In der Fischbach

Etwa zwei Kilometer vom Dorf entfernt, in einer großen Waldlichtung in Richtung des Baiershofes gelegen, war die Fischbach für uns Kinder ein besonders märchenhafter Flecken zum Kühe hüten. Ein Bach mit trinkbarem Wasser durchfließt diesen idyllischen Ort, sein Name Fischbach kommt nicht von ungefähr – fischreich ist der Fischbach einst wohl gewesen.
Doch das armselige Rinnsal, welches heute die Wasserversorgung für Stadtlengsfeld übrig gelassen hat, kann den Bachlauf kaum mehr nässen und Fische haben schon lange keine Chance mehr zu überleben.
Alle Wiesen sind durch Heckenreihen eingezäunt, es gibt keine Felder mit Klee oder Lupinen, wie das Feld von Mooste am Baier neben unserer Wiese. Dort mussten wir ständig auf die Kühe Acht geben, sie fressen außerordentlich gerne Klee und Lupinen. Doch zu viel davon ist schädlich, denn während der Verdauung werden so viele Gase gebildet, dass den Kühen die Mägen platzen könnten. So konnten wir hier fast entspannt unseren Hobbys nachgehen.
In der Fischbach lebten bis vor etwa einhundertundfünfzig Jahren noch Menschen, danach zogen die Bewohner nach Gehaus um. Man sagt, dass dem Gehauser Grafen die Wilderei in den Wäldern und im Fischbach zu viel wurde und daher die Einwohner nach Gehaus umsiedeln mussten.
Ein bequemes Leben im Wohlstand hatten die Fischbacher Einwohner (1820 sollen es 24 gewesen sein) in ihren zuletzt 14 armseligen Hütten wohl kaum. Die Schulkinder konnten nur zu Fuß in die entfernte Schule von Gehaus kommen. Doch auch damals gab es schon eine Schulpflicht. So wurde in einem Protokoll aus dem Jahr 1824 vom Schulvorstand beim Großherzoglichen Staatsanwalt gegen die Anna Barbara Hoßfeld aus der Fischbach sogar Gefängnis oder körperliche Bestrafung (wohl als Zwangsarbeit zu verstehen) beantragt, weil sie „ihren 14-jährigen, noch nicht konfirmierten Sohn Johannes so wenig zur Schule angehalten hat, dass dieser noch nicht einmal buchstabieren könne.“ Im Winter war der Schulbesuch sicher eine Strapaze, da kann ich schon verstehen, dass die Schule öfters geschwänzt wurde – und wer weiß, wie oft der Junge auch im Sommer zu Hause helfen musste. Die Fischbacher waren Tagelöhner, keine Bauern, sie hatten demzufolge kein regelmäßiges Einkommen.
Vom Flecken Fischbach blieben nur Grundmauern der Hütten, Beerensträucher und Fliederbüsche aus den Gärten der Bewohner zurück. Jedoch die bewerkenswerteste Erinnerung an damals war die 250 Jahre alte Steinlinde, ein Ungetüm mit einem riesigen Stammumfang von fast fünfeinhalb Metern. Es brauchte eine ganze Schar Kinder, um sie zu umfassen. Leider steht diese alte Linde nicht mehr, einer Sturmböe konnte der teilweise morsche Stamm nicht widerstehen.
Als Kinder haben wir mit unserer Mutter hier Lindenblüten gepflückt, getrocknet und mit kochendem Wasser überbrüht wurde daraus Tee, er wurde von uns ebenso oft getrunken wie Kamillen- und Pfefferminztee. Schwarzer Tee war mir jedoch als Kind vollkommen unbekannt.
In den Wäldern der Fischbach, in Richtung Weilar, haben wir nach der ersten Heuernte auch Heidelbeeren gesammelt. Mutter ging mit uns Kindern und manchmal auch Bekannten morgens mit einer Kötze (ein eckiger Weidenkorb, der auf dem Rücken getragen wurde), mehreren Eimern und kleinen Sammelbechern tagelang hintereinander, wenn es die Feldarbeit zuließ, in diesen Wald. Hinwärts enthielt die Kötze unsere Verpflegung für einen ganzen Tag, abends waren die Eimer voll Beeren, einer davon kam in die Kötze, die anderen Eimer wurden am Henkel nach Hause geschleppt. Ungeachtet der Müdigkeit, die nach dem langen Marsch in unseren kurzen Beinen zwickte, mussten abends die mitgebrachten Heidelbeeren noch sortiert werden, d.h. von Blättern und anderen Fremdkörpern befreit werden. Eine Delikatesse nach diesem langen Tag: ein Teller voll frischer Milch mit Heidelbeeren und ein Stück Brot. Hin und wieder schleppten wir Kinder auch einen Holzbock (Zecke) mit nach Hause, der sich an empfindlicher Stelle in die Haut eingebissen hatte und nun vom gesaugten Blut ganz dick wurde – eine heikle Prozedur, diesen vollständig zu entfernen, ohne dass der Kopf abriss!

Den Mut, alleine in der Fischbach zu hüten, hatte ich jedoch nicht. An einem Sommertag in der Grundschulzeit war ich mit Schrane Doris, dem Mädchen aus dem Nachbarhaus, mit unseren beiden Kuhherden dort. Das Flurstück, auf dem die Riesenlinde stand, gehörte nämlich den Schrans. Wir vertreiben uns die Zeit mit unseren Spielen und Erzählen. Eines Tages jedoch, vollkommen vertieft in unserem Kinderkram, fuhr uns plötzlich eine Stimme aus dem Nichts heraus harsch an. Todesstarr vor Schrecken sahen wir zunächst niemanden, doch nach einer scheinbar endlos langen Weile trat der Schäfer, der hier seine Schafherde weidete, hinter einem Gebüsch vor. Er war aus Mariengart, mein Vater hat ihn sich später gekauft, nachdem wir vollkommen verstört mit unseren Herden im Dorf ankamen. Danach traute ich mich lange Zeit nicht mehr zum Hüten in die Fischbach. Dieser Schäfer war offensichtlich ein richtiger Dabber, so sagt man bei uns zu Trotteln.
Erst als ich schon die Oberschule besuchte, bin ich mit Schusters Günther, Freund und Nachbarsjunge, wieder in den Sommerferien zum Hüten in die Fischbach gezogen. Nun waren es aber Abenteuerhefte, die uns die Zeit vertrieben. Die Kühe kamen ganz gut alleine mit sich und dem Weiden klar, weit weg konnten sie sich nicht verlieren. Abends trieben wir die satten Kühe mit Eutern voller Milch nach Hause. Und unsere Köpfe waren gefüllt mit Kriminalfällen, die uns bei Gelegenheit den Unterschied zwischen Realität und Fantasie vergessen ließen.


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