Johann Sebastian Bach: Das Orgelbüchlein (BWV 599 – 644)
Ich habe diese Choralvorspiele mit Samples der Rieger-Orgel im Konzerthaus Wien eingespielt.
Albert Schweitzer über die Choräle des Orgelbüchleins:
Im eigentlichen Choralvorspiel scheint Bach zunächst die von Pachelbel, Böhm, Buxtehude und Reinken überkommenen Formen gepflegt zu haben. Gegen das Ende der Weimarer Zeit aber wird er seinen Meistern gegenüber selbständig und stellt einen eigenen Typus auf: das Choralvorspiel des Orgelbüchleins. In diesem geht die Melodie als cantus firmus, gewöhnlich in der Oberstimme, unverändert und ohne Unterbrechungen ihres Weges, umspielt von einem Motiv, das nicht aus einer Melodiezeile gebildet, sondern frei erfunden ist. Dieses Motiv ist dem Choraltext entsprungen und enthält den poetischen Gedanken, den Bach als für die Musik charakteristisch und in der Sprache der Töne ausdrückbar ansah. So sind im Choralvorspiel des Orgelbüchleins die Melodie und der Text zugleich vertreten, insofern als der cantus firmus durch das charakteristische Motiv poetisch illustriert wird. (Eine eigentliche Neuschöpfung ist das Choralvorspiel des Orgelbüchleins nur insoweit, als das frei erfundene Motiv für den Text charakteristisch ist. Rein formell betrachtet, stellt es sich als eine Abart der Buxtehudeschen kleinen Choralphantasie dar)
Damit hat Bach das Ideal des Choralvorspiels aufgestellt und verwirklicht. Das Verfahren ist das denkbar einfachste und zugleich das vollendetste. Nirgends zeigt sich der Dürersche Charakter seiner musikalischen Darstellung so, wie gerade in diesen kleinen Choralvorspielen. Einzig durch die knappe, charakteristische Linie des kontrapunktischen Motivs drückt der Meister alles aus, was gesagt werden muß, damit die Beziehung des Stückes auf den Text, dessen Überschrift es trägt, klar dastehe.
Das Orgelbüchlein hat also nicht nur eine Bedeutung im Rahmen der Entwicklung des Choralvorspiels, sondern es ist eines der größten Ereignisse in der Musik überhaupt. Nie zuvor hatte jemand Texte so in reine Musik hineingezwungen; später unternahm es niemand mehr mit so einfachen Mitteln. Zugleich tritt in diesem Werke das Wesen der Bachschen Kunst zum ersten Male klar zutage. Er findet keine Befriedigung in der klanglichen Vollendung der Form, sonst hätte er sich in den Formen und Formeln seiner Lehrer im Choralvorspiel weiter bewegt. Sein Streben geht weiter: er ringt nach plastischem Gedankenausdruck und kommt dazu, sich eine Tonsprache zu schaffen. Die Elemente einer solchen Sprache liegen im Orgelbüchlein vor: die charakteristischen Motive der verschiedenen Choräle entsprechen ebenso vielen Ausdrücken für Gefühle und Bilder, die Bach in Tönen wiederzugeben sich getraut. Darum ist das Orgelbüchlein das Wörterbuch der Bachschen Tonsprache. Von hier muß man ausgehen, wenn man verstehen will, was er in den Themen der Kantaten und Passionen ausdrücken will. Weil man die Bedeutung des Orgelbüchleins nicht erkannte, blieb der Grundcharakter der Bachschen Kunst fast bis in die allerletzte Zeit dunkel und strittig.
Aus dem Titel freilich geht die universelle Bedeutung dieser Sammlung nicht hervor. Er lautet:
»Orgelbüchlein, Worinne einem anfahenden Organisten Anleitung gegeben wird auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen, anbei auch sich im Pedalstudio zu habilitiren, indem in solchen darinne befindlichen Chorälen das Pedal gantz obligat tractiret wird. Dem Höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nechsten draus sich zu belehren. Autore Joanne Sebast. Bach. p.t. Capellae Magistro S. P. R. Anhaltini-Cothinensis.«
Das Autograph befindet sich auf der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Es zählt zweiundzneunzig Blätter und ist in Pappe mit Lederrücken und Ecken eingebunden. Über jede Seite schrieb Bach zum voraus den Titel des Chorals, der darauf figurieren sollte, so daß er, wenn der Platz für eine Komposition nicht reichte, unten Papierstreifen ankleben oder sich mit der Tabulatur behelfen mußte. Alle diese Choräle sind in Weimar entstanden. In Cöthen trug er sie dann in Reinschrift in sein Prachthandexemplar ein. Es existiert sogar noch ein Weimarer Autograph des Orgelbüchleins, das früher Mendelssohn Bartholdy gehörte. Die Seiten mit den zwölf ersten Chorälen fehlen. Auf dem Umschlag ist vermerkt, daß der Besitzer drei weitere Blätter herausgeschnitten hat; zwei, um sie seiner Braut ins Stammbuch zu schenken, eines für Frau Clara Schumann.
