Das Land der armen Leute 6

Als es mich zur Zeit der schweren Not des Nachwinters von 1852 hinaus auf die Rhön getrieben hatte zu den armen Leuten, schrieb ich unter andern folgende Sätze nieder, die hier als eine summarische Rückschau auf das bisher Gesagte eine Stelle finden mögen:
Es lag eine dunkle Wolke auf den Bergen, und wo der Sturm das Gewölk zuzeiten zerriß, schaute ich von meiner schnee- und eisbedeckten hohen Warte auf beschneite Bergkuppen hinab und in winterstarre Talgründe, in denen die Hütten der Dörfer ausgestreut lagen, grau und formlos, gleich den Basaltblöcken ringsumher, daß das Auge die einen von dem andern nicht zu unterscheiden vermochte.
Ich stand auf dem Arnsberge, einem steilen Basaltkegel der Rhön, der mitten inne liegt zwischen zwei der ärmsten Striche des Gebirges, dem Dammersfeld und der Kreuzberggruppe, gleich einem Wartturme vor den Toren dieser Hofburg der Armut und des Elendes. Es war aber am 28. März dieses Jahres, am Tage Mariä Verkündigung, und drunten im Maingrunde war heute ein lauer, sonniger Frühlingstag. Heitere Menschen werden ins Freie geströmt sein, um sich an dem ersten Gezwitscher der Vögel, an den ersten Veilchen und dem blauen Himmel zu erfreuen, und nur im Hintergrund erblickten sie einen dämmernden, wogenden Nebel, der das Gebirge verhüllte. Das ist der große düstere Vorhang, der sich in jedem Frühjahr an warmen, klaren Märztagen vor der weitgedehnten Basaltkette der Rhön, des Vogelsberges und des Westerwaldes niedersenkt, und die wenigsten Talbewohner wissen, wieviel Eis und Schnee, Hunger und Kummer, Seufzer und Tränen dieser Vorhang jahraus, jahrein verbergen muß. Gleich einer zyklopischen Schutzmauer schließen die drei Gebirgszüge von der Südwestspitze Thüringens bis zum Siebengebirge den gesegnetsten Winkel Deutschlands, den Rheingau und den untern Maingrund, schirmend gegen Norden und Osten ab. Hier trifft der Nordsturm den armen Kartoffelbauer dreifach, damit der rheinische Weinbauer die Rebe während des kältesten Winters frei am Pfahle kann stehen lassen und sie nicht gleich dem schwäbischen Winzer mühselig loszupfählen, umzulegen und mit dem Winterbett einer Erdscholle zu decken braucht; hier werden im Sommer die übermächtigen Regenmassen zurückgehalten, damit sie den Wein auf den südlichen Rebenhängen nicht in Wasser verwandeln; es sind diese drei Bergketten zwei Dritteile des Jahres mit dem Fluch eines hochnordischen Klimas beladen, damit uns der Rhein- und Maingrund ein Italien in Deutschland vordichten könne. In diesen Bergen und ihrem rätselhaft abenteuerlichen Widerspiel zu den umliegenden Gauen hat es die Natur mit Lapidarbuchstaben schriftlich gegeben, daß die Ungleichheit das oberste Grundrecht aller organischen Entwicklung sei.
Frühling und Winter lagen hier so eng zusammengerückt, wie man es außerdem nur auf den Alpengebirgen des Südens finden wird. Vor drei Stunden noch hatte ich unten im Brendtale geglüht vor Sonnenhitze, daß ich kaum den  Mantel ertragen konnte, während bei dem Dorf Oberweißenbrunn am Fuß des Arnsberges mein Bart bereits vereist und fest gefroren war, und hier oben aus dem Gipfel bei der eisigen Nordluft und dem fußtiefen Schnee eine plötzliche Ermattung mir trotz dem Mantel den sichern Tod des Erfrierens gebracht hätte. Der bayerische Topograph Walther erzählt von einem russischen Soldaten, der im Wonnemond erfroren ist auf diesen Bergen, die im Durchschnitt nicht viel höher liegen als die Stadt München.



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