Das Land der armen Leute 8

„Ich bin auf der ganzen hohen Rhön von keinem Menschen angebettelt worden. Ich habe ganz allein, lediglich mit einem tüchtigen Eichenstock, flinken Beinen und einem frischen Wandermut bewaffnet, die weitgedehnten Wälder und die schaurig öden Hochflächen durchwandert. In der tiefen Einsamkeit bei wildem Schneesturm und bei sinkender Nacht sind mir oft seltsam zerlumpte ‚verwogene’ Gestalten begegnet. Aber es hat mir niemand ein Leides getan. Und doch würde meine geringe Reisebarschaft für eine hungrige Rhönerfamilie ein Kapital gewesen sein, von dem sie flott hätten leben können bis zur nächsten Kartoffelernte. Erst als ich in die begünstigteren Täler der Fulda und Kinzig niederstieg, strömten mir Bettelleute zu Scharen entgegen. Hier hebt die moderne Not an, hier wird die Armut selbstbewußt, der Arme bespiegelt sich in seinem Elend, trotzt und spekuliert auf dasselbe. Es könnte einer gegenwärtig über die ganze hohe Rhön reisen, ohne den erhöhten Notstand überhaupt wahrzunehmen, während er nicht einmal im Postwagen von Fulda nach Hanau fahren kann, ohne daß ihm allenthalben das düsterste Bild der Armut entgegentritt. Neben den Bettelleuten flutet auf dieser Straße jetzt ein wahrer Strom von Auswanderern. Bei Hanau begegnete ich einem Weib aus dem Fulder Land, welches als einziges Reisegepäck ein etwa vierteljähriges Kind aus dem Arm trug! Und in dieser Verfassung hatte sie sich zu Fuß nach einem Seehafen auf den Weg gemacht!
In den Studien unsrer Sozialisten über die Armut wird man jenen Rhöner Schlag von naiven, entsagenden Armen, die gleichsam seit ihrer Urahnen Zeit erbgesessen sind in Not und Mangel, wenig berücksichtigt finden, denn er paßt ihnen nicht ins theoretische Konzept. Aber um so erschütternder fordern gerade diese historischen, von eherner Naturgewalt niedergehaltenen Armen, die nicht trotzen und nicht aufbegehren, das menschliche Mitgefühl heraus. Im Ulstertale sah ich einen zerlumpten alten Mann, dem das Elend aus den Augen lugte. Er hatte sich an einen Rain, wo die Sonne den Schnee weggeleckt, auf dem noch halbgefrorenen Boden gelagert, um sich allem Anschein nach von den matten Morgensonnenstrahlen erwärmen zu lassen. Ich ging langsam an ihm vorüber; allein er sprach mich um keine Gabe an. Dieser silberhaarige Greis, der genug daran hatte, daß ihn die Sonne beschien, wuchs vor meinen Augen zu einer Heldengestalt von antikem Gepräge, und ist es doch höchstens nur ein verkommener Kochlöffelschnitzer gewesen.
Auf der hohen Rhön ging es den weltverlassenen Dorfbewohnern durchaus nicht in den Kopf, daß ich lediglich aus eigenem Antrieb zur Beobachtung einer so eigentümlichen Art der Verarmung im Schneegestöber ihr rauhes Land durchwandere. Ich merkte wohl, daß sie mich zumeist für einen verkappten Regierungskommissär ansahen. Sie ließen sich’s nicht träumen, daß ihre Armut eine höchst interessante Armut sei. Städtische Proletarier wissen bereits recht gut, daß ihre Lumpen neuerdings interessant geworden sind.“



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