Khalil Gibran – Der Prophet

Sagt nicht:
„Ich habe die Wahrheit gefunden“,
sondern
„Ich habe eine Wahrheit gefunden.“
Sagt nicht:
Ich habe den Weg der Seele gefunden.“
Sagt:
„Ich bin auf meinem Weg der wandernden Seele begegnet.“
Denn die Seele wandelt auf allen Wegen.
Die Seele geht keinen geraden Weg,
noch wächst sie wie ein Schilfrohr.
Die Seele entfaltet sich,
gerade so wie ein tausendblättriger Lotos.
aus Khalil Gibran: Der Prophet
– Von der Selbsterkenntnis –

 

Khalil Gibran, fotografiert von Fred Holland Day, um 1898

Fragen voller Lebensweisheit und mystischer Reflexion, die wohl jeden bewegen, sind in seinem Werk „Der Prophet“ zu finden. Fragen an uns, die uns genügend Spielraum zum Nach-Denken, zum Selbst-Finden lassen. Fragen statt Antworten – anders als Luthers kindischer Starrsinn: „Hier stehe ich und kann nicht anders“, der die Christenheit spaltete, der halb Europa in einem dreißigjährigen Krieg entvölkerte. Luther war ein Zauberlehrling, der die Geister die er rief zu spät und voller Erschrecken gewahrte, ein Fanatiker der Gutes wollte und Böses schuf. Der wahre Zaubermeister lässt sich nicht von der eigenen Wahrheit blenden, denn

„Dein Weg ist nicht der Weg der Anderen,
deshalb zwinge niemanden, das zu tun,
was du für richtig hältst.“

Ja, Luther war klug, er war scharfsinnig, er war leidenschaftlich von seiner Wahrheit überzeugt – er war aber nicht weise, da er seine Wahrheit in ein Schwert verwandelte: „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“. Ich kann den Satz: „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens“ nicht mehr nachvollziehen; der Glaube an meine persönliche Wahrheit gibt mir zwar Kraft – aber nicht um andere Menschen zu missionieren, sondern in ihrer Besonderheit anzuerkennen und ihren Traum vom Leben freudig zuzulassen als Bereicherung meiner eigenen Erfahrung.

Denn jeder Stern ist schön,
und Du sollst die Schönheit
des Lebens nicht verringern

»Aber wenn du in deiner Angst nur die Ruhe und die Lust der Liebe suchst, dann ist es besser für dich, deine Nacktheit zu bedecken und vom Dreschboden der Liebe zu gehen. In die Welt ohne Jahreszeiten, wo du lachen wirst, aber nicht dein ganzes Lachen, und weinen, aber nicht all deine Tränen« (Khalil Gibran: Der Prophet – Von der Liebe).

Der Held des Buches ist der Prophet Almustafa, der im Hafen einer fremden Stadt, die zwölf Jahre sein Wohnsitz war, das Schiff erwartet, das ihn in seine Heimat zurückführen soll. Während des Wartens wird er von einzelnen aus der ihn umringenden Menge nach vielen Dingen befragt. Seine in kurzen, vielsagenden Reden gegebenen Antworten bilden den Kern des Buches. Nach diesen das ganze weltliche Denken umspannenden Belehrungen besteigt der Prophet das Schiff, das ihn nach Osten davonträgt.



 

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