André Gide über Aufrichtigkeit
„Das Wort ,Aufrichtigkeit’,- schreibt André Gide in den Nouveaux Prétextes – „ist eins von denen, die zu verstehen mir am schwersten wird. Ich habe so viele junge Leute gekannt, die auf ihre Aufrichtigkeit pochten! . . . Manche waren anspruchsvoll und unerträglich, andere brutal; selbst der Ton ihrer Stimme klang falsch . . . Im allgemeinen hält sich jeder junge Mann für aufrichtig, der Überzeugungen hat und unfähig zur Kritik ist. Und wie oft wird Aufrichtigkeit mit sans-gêne[1] verwechselt! . . . Nur die sehr banalen Seelen gelangen leicht zum aufrichtigen Ausdruck ihrer Persönlichkeit . . .“
„Ich habe hier“ – sagt Gide in der Vorrede zum Traktat vom verlorenen Sohn „Le retour de l’enfant prodigue“ – „für meine geheime Freude, wie man in den alten Triptychen tat, das Gleichnis gemalt, das unser Herr Jesus Christus uns erzählt hat. Indem ich die doppelte Eingebung, die in mir lebt, unentwirrt und unzusammengefaßt lasse, suche ich den Sieg keines Gottes über mich zu beweisen – und auch nicht meinen eigenen. Vielleicht würde indes der Leser, wenn er von mir einige Frömmigkeit fordert, sie nicht vergebens in meinem Gemälde suchen, wo ich mich wie ein Stifter in der Ecke des Bildes hingekniet habe, als Gegenfigur zum verlorenen Sohn, gleichzeitig wie ihm zulächelnd und das Gesicht von Tränen überströmt.“
Dieses Jasagen zur Komplexität des eigenen Lebensgehaltes ist die Haltung des wahrhaft Aufrichtigen. Wir loben die Einfachheit. Aber wenn die Einfachheit der Größe verehrungswürdig ist, so ist sie selten wie die Größe. Und jene andere Einfachheit, die aus Bequemlichkeit und innerer Armut kommt, hat den Adligen immer verächtlich gegolten. Weil er den größeren Reichtum zu bewältigen hat, braucht der lebendige Mensch, der Gide ist, längere Reifefrist. „Derjenige, an dem viel zu entwickeln“ ist – sagte Goethe – „wird später über sich und die Welt aufgeklärt. Es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fähig sind. Der Sinn erweitert, aber lähmt, die Tat belebt, aber beschränkt.“
Jede verfrühte Vereinfachung wäre Gide Lüge vor sich und den Menschen. Darum kann es für ihn Pflicht bedeuten, unentwirrt und unentschieden zu lassen, was sich in ihm durchwebt. Er darf nicht eine der Wirklichkeiten seiner Seele unterdrücken – darf den Sieg keines Gottes wollen, noch seinen eigenen. Nur der plumpe Intellekt wird hier vor Skepsis warnen. Die Unentschiedenheit des Skeptikers kann Schwäche und Versagen sein. Die Unentschiedenheit, die Gide meint, ist Stärke des Aufrichtigen, ist Glaube an die Seelenstimmen, – „Frömmigkeit.“
Ernst Robert Curtius
„Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich“