Was ist Wahrheit?
Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee? Søren Kierkegaard
„Pilatus sagte zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit? Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen.“„Das Neue Testament: Eine Übersetzung, die unsere Sprache spricht“ Joh 18,37
Chronos & C.J.Catalizer – Quid Est Veritas?
Da in dem vorigen Beitrag „Die Erkennbarkeit der Welt“ von mir und von Wittgenstein der Begriff der Wahrheit gebraucht wurde, ist es an der Zeit, die dort verwendete Bedeutung des Begriffes „Wahrheit“ zu definieren. Aus dem „Satz“ Wittgensteins kann abgeleitet werden, dass alles, was wirklich ist – will heißen: alles was der Fall oder Tatsache ist – auch wahr ist. Der Umkehrschluss gilt aber nicht. Es gibt abstrakte Gedanken (im Sinne Wittgensteins), die nur deshalb wahr sind, weil sie sich selbst nicht widersprechen, man nennt sie dann auch „kohärent“ oder zumeist einfach nur „konsistent“.
Konsistenz ist eine notwendige Bedingung für jede Form von Wahrheit, aber keine hinreichende, weil es verschiedene „Quellen der Wahrheit“ gibt. Diese Behauptung soll im Folgenden untermauert werden. Die Ursache dafür ist in den verschiedenen Formen der „Wirklichkeit“ zu finden: der subjektiven, der gesellschaftlichen und der externen Wirklichkeit.
Die externe Wirklichkeit ist das, womit sich die Naturwissenschaften beschäftigen und woraus sie ihre „Naturgesetze“ ableitet, indem sie beliebige Kontingenzen willkürlich mit anderen Kontingenzen verknüpft, um ein in Bezug auf die verfolgten Zwecke sinnvolles Modell (Theorie bzw. Naturgesetz) ihres gemeinsamen Auftretens aufzustellen. Die Absicht dabei ist, die Ungewissheit und Offenheit möglicher künftiger Entwicklungen zu verringern. Diese Modelle sind nur dann tatsächlich wahr, wenn sie mit den Tatsachen in der externen Welt übereinstimmen (korrespondieren), wenn also theoretisch vom Modell vorhergesagte Ergebnisse im Experiment bestätigt werden. Das Modell ist dann nicht „wahr“, wenn es durch die Ergebnisse des Experiments zurückgewiesen werden muss oder wenn das Konstrukt logisch sich selbst widerspricht, also falsifizierbar ist. Quelle der Wahrheit ist also in diesem Fall die notwendige Korrespondenz mit der externen Wirklichkeit. Aber eine wichtige Eigenschaft muss die „Wahrheit über die externe Wirklichkeit“ entsprechend der Relativitätstheorie Einsteins außerdem noch erfüllen: Naturgesetze müssen unabhängig von der Wahl des raum–zeitlichen Bezugssystems gelten! Sie sind also nicht „nur relativ“ gültig, wie umgangssprachlich Einsteins Idee missverstanden wird, sondern sie sind im Gegensatz zu dieser Lieschen Müller-Auffassung „invariant“ gegenüber der Wahl des Bezugssystems und daher sollte die Relativitätstheorie korrekter „Invarianztheorie“ genant werden.
Diese Forderung nach Invarianz auf die beiden anderen Wirklichkeiten übertragen hieße: Wahrheit darf nicht von der Art der subjektiven oder gesellschaftlichen Wirklichkeit abhängen. Sie muss invariant bzgl. der gesellschaftlichen oder persönlichen Einstellung – also von menschlichen Bevorzugungen, Bewertungen oder moralischen Einstellungen – oder deren Wandel sein. Den Invarianzforderungen der Naturgesetze entsprechen noch am ehesten die Menschenrechte des Humanismus.
Was aber ist von der Invarianzforderung der Wahrheit in diesen Wirklichkeiten, die eben nicht unabhängig von persönlichen oder „allgemeinmenschlichen“ Bevorzugungen, Bewertungen oder moralischen Einstellungen existieren, generell zu halten?
Die Quelle der Wahrheit in der subjektiven und auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist das Axiom, dass alle Modelle dieser Wirklichkeit letztlich nur ein Ziel verfolgen sollten: ein größeres, reicheres und befriedigenderes Leben des Individuums, seiner Angehörigen, einer Gruppe mit verpflichtenden Loyalitätsbeziehungen oder der gesamten Menschheit zu ermöglichen – es gibt keinen vom Willen zum Glück getrennten Willen zur Wahrheit.
