Was ist Liebe? – Zitate


Liebe ist ein guter Grund leben, als auch ein guter Grund sterben zu wollen!


Und dieser Link führt Dich direkt zu meinem Lieblingszitat von Navid Kermani!


196_1_wandtattoo_liebe_ist_das_einzige_spiel.

Der alte Dichter suche.
Er suche und er fluche:
Ach Leben, entsetzliches Ding du!
Fürwahr, das Leben zu lieben
– das Lieben zu leben! –
ist durchaus begnadet.
Die Narrenzeit steigt auf,
Es suchen die Wahnsinnigen Sinn,
Doch zeitloser Wahn vergiftet die Herzen!
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Wenn jemand über Trieb, Gefühl, Sexus, Zustand oder Tätigkeit spricht oder auch von allem zugleich, so spricht er lediglich über sich selbst oder lediglich über mich und nicht über die Liebe. Um über die Liebe aber nicht vom eigenen Standpunkt aus zu sprechen, müßte ich in jedem Fall zuallererst untersuchen, worin die Wechselseitigkeit besteht, die unsere Liebe ist, sagt Peter Nádas:

Peter Nádas: Rede von der Unmöglichkeit, über die Liebe zu reden

aus Peter Nádas: Über die himmlische und die irdische Liebe


»Liebe?«, sagte Big Bart und lachte. »Liebe? Das ist ein Märchen für arme Irre! Sieh dir den verdammten Hammer doch mal an! Der schlägt jede Liebe um Längen!«

Charles Bukowski
Die Stripperinnen vom Burbank und 13 andere Stories

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›Liebe‹ ist etwas, das mit Penicillin behandelt werden muss. ›Liebe‹ ist es, wenn du einem nackten Jüngling mit giftigen Ottern im Haar eine Blume reichst, während deine Mutter mit gebrochenem Herzen im vereinsamten Heim sitzt. Man ›liebt‹ wildfremde Leute, aber nicht seine Eltern.

Charles Bukowski
Aufzeichnungen eines Außenseiters

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Liebe ist eine vorübergehende Geisteskrankheit, die durch Heirat heilbar ist

Ambroise Bierce.

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Die Liebe ist der Zahnschmerz der Seele.