Die Choräle figurieren in der Reihenfolge des Kirchenjahres. Das hat nichts Verwunderliches, wenn man sich erinnert, daß damals jeder Sonntag seine ihm ein für allemal gehörigen Lieder hatte, und daß auch andere Organisten zu jener Zeit — z. B. Walther in Weimar — derartige Jahreszyklen von Choralvorspielen schufen. In den Einzelheiten der Gruppierung, besonders was die Choräle der Festzeiten anging, war jedoch naturgemäß dem einzelnen ein gewisser Spielraum gelassen. Diese Freiheit nützte Bach in der feinsinnigsten Weise aus. Er stellte die Choräle so zusammen, daß die der Weihnachtszeit ein Miniaturweihnachtsoratorium, die der Leidenszeit eine Passion, die der Osterzeit ein Osteroratorium bilden18. Auch sonst mögen einzelne Kontrastwirkungen auf seine Rechnung kommen. Der Choral »Das alte Jahr vergangen ist« (BWV 614) ist eine schmerzliche Betrachtung in der Dämmerung des zu Ende gehenden letzten Abends; darauf folgt der von der Sonne des neuen Tages durchleuchtete Jubelgesang »In dir ist Freude« (BWV 615). Von den beiden auf die Darstellung im Tempel und den Lobgesang Simeonis bezüglichen Chorälen schildert der erste »Mit Fried’ und Freud ich fahr dahin« (BWV 616) die freudige, der andere »Herr Gott nun schleuß den Himmel auf« (BWV 617) die schmerzliche Todessehnsucht. Auf das grausige Lied von der Ursünde »Durch Adams Fall« (BWV 637) folgt alsbald der Hymnus von der Erlösung in Christo »Es ist das Heil uns kommen her« (BWV 638).
Das Orgelbüchlein ist kaum zu einem Drittel vollendet. Das Cöthener Handexemplar Bachs ist auf hundertneunundsechzig Choräle berechnet; davon sind fünfundvierzig ausgeführt; die andern existieren als weiße Seiten.
Wie ist dies zu erklären? Kam die Ernennung nach Leipzig dazwischen und verhinderte die Fortsetzung des Werkes? Warum hat Bach es dann aber nicht wieder vorgenommen, als er später sich nochmals den Choralvorspielen zuwandte? Daß er die Fertigstellung der Sammlung definitiv aufgab, muß einen inneren Grund gehabt haben.
Vollendet sind in der Hauptsache die unter sich zusammenhängenden Choräle auf die Festzeiten und von den übrigen diejenigen, die durch ein Bild oder eine stark charakterisierte Stimmung sich der Musik wie von selbst anboten. Die Texte der nicht in Angriff genommenen Nummern haben diese musikalischen Eigenschaften nicht. Es ließ sich aus ihnen kein charakteristisches Motiv gewinnen; sie waren nur nach der musikalischen, aber nicht nach der dichterisch-darstellenden Seite zu bearbeiten. Nun sollten aber alle Choräle dieser Sammlung kleine Tongemälde sein. Da dieser Plan nach der Lage der Dinge unausführbar war, zog Bach vor, die Sammlung unvollendet zu lassen. Wie streng er an dem für das Orgelbüchlein aufgestellten charakteristischen Typus festhielt, ersieht man daraus, daß er schöne Choräle wie »Herzlich tut mich verlangen« (BWV 727) und »Liebster Jesu wir sind hier« (BWV 731), die hinsichtlich der Dimensionen hineingepaßt hätten, nicht aufnahm, trotzdem sie damals sicherlich schon existierten, weil sie sich nicht auf einem charakteristischen Motiv erbauen.