Ich muss nun noch, um Missverständnissen vorzubeugen, den im Link erwähnten und vielgeschmähten Begriff „intersubjektiver Konsens“ definieren: Er hat keineswegs zum Ziel, dass man nach der Herstellung eines Konsens gleiche Bevorzugungen, Bewertungen oder moralischen Einstellungen vertreten müsse. Der Sinn eines Konsens ist im Gegensatz zu dieser etwas schlichten Denkweise, dass man trotz unterschiedlicher Bevorzugungen, Bewertungen oder moralischen Einstellungen einen Modus des möglichst gewaltfreien Zusammenlebens findet, in dem jeder nach seiner Façon glücklich werden könne, solange seine Bevorzugungen, Bewertungen oder moralischen Einstellungen das gleiche Recht darauf anderen nicht erschwert oder ganz unmöglich macht. Man muss Widersprüche aushalten lernen, denn nur Widersprüche generieren neue Ideen!
Die Sucht, mit anderen solange diskutieren zu müssen, bis sie meinen Standpunkt „verstehen“, halte ich für ziemlich unergiebig und außerdem für ein großes Übel, was letztlich nur dazu führt, dass der andere glauben muss, dass ich ihn von meiner Meinung überzeugen will und ihn in der Folge irgendwann gegen mich einnehmen muss. Ich kann nur dann mit jemandem – für beide Seiten befriedigend – diskutieren, wenn wir von vornherein in etwa gleiche Bevorzugungen, Bewertungen oder moralischen Einstellungen besitzen, also „mit der gleichen Wellenlänge“ schwingen oder im andern Fall vermeiden über das „belehrend“ zu reden, was zwischen uns nicht konsensfähig ist.
Wäre das nicht als „vernünftig“ zu bezeichnen?
Die Forderung nach Invarianz der Wahrheit in der subjektiven und gesellschaftlichen Wirklichkeit, die die Quelle der Wahrheit in einer angeblich allen Menschen gleichen „Natur“ vermutet, halte ich für die Keimzelle jeder Form von Totalitarismus, egal ob sie von Anarchisten, Gesetzestreuen, Idealisten, Konstruktivisten etc. gepredigt wird und was auch immer diese „Isten“ für eine ganz wunderbar verlockende Ideologie daraus kochen. Auch der Faschismus beruft sich auf eine angebliche wahre Natur des Menschen und bezeichnet jede höhere Form abstrakten Denkens als der menschlichen Natur „entartet“, das sollte uns gegenüber dem Argument einer invarianten „Natur des Menschen“ misstrauisch machen.
Der evolutionäre Erfolg des Menschen ist ja gerade dem Umstand zu verdanken, dass er weitgehend unabhängig von dieser „Natur“ abstrakte Entschlüsse zu fassen und danach zu handeln in der Lage war. Wenn er dabei unglücklich wurde, dann ist es dem Umstand zu verdanken, dass ihm ungerechtfertigt seine ganz individuellen Bevorzugungen, Bewertungen oder moralischen Einstellungen, sich dazu nur berufend auf eine willkürliche Ideologie über die „wahre Natur des Menschen“, beschnitten werden.
Die Lust, die jemand am Leben findet, kann er sowohl aus seinen Triebwünschen als auch aus seiner Fähigkeit zum abstrakten Denken schöpfen. Was einer aus seinem Leben macht, sollte ihm überlassen bleiben, solange er den Anderen das gleiche Recht zugesteht und deren Freiheit zu seinem eigenen Vorteil nicht unzulässig einschränkt.
Was Großkopferte der menschlichen Welt Kluges und weniger Kluges über Die Wahrheit zu sagen haben, habe ich hier zusammengetragen: Was ist Wahrheit? (Zitate)
Frank Goyke und Andreas Schmidt in „Sebastian Bleisch – Der Oscar Wilde von Schwerin„:
Wahrheit, so sind wir mittlerweile überzeugt, existiert nur in dem Augenblick, da etwas geschieht. Schon wenige Minuten später ist der Augenblick Erinnerung, wird er den eigenen Interessen angepasst, verklärt, je nach Persönlichkeit auf- oder abgewertet, gewertet in jedem Fall.