissen durch Glauben zu ersetzen, um unser Bedürfnis nach Bestimmtheit zu befriedigen. Wie Luhmann im Folgenden den Zufall – übrigens auch er ideologisierend – erklärt, das kann Gell-Mann über den Begriff Körnigkeit plausibler formulieren. Luhmann meint zum Schluss des Zitats: Die Systemtheorie ist damit vorbereitet, Evolutionstheorie zu empfangen. Aber das erklärt natürlich noch nicht, wie Evolution möglich ist. Mit dem ersten Satz haut er voll daneben, mit dem zweiten Satz trifft er dann allerdings voll ins Schwarze! 🙂
Wie Evolution möglich ist, haben vor ihm bereits Humberto R. Maturana und Fransisco J. Varela in „Der Baum der Erkenntnis“ plausibel auseinander klamüsert. Von den beiden hat er ja auch seine autopoietischen Systeme abgeleitet, aber deren Wirkprinzipien nicht wirklich verstanden. Die „Information“ kann nämlich bei seinen autopoietischen Informationssystemen im physikalischen Sinne nur die Rolle der Energie in den biologischen autopoietischen Systemen übernehmen, es ist also vollkommen unsinnig von abgeschlossenen (autopoietischen), Information verarbeitenden Systemen zu reden – solche Systeme leben alleine durch den ungehinderten Durchfluss von Information, aus der durch das System alle für das System relevante Information ausgefiltert wird und nicht nutzbare, strukturlose Information als „Abfall“ (Entropie) abgegeben wird.
Außerdem war die rhetorische Frage Luhmanns, wie Evolution möglich ist, zu dem Zeitpunkt, als er sein Buch „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (1997 erschienen) schrieb, schon längst in den Grundzügen geklärt. Man muss dazu nur das Buch von Jacques Monod „Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie“ (1975) lesen, um dieses Grundprinzip naturwissenschaftlich als chemo-physikalischen Prozess begreifen zu können. Auch wenn Monod teilweise recht polemisch argumentiert, was aber aus der damaligen Zeit heraus als verständlich erscheinen mag, wenn auch aus heutiger Sicht völlig unnötig – die vorgelegten Tatsachen sprechen für sich. Diese hat Manfred Eigen in seinem Vorwort zu Monods Buch kurz, prägnant und leicht verständlich benannt. Der sogenannte Zufall der Informationsübertragung in den organisierten Protein-Nukleinsäure-Systemen, den Genen, ist nichts weiter als ein unvermeidbarer Übertragungsfehler, der zugunsten einer effizienten (energiesparenden) Übertragung der Information in Kauf genommen werden muss. Komplexe dynamische Systeme arbeiten am effizientesten in einem labilen Zustand, stets haarscharf am Chaos vorbei schlitternd (edge of chaos); sie verhalten sich dann aber nicht mehr besonders zielgerichtet m.a.W. nicht im effektivsten Modus, denn Ziel einer Genkopie ist eigentlich die fehlerfreie Übertragung der in ihnen gespeicherten Information.
Frank Michael Dittes schreibt in seinem Buch „Komplexität – Warum die Bahn nie pünktlich ist“ (Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012): „Edge of Chaos heißt für das System: Gehe an Deine Grenzen und bleibe dort. Entwickle Strukturen, die gerade noch beherrschbar sind. Nimm in Kauf, dass damit Störungen, Unfälle, ja Katastrophen verbunden sind, unter Umständen beliebig große!“ Manfred Eigen hat dieses Prinzip zwar anders, detaillierter, ausgedrückt, meint aber im Wesentlichen das Gleiche. Übrigens hätte eine absolut genaue Informationsübertragung der Gene die Evolution nie ermöglicht. Nur der Irrtum schafft Neues und wird nach seinem Erfolg als bisher angeblich verborgene Wahrheit geadelt. Aus dieser schlichten Tatsache der Evolution enthüllt sich uns im Satz Heideggers „Wahrheit ist lichtende Verbergung“ eine tiefe, schniefe Wahrheit – gleich einer verborgenen Schlüsselblume an Heideggers Feldweg. 😉
Wer nun leichtsinnig den quantenphysikalischen Messprozess erkenntnistheoretisch durch den gleichen Prozess beschreibt, der aus Sicht des Menschen die Möglichkeiten der Zukunft in der Gegenwart hin zu einer determinierten Vergangenheit wandelt, der liegt genau richtig! Unsere Welt besteht nur aus Informationen über die Welt da draußen, die uns unsere Sinne liefern, und aus sonst nichts, es ist eine Welt der Gedanken, wird sie als objektiv bezeichnet, dann nur, falls meine Gedanken über die Objekte und Prozesse der Welt da draußen, die mir meine Sinne erfahrbar macht, mit denen anderer Hirnis über die Sprache im Prozess des symbolischen Interaktionismus (Herbert Blumer) normiert werden konnten. Nur aus der Funktionsweise unseres Gehirns rühren die Gemeinsamkeiten der Beschreibung von Quanten- und der Lebenswelt.