Das Land der armen Leute 2

Die Stetigkeit der Sitte, dazu auch das ökonomische Verwildern und Zurückbleiben der Bauern unsrer Basaltgebirgsgruppe erhält durch die Grenzlage dieser Hofburgen der Armut eine historisch-politische Wurzel. Wenn der Westerwald als ein weit hinausgeschobenes Vorgebirge erscheint, dann trafen neben und in den Bergzügen der Rhön und des Vogelsberges in alten Zeiten die Kreuzungswinkel der verschiedensten Landesgrenzen aufeinander. Auf der Rhön stieß fuldaisches und würzburgisches Gebiet zusammen, dann berührten sich hier die Spitzen von hanaumünzenbergischen, hessenkasselschen, hennebergischen Länderteilen, und dazwischen eingestreut lagen Enklaven der fränkischen Reichsritterschaft.
So klein die Kette des Vogelsberges ist, so grenzten an und auf derselben doch die Marken von Hessen-Darmstadt, Fulda, Hersfeld, Isenburg, Solms-Lich, Solms-Laubach, Hanau-Münzenberg, Stolberg-Gedern und von reichsritterschaftlichem Gebiet. Von einer gemeinsamen Verwaltungspolitik des ganzen Gebirges konnte also nicht entfernt die Rede sein, fast jedes Tal lag ja für sich abgesperrt in dem Grenzwinkel eines andern Landes. Heutzutage stehen bayerische, hessische, weimarische und meiningische Marksteine auf der Rhön; doch ist wenigstens die überwiegend größere Masse zu Bayern gefallen.
Für den Kulturfortschritt der Gebirge sind jene alten politischen Zustände natürlich vom größten Nachteil gewesen. Sie vermochten aber nicht auseinanderzureißen, was die Einheit der Bodenbildung zu einem sozialen Ganzen verband. Die Gleichförmigkeit namentlich des Westerwaldes und Vogelsberges in den Berg- und Talformen, in der Pflanzenwelt, in der Anlage der menschlichen Siedlungen wirkte mächtiger, als die Buntscheckigkeit der willkürlichen politischen Grenzen. Dies ist ein sehr merkwürdiges Zeugnis für den zähen Zusammenhang von Land und Leuten.
Sodann zogen sich seit dem Ausgange den Mittelalters die Residenzen der Fürsten wie die Herrensitze des begüterten Adels immer mehr nach den Ebenen und großen Flußtälern, nach den dort gelegenen größeren Städten. Seit dem Dreißigjährigen Kriege bis gegen die neuere Zeit hin sind jene rauhen Berggegenden unsres Vaterlandes für die gebildete Welt wie verschollen gewesen; sie mußten erst wieder entdeckt werden. Nicht einmal die modernen Touristen mochten die Romantik der einförmigen Öde des hohen Westerwaldes und Vogelsberges schmecken. Als im Herbste 1850 deutsche Heeresteile auf den unwirtlichen Hochflächen des Fulderlandes Quartier bezogen hatten, und nun die Klagelieder über die entsetzliche Dürftigkeit dieses Strichs durch alle Blätter hallten, da wurde für einen guten Teil des deutschen „Lesepublikums“ das Elend erst entdeckt, in welchem die Leute von der Rhön gefangen liegen. Man hörte gespannten Ohres die Schilderungen dieser patriarchalischen Armut und Genügsamkeit, die dann auch der westerwäldischen und vogelsbergischen wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah. Es ist bemerkenswert, daß die Händel großdeutscher und kleindeutscher Politik – Bronnzeller Andenkens – unsre Ödungen und Wüsteneien auf eine Zeitlang tagesgemäß gemacht haben. Nachgehends kamen die Hungersnöte auf den unwirtlichen Basaltbergen, da wurden dann die ,,Mysterien“ dieser vergessenen Winkel erst recht interessant für die blasierten Stadtleute.
Seit alten Tagen sind jenen Landschaften von tausend Fortschritten der Volkswirtschaft und der Kulturpflege des Staates nur kümmerliche Pflichtteile zu gut gekommen. Die abgelegenen Bergbewohner fühlen es heute noch und sprechen es aus, daß sie die Stiefkinder des Staates seien gegenüber den Bewohnern der Niederungen mit ihren Residenzen, Haupt- und Handelsstädten, mit ihren gesammelten Erwerbsquellen. In dem individualisierten Mittelalter waren die Gaben gleichmäßiger verteilt, darum standen damals diese unwirtlichen Gebirge weit weniger in der Kultur zurück gegen die gesegneteren Ebenen zu ihren Füßen. In der bureaukratischen Zeit betrachtete man wohl gar solche Berggegenden als ein kleines Sibirien, wohin man mißliebige und unfähige Beamte verbannte, als bequeme Strafkolonien für anstößige Geistliche und dergleichen. Als ob es nicht im Gegenteil der natürlichste Akt der Staatsklugheit gewesen wäre, gerade den Kern der Beamten dorthin zu senden, wo die härteste Arbeit winkte, wo am heißesten zu schaffen war, um durch gesteigerte Kultur, durch Ausbeutung aller Hilfsquellen der Ungunst von Boden und Klima Trotz zu bieten!
So liefen seit Jahrhunderten tausend feine Fäden zusammen, um allmählich dieses große Netz von Not und Elend zu stricken, welches sich um die deutschen Gebirge zusammengezogen hat, und die feinen Fäden dünken vielen bereite unzerreißbar wie Schiffstaue.
Ein Blick aus die Spezialkarten lehrt, daß die Dörfer fast nirgends dichter beieinander liegen als auf unsern mageren mitteldeutschen Basaltgebirgen, und zwar seltsamerweise oft in den ödesten Strichen am allerdichtesten. Es ist dies Phänomen aber leichter zu erklären, wie etwa das verwandte, daß die ärmsten Leute in der Regel die meisten Kinder bekommen. Den rauhen Gebirgen entging die chirurgisch heilende Kraft der großen Kriege, welche die Bevölkerung der Ebenen gar mächtig zentralisierte. Im Mittelalter waren die Dörfer in den Ebenen ebenso dicht gesät, wie jetzt noch auf manchen Bergzügen. Die Kriege fegten ein starkes Prozent dieser kleinen Dörfer vom Boden weg und trieben die Bewohner zu größeren wehrhafteren Orten zusammen. Zahllose Namen im Bauernkriege und im Dreißigjährigen Kriege ausgegangener Dörfer geben Zeugnis dafür. Auf der hohen Rhön, der Eifel, dem hohen Westerwald usw. verbietet sich das Kriegführen von selbst. Anno 1850 machten wir diese Erfahrung zum letzten Male. Die ärmsten und unwirtlichsten Gegenden haben deshalb noch die Überzahl der kleinen mittelaltrigen Dörfchen bewahrt, weil der Hunger kein Magnet für Kriegsheere ist. Also auch hier ist wieder ein mittelalterlicher Zustand unberechtigt ins moderne Leben hineingewachsen.



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