Julia Shaw: Meine Version der Wahrheit

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Erinnerungen gelten allgemein als authentisch, besonders auch als Zeugenaussagen vor Gericht. Forscher konnten nun nachweisen, dass sich dem Gedächtnis Erinnerungen von Ereignissen einpflanzen lassen, die nie stattgefunden haben. Wie genau entstehen falsche Erinnerungen und wie lassen sie sich von den wahrhaftigen unterscheiden?

Zitat aus dem Buch von Julia Shaw
DAS TRÜGERISCHE GEDÄCHTNIS, Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht
Aus dem Englischen von Christa Broermann, Carl Hanser Verlag, 2016

Nachdem uns Julia Shaw  in ihrem Buch DAS TRÜGERISCHE GEDÄCHTNIS an Beispielen und mit Experimenten bewiesen hat, wie unzuverlässig unser Gedächtnis funktioniert, ja wir uns sogar an Geschichten als unbezweifelbar wahr erinnern, die nie geschehen sind, macht sie in diesem Kapitel deutlich, dass dies in vielen Fällen auch eine Voraussetzung dafür sein kann, dass wir uns mit unserer Vergangenheit – also mit unserem bisher gelebten und erfahrenen Leben – glücklich fühlen können.

MEINE VERSION DER WAHRHEIT

»Wie leben Sie damit?« Diese Frage bekomme ich ständig zu hören. Gemeint ist damit offenbar, wie ich es fertigbringe, nicht in einen Zustand dauerhafter Verzweiflung zu fallen, weil ich doch weiß, dass ich meinem Gedächtnis nicht trauen kann. Eine meiner Studentinnen sagte einmal, als ich anfing, über dieses Thema zu sprechen: »Ich weiß nicht einmal mehr, was wirklich ist.«
Können wir glücklich sein, obwohl wir wissen, dass unsere Erinnerungen ausgesprochen fragwürdig sind? Absolut. Sogar glücklicher, würde ich behaupten. Wir sind dadurch weniger gefährdet, Opfer unserer eigenen Erinnerungen zu werden, und können zumindest ein gewisses Maß an Kontrolle über diesen schwer fassbaren Prozess ausüben. Es mag uns erschrecken, wenn wir bedenken, dass alle unsere Erinnerungen in kleinerem oder sogar größerem Maße fehlerhaft sind. Aber das bringt eine flexible Kreativität in die Realität. Die Erinnerung ist sowieso persönlich und subjektiv. Wenn wir also in der erstaunlich alltäglichen Situation sind, dass wir vor zahlreichen Interpretationen oder Versionen von Ereignissen stehen und keine unabhängigen externen Belege haben, die uns zu dem Wissen verhelfen, was tatsächlich geschehen ist, können wir uns die Variante aussuchen, die uns am besten gefällt. Uns allen ist unsere eigene Version der Wahrheit am liebsten – aber wenn wir Gedächtnisprozesse verstehen, können wir das Leben aktiv gestalten, und zwar so, dass es unser Glück und das Glück der Menschen in unserem Umkreis maximiert. Es ermöglicht uns, das Leben mit einem Sinn für magischen Realismus zu behandeln, ihm unsere eigene Farbe zu geben.
Wenn wir die Fehlbarkeit des Gedächtnisses verstehen, erlaubt uns das auch, den Vermarktungsstrategien zu widerstehen, die unsere angeborenen Wahrnehmungsverzerrungen auszunutzen versuchen, wie dem »Bestellen Sie jetzt, bezahlen Sie später«-Modell, das in einem früheren Kapitel dargestellt wurde. Es macht uns weniger anfällig dafür, unsere Erinnerungsfähigkeit zu überschätzen. Das ermöglicht uns, auf Draht zu sein, damit wir Entscheidungen fällen können, die in Wahrheit wesentlich vorteilhafter für uns sind, und weniger von kognitiven Verzerrungen beeinflusst werden, von denen wir nicht einmal wissen, dass sie aktiviert sind. Wenn wir unseren Erinnerungen kritisch gegenüberstehen, macht uns das zu besseren Konsumenten von Information.
Es führt auch dazu, dass wir unsere alltäglichen Meinungsverschiedenheiten mit Freunden und Familienangehörigen besser verstehen oder auch öffentliche Debatten in den Medien – wie die um Brian Williams im Helikopter. Menschen, von denen wir früher einmal angenommen haben, dass sie lügen, können wir uns jetzt mit Mitgefühl nähern, was von entscheidender Bedeutung ist. Wir wissen, dass sich Menschen in ihren Erinnerungen fundamental irren können und Dinge glauben, die nie geschehen sind. Und gerade wenn Erinnerungsversionen gut zu dem passen, was wir unserer Meinung nach sind oder wenigstens sein wollen, werden diese Erinnerungen mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit Teil unserer wahrgenommenen persönlichen Vergangenheit.
Erinnern Sie sich an die Geschichte von Brian Williams, den in Ungnade gefallenen Nachrichtensprecher, von dem in Kapitel 7 die Rede war? Wahrscheinlich gefiel ihm die Vorstellung, er sei unter Beschuss geraten, als er in einem Hubschrauber saß, sodass er, als er sich falsch zu erinnern begann, vermutlich dieser Erinnerung gegenüber nicht so kritisch war, wie er hätte sein sollen. Zwar können wir niemals sicher wissen, ob uns jemand anlügt oder nicht, aber jetzt können wir zumindest anerkennen, dass solche Situationen aus einem Akt der Erinnerungstäuschung entstehen könnten.
Dieses Wissen macht uns auch klar, dass diejenigen, die mit dem Rechtswesen zu tun haben, seien es Opfer, Zeugen, Verdächtige und sogar die Polizei, mit ihren Erinnerungen durcheinanderkommen können. Es sorgt dafür, dass wir Berichte nicht mehr unkritisch als zuverlässig und wahr akzeptieren, wenn es kein unabhängiges Beweismaterial gibt, das sie bestätigt. Es ist so, wie die einflussreichste Expertin der Welt für falsche Erinnerungen, Elizabeth Loftus, in ihrem phantastischen TED-Vortrag im Jahr 2013 sagte:

»Die meisten Menschen schätzen und lieben ihre Erinnerungen, wissen, dass sie ihre Identität repräsentieren, das, was sie sind und wo sie herkamen. Und das erkenne ich an. Ich habe dieses Gefühl auch. Aber ich weiß aus meiner Arbeit, wie viel Fiktion schon allein darin steckt. Wenn ich aus meiner jahrzehntelangen Arbeit mit diesen Problemen irgendetwas gelernt habe, dann das: Wenn mir jemand etwas erzählt, voller Vertrauen in die Richtigkeit der Erinnerung, mit vielen bunten Details und voller Emotionen, heißt es noch lange nicht, dass es wirklich geschehen ist.«

Dieses Wissen hat die Macht, das Rechtswesen zu revolutionieren und dazu beizutragen, Fehlurteile der Justiz zu verhindern. Das Wissen darum, dass unser Gedächtnis unzuverlässig ist, inspiriert uns auch dazu, genau zu ergründen, wie und wann Gedächtnisprozesse versagen. Für mich hat es sich als ungeheuer faszinierendes Unternehmen erwiesen, zu versuchen, diesen Erinnerungstäuschungen im Labor auf den Grund zu gehen und praktische Nutzanwendungen für die Polizei, das Militär und die Geschäftswelt zu entwickeln. Ich hoffe, das wird auch für Sie gelten, denn Sie können überall nach Anwendungen suchen und ein Füllhorn voller Faszination und Spannung finden, weil Sie einen Prozess als erstaunlich erkennen, den wir nur allzu oft als selbstverständlich hinnehmen. Wie und warum wir uns erinnern, ist ein Thema, das nie veraltet.
Zu guter Letzt erlaubt uns ein Verständnis all der Schwächen, die unserem Gedächtnissystem anhaften, zu einem ganz neuen Ethos zu gelangen. Unsere Vergangenheit ist eine fiktionale Repräsentation, und das Einzige, dessen wir uns einigermaßen sicher sein können, ist das, was in der Gegenwart geschieht. Das ermutigt uns dazu, in der Gegenwart zu leben und unserer Vergangenheit nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Es zwingt uns, zu akzeptieren, dass die beste Zeit unseres Lebens und auch unserer Erinnerung genau jetzt ist.
Und so verlasse ich Sie. Ich hoffe, dass Sie alles, was Sie aus diesem Buch gelernt haben, in die Zukunft mitnehmen. Verbreiten Sie die Kunde von den Erinnerungstäuschungen und nutzen Sie Ihre neu gewonnenen Erkenntnisse über unsere Gedächtnisprozesse, um Ihr Alltagsleben ein kleines bisschen besser zu machen.

JULIA SHAW, 1987 in Köln geboren und in Kanada aufgewachsen, ist Rechtspsychologin. Sie lehrt und forscht an der London South Bank University. Shaw gehört zu den führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der falschen Erinnerungen. Sie berät Polizei, Bundeswehr und Rechtsanwälte bezüglich ihrer Befragungsmethoden. Shaws Kolumne War da was, Frau Shaw? erscheint regelmäßig auf Spiegel Online. Über ihre Arbeit berichteten u. a. Der Spiegel, The Times und The Telegraph.

www.drjuliashaw.com
und bei Twitter:
@drjuliashaw

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