Von der Möglichkeit des Krieges

Man weiß aus der Verhaltensforschung über unsere nächsten Verwandten, den Primaten, dass Schimpansenhorden regelrecht Krieg gegeneinander führen. Die berühmte Schimpansenforscherin Jane Goodall hat sich besonders genau mit diesen Menschenaffen beschäftigt. Sie weiß, dass Schimpansen bei aller Intelligenz auch sehr zerstörerisch sein können. In Afrika beobachtete sie jahrelang einen echten Krieg zwischen zwei Schimpansenhorden. Er wurde sehr brutal geführt und endete damit, dass eine Gruppe ausgerottet wurde. „Hätten sie Feuerwaffen gehabt, ich vermute, sie hätten sie eingesetzt”, meint Jane Goodall. Wer zweifelt da noch an der nahen Verwandtschaft mit uns Menschen? Nur vollkommen ist sie nicht, denn nur wir Menschen verfügen – dank^^ unseres kollektiven Bewusstseins (kollektive Intentionalität nennt Searle den gleichen Sachverhalt hier), welches sich in unserer Sprache repräsentiert -, über die zweifelhafte Fähigkeit, die Notwendigkeit jedes beliebigen Krieges auch abstrakt begründen zu können. Eine so absurd handelnde Spezies kann unsere soooo vernünftige, menschliche Gesellschaft einfach nicht sein, denkst du? Leider doch, auch dazu ist unser Gesunder Menschenverstand fähig!

Peter Nàdas versucht zu erklären, warum Soldaten, die sich als Privatpersonen wahrscheinlich nie hassen und töten würden, einander dennoch guten Gewissens töten können:


Ich sehe eine unendliche sonnenüberflutete Ebene, auf der gerade zwei feindliche Heere aufmarschieren und gegeneinander in Stellung gehen. Ein großes Gerassel und Stimmengewirr, Waffen und Brustpanzer funkeln, Fahnen flattern leicht im Wind. Das alles können wir als ein sehr heroisches Bild sehen, ich würde trotzdem eher sagen, dass es kein diszipliniertes Heer gibt, das nicht ein mit Gewalt zusammengetriebener Haufen dahergelaufener Männer mit destruktiven Absichten wäre. Hier gibt es keine Frauen, weder Alte noch Kinder, keine Schwachen, Verletzten, Irren oder Hilfsbedürftigen. Das außergewöhnliche Äußere der wackeren Kämpen entspricht zwar dem Außergewöhnlichen ihrer Situation, nur eben entspricht ihre Situation nicht einem natürlichen Zustand, in dem die Menschenbrut sich wohl fühlen könnte. Damit Gruppen solch töricht aussehender und sich töricht benehmender Menschen Erfolg haben, müssen sie nicht nur über ausgezeichnete Waffen verfügen, sondern auch über ein kollektives Bewusstsein, das mit den Bewusstseinsinhalten aller der eigenen Gruppe zugehörigen Personen zumindest korrespondiert.

Das kollektive Bewusstsein müssen beide Gruppen auf die Annahme gründen, dass die andere Gruppe sowohl Böses denkt als auch Böses zu tun gedenkt; somit besteht zwischen dem Bewusstsein beider Gruppen kein nachweisbarer Unterschied.

Ziel beider Gruppen ist es, die andere zu besiegen, und dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die ein und dasselbe denkenden Mitglieder der einen Gruppe die größtmögliche Anzahl von ein und dasselbe denkenden Mitgliedern der anderen Gruppe niedermetzeln. Dazu benötigen sie die vortrefflichen Waffen, deshalb sind sie hier aufmarschiert, wiewohl jeder einzelne von ihnen auch etwas anderes zu tun hätte, mit anderen Gerätschaften. Das Morden ist auf der Ebene des persönlichen Bewusstseins ohne Hass auf eine andere Person nicht vorstellbar, und in mir entsteht Hass, der zum Morden ausreicht, nur dann, wenn die andere Person meinen Interessen auf extremste Weise entgegensteht. Hier jedoch stehen sich Personen gegenüber, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht kennen und einen Gruppenerfolg nur erzielen können, wenn sie im Sinn der Gruppe dennoch persönlichen Hass mobilisieren, der mangels persönlicher Bekanntschaft kein personenbezogener sein kann.

Diesen logischen Dilemmata zu entgehen, die sich allein in ihren Konsequenzen als moralische Dilemmata erweisen, ist bisher noch keiner Armee und keiner Weltmacht gelungen, weil ein kollektives Bewusstsein auf der einen und ein kollektives Bewusstsein auf der anderen Seite, die beide gleichen Inhalts sind, nicht so gegeneinander gerichtet werden können, als würden sie unversöhnliche Widersprüche enthalten, und weil es andererseits auch kein kollektives Bewusstsein gibt, das in allen Einzelheiten allen Gefühlen sämtlicher das Kollektiv bildenden Individuen entsprechen würde.

Während diese Männerhaufen aufmarschieren, kann der kollektive Hass auf beiden Seiten wirken, da er sich noch nicht auf jemanden richten muss, doch in dem Moment, in dem sie ihre Stellung eingenommen haben, muss der gegenseitige kollektive Hass im individuellen Bewusstsein notwendigerweise als etwas erscheinen, mit dem persönlich eigentlich keiner der Beteiligten etwas zu tun hat.

Auf der Ebene des persönlichen Bewusstseins kann mir niemals einfallen, gegen einen Menschen zu kämpfen, der sich in der gleichen Lage befindet, in der ich mich befinde, und der dasselbe fühlt, was ich fühle. Im Gegenteil, bei derartigen Gegenseitigkeitsverhältnissen werden wir auf der Ebene des persönlichen Bewusstseins immer die Möglichkeit der Wechselseitigkeit entdecken. Das kollektive Bewusstsein hingegen benennt gerade diese Möglichkeit als einzige Quelle des für den Erfolg des Kollektivs notwendigen Hasses, indem es behauptet, dass ich über den sinnlosen und unbegründeten Haß der Mitglieder der anderen Gruppe nur dann obsiegen kann, wenn ich jede einzelne sinnlos und unbegründet hassende Person umbringe, wenngleich meine eigenen persönlichen Beweggründe auch nicht sinnvoller oder begründeter sein können, da ich die anderen ebensowenig kenne, wie diese mich kennen. Auf der Ebene des persönlichen Bewusstseins spricht trotz alledem nichts dagegen, daß ich mir diese Argumentationsweise zu eigen mache. Einerseits, weil ich auch in anderen Fragen die für mich geltenden Urteile des Kollektivs nicht in Frage stelle, andererseits weil ich allein schon aus Selbstschutz jemanden töten muß, wenn er mich töten will, und in diesem Fall wird sein unbegründeter Hass mein Beweggrund sein.

Doch sobald es zwischen den von einem kollektiven Bewusstsein gleichen Inhalts durchdrungenen Gruppen zum Nahkampf kommt, wird das für das Individuum stellvertretend geltende Postulat des kollektiven Bewusstseins unhaltbar, weil sich da unweigerlich Menschen Auge in Auge gegenüberstehen, die persönlich gar nichts füreinander empfinden können und dennoch gezwungen sind, sich selbst oder das Leben eines der eigenen Gruppe zugehörigen, also ihnen persönlich bekannten Kameraden durch Mord zu schützen. Auf diese Weise wird das kollektive Bewusstsein zwar gestärkt, doch weder das Schlachtgetöse noch die Angst, auch nicht das als großartig empfundene, weil einzige persönliche Gefühl der Kameradschaft können vergessen machen, dass dieses Tötungsritual mit jenem kollektiven Bewusstseinsinhalt, vermittels dessen in meinem persönlichen Bewusstsein die Mordbereitschaft geweckt wird, nichts zu tun hat. Das Dilemma, das nichts anderes ist als der Widerspruch zwischen persönlichem und kollektivem Bewusstsein innerhalb einer Kultur, bleibt bestehen. Nicht einmal die moderne, um höchstmögliche Entpersönlichung bestrebte Kriegführung ist imstande, dieses Dilemma zu lösen. Was dem Piloten, der die Bombe auf Hiroshima abwarf, eben nicht gelungen sein dürfte, ist, die Maßgabe der Entpersönlichung mit der eigenen Person in Relation zu bringen, und das brachte ihn um den Verstand.

aus
Péter Nádas
Von der himmlischen und der irdischen Liebe”
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999




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