Zigeunerweisheit

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Von der Zeit sagte der Kirchenvater Augustinus, er wisse nur um ihr Wesen, solange ihn keiner danach frage. Mit der Liebe scheint es sich ähnlich zu verhalten. Aber vielleicht liegt das daran, dass Liebe aus einer ganzen Reihe von Gefühlen bestehen kann, und die genaue Zusammensetzung bei jedem Mann anders aussieht? Vieles deutet darauf hin, dass wir unter „Liebe“ bisweilen etwas völlig unterschiedliches verstehen. Freilich, bei jeder Form der erotischen Liebe eines Mannes zu einer Frau ist irgendeine Art von sexueller Anziehung im Spiel. Der instinktive Charakter steht also außer Frage. Niemand hat uns beigebracht, die Brüste einer Frau schön oder den Klang einer weiblichen Stimme angenehm zu finden. Niemand musste uns lehren, dass die Gegenwart einer geliebten Frau uns betrunken macht und ihre Zuneigung uns berauscht. Es scheint in uns angelegt zu sein. Diese Instinkte sind offensichtlich nicht in jedem Mann gleichartig vorhanden. Wie sonst ließe sich Homosexualität erklären, oder die Tatsache, dass unter Männern Uneinigkeit bestehen kann über die Anziehungskraft einer bestimmten Frau?
Außerdem sind wir unseren Instinkten nicht hilflos ausgeliefert. Wir geben ihnen Namen, wägen sie gegeneinander ab, versuchen uns von ihnen zu befreien oder sie zu unterdrücken, preisen sie als göttlich oder verdammen sie in die tiefsten Höllen hinab. Wir nutzen unser bewusstes Selbst, unseren Verstand, um mit ihnen fertig zu werden. Der Begriff „Liebe“ selbst, mit seinen unzähligen mitschwingenden Bedeutungen, ist ein Beispiel für den bewussten Umgang mit unseren Trieben. Leider verbinden wir mit diesem Begriff auf bewusster Ebene auch einige völlig unhaltbare Fiktionen. Wir stellen sozusagen überhöhte Erwartungen an ihn oder haben wenigstens falsche Vorstellungen davon, wie wir die Liebe am besten genießen können und werden von der Wirklichkeit bitter enttäuscht. Ich möchte die wichtigsten drei Fiktionen der Liebe kurz ansprechen.
Die erste Fiktion lautet: Liebe überwindet alles.
Ist es nicht seltsam, mit welcher Vehemenz wir das in jungen Jahren eingebläut bekommen? Von klein auf wird uns beigebracht, dass wahrer Liebe keine Grenzen gesetzt sind und sie am Ende stets triumphiert. Unnötig zu erwähnen, dass die Realität anders aussieht!
Eng damit in Verbindung steht Fiktion Nummer zwei, dass nämlich Liebe einen Wert an sich darstelle. Auch das ist ein überraschend großer Prozentsatz der Menschen zu glauben bereit.
Es herrscht die Vorstellung, das Gefühl der Liebe würde den so Empfindenden adeln und ihn allein dadurch, dass er es fühlt, an Wert gewinnen lassen.
„Wenn sie nur wüsste, wie sehr ich sie liebe, würde sie anders von mir denken“ ist ein fruchtloser Gedankengang, der sich aus dieser Fiktion speist. In der Praxis kommt man damit nicht weit.
Schließlich Fiktion Nummer drei: Liebe ist an sich gut und wer aus Liebe handelt, hat niemals Unrecht. Die Opfer von Eifersuchtsmorden lassen grüßen! Wahr ist vielmehr, dass wir es uns auch in der Liebe nicht ersparen dürfen, klug und rücksichtsvoll zu handeln.
Viel anderer Irrglaube über die Liebe wäre noch zu nennen, etwa, dass unsere Gesellschaft dazu neigt, die Liebe von der Sexualität abzukoppeln.
„Wahre Liebe braucht keinen Sex!“, wollen uns manche glauben machen.
Tatsächlich ist Sexualität der Kern der Liebe und jede glückliche Partnerschaft so wie jede Verführung basiert auf sexueller Spannung.
Aber ist unser bewusstes Selbst nicht auch jener Ort, an dem die Faszination der Liebe erst zustande kommt? Wir Menschen sind in der Lage, aus der tumben Regung des sexuellen Begehrens etwas Großartiges, Einzigartiges zu schaffen. Unser Bewusstsein von uns selbst, unseren Handlungen, unserer Vergangenheit und unserer Zukunft ermöglicht es uns, diesem Trieb Details und Schattierungen hinzuzufügen, ihn in den erregendsten Farben schillern zu lassen, Bücher darüber zu schreiben und unsterbliche Geschichten darüber zu erzählen. Wir bereichern die Lust am Sex um uns selbst. Wir fügen uns ihr hinzu und lassen uns gemeinsam in Raum und Zeit fallen.

Lodovico Satana
Lob des Sexismus

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Liebe ist der Wunsch, etwas zu geben, nicht zu erhalten. Liebe ist die Kunst, etwas zu produzieren mit den Fähigkeiten des anderen. Dazu braucht man von dem anderen Achtung und Zuneigung. Das kann man sich immer verschaffen. Der übermäßige Wunsch, geliebt zu werden, hat wenig mit echter Liebe zu tun. Selbstliebe hat immer etwas Selbstmörderisches.

Bertolt Brecht
Geschichten vom Herrn Keuner

 

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Was ist Liebe?

Frage, was die Liebe sei,
Frage den, der liebefrei,
Frag’ ihn, den die Liebe kost,
Frag’ ihn, den die Lieb’ erboßt,
Lieb’ und frage deine Brust –
Hat’s ein Andrer recht gewußt?

Wilhelm Müller
Lyrische Reisen und epigrammatische Spaziergänge

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Der junge F. W. beging Selbstmord aus unglücklicher Liebe. Wir sprachen darüber. Franz Kafka sagte während des Gespräches: »Was ist Liebe? Das ist doch ganz einfach! Liebe ist alles, was unser Leben steigert, erweitert, bereichert. Nach allen Höhen und Tiefen. Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur der Lenker, die Fahrgäste und die Straße.«

GUSTAV JANOUCH
Gespräche mit Kafka
Aufzeichnungen und Erinnerungen

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Husain ibn Mansur al-Halladsch, der „Baumwollkrempler“, in Iran geboren, aber meist im Irak lebend, zählte zu den größten Asketen seiner Zeit. Schüler etlicher Bagdader Meister, vollzog er die Pilgerfahrt nach Mekka mehrfach, wobei er sich unerhörten Härten aussetzte. Bald nach dem Jahr 900 zog er nach Indien und von Gudscharat aus durch das heutige Pakistan, wahrscheinlich auf der Seidenstraße nach Zentralasien, von wo er nach Bagdad zurückkehrte. Durch sein seltsames Gebaren und seine exotische Korrespondenz den Behörden auffallend, schien er gefährlich, wohl auch, weil er Neuerungen im Ritual einzuführen versuchte und sich für eine gerechtere Besteuerung einsetzte. Es heißt, er habe aná’l-haqq gesagt, als er an der Tür seines Meisters Dschunaid in Bagdad anklopfte und gefragt wurde, wer da sei, und seine Antwort habe Dschunaid dazu geführt, ihn zu verfluchen. In Wirklichkeit steht das Wort in einem seiner Bücher, dem kitáb at-tawásín, und seine Einkerkerung im Jahr 913 dürfte eher politische Gründe gehabt haben. Es dauerte neun Jahre, ehe sich die Muftis durch einen juristischen Trick bereit fanden, das Todesurteil zu verhängen, und am 26. 3. 922 wurde er hingerichtet. «Attar hat den letzten Akt in seiner Biographie Halladschs zusammengefaßt: „Einer fragte ihn: ‚Was ist Liebe?‘ Er sagte: ‚Du wirst es heute und morgen und übermorgen sehen.‘ An diesem Tag hieben sie ihm Hände und Füße ab, am nächsten Tag hängten sie ihn, und am dritten Tag verbrannten sie seinen Leichnam und gaben die Asche an den Wind.“

Annemarie Schimmel
Sufismus:
Eine Einführung in die islamische Mystik

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Folgt man Heinz von Foerster, so gibt es prinzipiell entscheidbare Fragen und unentscheidbare Fragen. Entscheidbare Fragen sind der Art: „Ist die Zahl 234.354 durch 2 teilbar?“ oder „Wie viele Monde hat das Sonnensystem?“ Es ist nicht wirklich schwer, diese Fragen zu beantworten. Unentscheidbare Fragen sind jedoch die, deren Beantwortung wir paradoxerweise immer wieder neu entscheiden müssen, weil deren Beantwortung sich nicht einfach durch Vernunft ergibt, sondern ganz entscheidend von unserer Erfahrung und unserem Glaubenssystem abhängt: Was bedingte den Urknall? Wie endet dieses Universum (wenn es endet)? Unser Verstand reicht nicht aus, diese Fragen ein für alle Mal zu lösen. Wir können uns einer Lösung annähern, wie eine Passante, aber wir werden niemals den Punkt treffen. Denn wir entwickeln uns und mit uns unsere Erfahrung und unsere möglichen Antworten. Normalerweise entscheiden wir solche unentscheidbaren Fragen im Kontext unserer persönlichen Glaubenssysteme oder unseres kulturellen Backgrounds, und laut von Foerster sind es genau diese unentscheidbaren Fragen, die unser Leben, Forschen und Streben so aufregend machen. Was ist Liebe? Auch hier haben wir es mit einer unentscheidbaren Frage zu tun. Jeder Mensch, jede Kultur und jede Generation beantwortet sie anders. Jeder Mensch und jede Kultur muss sich dabei neu entscheiden und neue Antworten finden, muss mit sich selbst ringen und sich mit anderen auseinandersetzen. Es funktioniert schlicht nicht, zu sagen: Liebe ist dies oder das, und damit basta! Unsere Erfahrung und unser Wachstum macht unserem Versuch, Liebe ein für alle Mal zu definieren, stets einen Strich durch die Rechnung. Denn mit jeder Erfahrung verändert – möglicherweise erweitert – sich unser Verständnis von Liebe. Die Frage Was ist Liebe? ist wahrscheinlich die wichtigste unentscheidbare Frage, die es überhaupt gibt. Sie bestimmt nicht nur unsere Selbstauffassung – also wie wir zu uns selbst stehen, ob und wie wir uns selbst lieben – sondern auch, wie wir mit anderen umgehen, anderen Menschen, anderen Tieren, aber auch mit der Welt per se. Je nach dem, wie ein jeder Mensch die Frage nach der Natur der Liebe für sich selbst beantwortet – sei es explizit, indem man darüber sinniert oder spricht, oder implizit, indem man irgendwelche kulturell tradierten Konzepte der Liebe übernimmt – entscheidet er sich somit auch für einen Umgang mit der Welt und sich selbst gegenüber: Das bin ich, so liebe ich und so beziehe ich mich auf andere. Liebe ist nicht umsonst eines der großen Themen oder Angelegenheiten der Menschheit. In unserem philosophischen Bestreben, eine Antwort darauf zu finden, drückt sich der Kern unserer Existenz aus. Wir besingen die Liebe mit fast jedem Song, der im Radio läuft, und es gibt kaum einen Film, in dem es nicht auch irgendwo um Liebe geht. In unseren naturwissenschaftlichen Unternehmungen drückt sich Liebe aus, indem wir versuchen, Krankheiten und Not zu verringern und Lebensqualität zu verbessern, und der Kern nahezu jeder religiösen oder spirituellen Tradition besteht darin, sich der kosmischen oder göttlichen Liebe zu öffnen. Mit jedem Versuch, eine Antwort auf die Frage Was ist Liebe? zu finden, gehen wir ein Schritt auf uns selbst zu und erkennen uns ein klein wenig mehr. Und doch werden wir diese Frage niemals endgültig beantworten können.

Tom Amarque und Bernd Markert (Hg.)
Was ist Liebe?
Eine integrale Anthologie über die Facetten der Liebe

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Was ist Liebe ohne Weisheit anderes, als etwas Abgeschmacktes, und was ist Liebe mit der Weisheit ohne Nutzwirkung anderes, als ein Aufblähen des Gemüths? Dagegen Liebe und Weisheit mit Nutzwirkung machen nicht nur den Menschen aus, sondern sind auch der Mensch, […].

Emanuel Swedenborg
Die Wonnen der Weisheit betreffend die eheliche Liebe
Dann
die Wollüste der Thorheit betreffend die buhlerische Liebe

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»Was ist Liebe?« Kann ein anderer dir beantworten, was Liebe ist? Liebe ist ein elementares Gefühl, das jeder in sich selbst fühlen muß. Wenn er es fühlt, dann sollte er dieses Gefühl ausfühlen, damit er »weiß«, was Liebe ist. Es ist natürlich nicht einfach, dieses Gefühl zu verbalisieren. Wir meinen, wir müßten alles in Worte fassen können, damit es zur konkreten Wirklichkeit würde. Liebe ist aber ein Gefühl, eine Realität, die jenseits der Wörter und der Rationalität existiert.

Peter Lauster
Stärkung des Ich –
Die zweite Geburt der Selbstwerdung

 

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»Was ist Liebe?« wollte die Wüste wissen. »Liebe ist, wenn der Falke über deinen Sand fliegt. Denn für ihn bist du ein fruchtbares Feld, und er kommt nie ohne Beute zurück. Er kennt deine Felsen, deine Dünen und deine Berge, und du bist großzügig zu ihm.« »Falken berauben mich«, entgegnete die Wüste. »Jahre lang ziehe ich ihre Beute auf, tränke sie mit dem wenigen Wasser, das ich habe, und zeige ihr, wo es Nahrung gibt Und eines Tages schießt der Falke vom Himmel, gerade wenn das Wild meinen Boden zart zu durchstreifen beginnt. Und er entführt das, was ich großgezogen habe.« »Aber dafür hast du die Beute schließlich aufgezogen« entgegnete der Jüngling. »Um den Falken zu ernähren. Und der Falke ernährt seinerseits den Menschen. Und der Mensch wiederum wird eines Tages deinen Boden nähren, aus dem dann wieder die Beute hervorgeht. Das ist der Lauf der Welt.« »Und das soll die Liebe sein?« »Ja, das ist die Liebe. Sie verwandelt die Beute in den Falken, den Falken in den Menschen und diesen wieder in Wüste. Sie bewirkt, daß das Blei sich in Gold verwandelt und das Gold sich wieder in der Erde verbirgt.« »Ich verstehe deine Worte nicht«, meinte die Wüste. »Dann versuche zu verstehen, daß irgendwo in deinen Dünen eine Frau auf mich wartet. Und dafür muß ich mich in Wind verwandeln.« Die Wüste schwieg einen Moment. »Ich gebe dir meinen Sand, damit der Wind hineinblasen kann. Aber alleine kann ich nichts tun. Bitte den Wind um Hilfe.« Eine kleine Brise begann zu wehen. Die Heerführer schauten zum Jüngling hinüber, der eine Sprache sprach, die sie nicht kannten. Der Alchimist lächelte. Der Wind strich über das Gesicht des Jünglings. Er hatte seiner Unterhaltung mit der Wüste gelauscht, denn die Winde wissen immer alles. Sie ziehen durch die Welt, ohne einen festen Ort zu haben, wo sie geboren werden oder wo sie sterben.
»Hilf mir«, bat der Jüngling. »Kürzlich vernahm ich in dir die Stimme meiner Geliebten.« »Wer hat dich gelehrt, die Sprache der Wüste und des Windes zu sprechen?« »Mein Herz«, erwiderte der Jüngling. Der Wind besaß viele Namen. Hier nannte man ihn Schirokko, und die Araber glaubten, daß er aus einem mit viel Wasser bedeckten Land komme, in welchem schwarz Menschen lebten. In dem fernen Land, aus dem der Jüngling kam, nannte man ihn den Wind der Levante, denn man glaubte dort, daß er den Sand der Wüste und die Kriegsrufe der Mauren brachte. Und vielleicht meinte man an einer weit von seinen ehemaligen Schafsweiden entfernten Ort daß der Wind aus Andalusien käme. Aber der Wind kam von nirgendwoher und kehrte auch nirgendwohin zurück und deshalb war er stärker als die Wüste. Eines Tages würde man in der Wüste vielleicht Bäume pflanzen und Schaf züchten können, aber niemals würde man den Wind beherrschen. »Du kannst nicht zu Wind werden, denn wir sind von unterschiedlicher Natur«, sagte der Wind. »Das stimmt nicht«, entgegnete der Jüngling. »Ich hab die Geheimnisse der Alchimie entdeckt, während ich durch die Welt zog. Ich habe die Winde, die Wüsten, die Ozeane die Sterne in mir und alles, was es im Universum gibt. Wir wurden durch dieselbe Hand erschaffen und haben die gleiche Seele. Ich möchte wie du sein, in alle Winkel eindringen, die Meere überqueren, den Sand, der meinen Schatz zudeckt, fortwehen und die Stimme meiner Geliebten herbei holen.« »Ich habe dein Gespräch mit dem Alchimisten vor ein paar Tagen gehört«, sagte der Wind. »Er meinte, daß jedes Ding seinen persönlichen Lebensplan hat. Die Mensche können sich nicht in Wind verwandeln.« »Lehre mich nur für einige Augenblicke, Wind zu werden, damit wir uns über die unbegrenzten Möglichkeiten der Menschen und der Winde unterhalten können«, bat der Jüngling. Eigentlich war der Wind recht neugierig, und er hätte sich gerne darüber unterhalten, aber er konnte keinen Menschen in Wind verwandeln, obwohl er doch so vieles konnte! Er schuf Wüsten, versenkte Schiffe, fegte ganze Wälder um und durchstreifte Städte voller Musik und seltsamer Geräusche. Er glaubte, alles zu können, doch nun war hier ein junger Bursche, der behauptete, daß es noch mehr gab, was ein Wind vermochte. »Das nennt man Liebe«, sagte der Jüngling, als er bemerkte, daß der Wind seinem Wunsch beinahe nachgab. »Wenn man liebt, kann man alles in der Schöpfung sein. Wenn man liebt, ist es nicht notwendig, zu verstehen, was vor sich geht, denn alles spielt sich in uns selber ab, und Menschen können sich in Wind verwandeln. Natürlich nur, wenn dieser dabei behilflich ist.« Der Wind war sehr stolz, und es mißfiel ihm, was der Jüngling da sagte. Er blies mit größerer Geschwindigkeit und wühlte den Wüstensand auf. Aber schließlich mußte er sich eingestehen, daß er, obwohl er die ganze Welt durchquert hatte, nicht wußte, wie man Menschen in Wind verwandeln konnte – und er kannte die Liebe nicht. »Während ich durch die Welt zog, habe ich bemerkt, daß viele Menschen, die von Liebe sprachen, dabei zum Himmel aufsahen«, bemerkte der Wind gereizt, weil er seine Grenzen anerkennen mußte. »Vielleicht solltest du lieber den Himmel befragen.« »Dann hilf mir dabei und erfülle die Luft mit Sand, damit ich unbeschadet in die Sonne schauen kann.« Daraufhin blies der Wind mit großer Kraft, so daß eine Sandwolke den Himmel verdeckte und von der Sonne nur eine goldene Scheibe übrigblieb. Im Lager hatte man Mühe, noch etwas zu sehen. Die Wüstenmänner kannten diesen Wind schon. Man nannte ihn Samum, und er war für sie schlimmer als ein Unwetter auf hoher See, da sie selbst das Meer nicht kannten. Die Pferde wieherten, und die Waffen wurden mit Sand bedeckt. Auf dem Felsen wandte sich einer der Befehlshaber an sein Oberhaupt und sagte: »Vielleicht sollten wir besser damit aufhören.« Sie konnten den Jüngling kaum noch erkennen. Ihre Gesichter waren in die blauen Tücher gehüllt, und in ihren Augen stand Entsetzen. »Laß uns damit aufhören«, meinte auch ein anderer. »Ich will die Größe Allahs schauen«, sagte der Anführer und aus seiner Stimme sprach Hochachtung. »Ich will sehen, wie sich Menschen in Wind verwandeln.« Aber er merkte sich die Namen der beiden Männer, die Angst gezeigt hatten. Sowie der Wind nachließ, würde er sie ihrer Posten entheben, denn richtige Männer der Wüste sollten keine Angst haben. »Der Wind sagte mir, daß du die Liebe kennst«, wandte sich der Jüngling an die Sonne. »Wenn du die Liebe kennst, dann kennst du auch die Weltenseele, die aus Liebe steht.« »Von hier, wo ich mich befinde, kann ich die Weltenseele sehen. Sie ist mit meiner Seele in Verbindung, und zusammen bewirken wir, daß die Pflanzen wachsen und die Schafe den Schatten aufsuchen. Von hier oben – und ich bin sehr weit von der Welt entfernt – habe ich gelernt zu lieben. Ich weiß, daß, wenn ich mich der Erde etwas mehr näherte, alles auf ihr sterben müßte und die Weltenseele aufhörte zu existieren. Also betrachten wir uns wohlwollend, und ich schenke ihr Licht und Wärme, und sie gibt mir einen Lebensinhalt.«
»Du kennst also die Liebe«, sagte der Jüngling. »Und ich kenne die Weltenseele, denn wir unterhalten uns viel auf dieser endlosen Reise durch das Universum. Sie hat mir erzählt, ihr größtes Problem sei, daß bisher nur die Tiere und die Pflanzen begriffen haben, daß alles in Einem ist. Und dazu ist es nicht nötig, daß das Eisen mit dem Kupfer gleich ist und dieses mit Gold. Jedes Metall erfüllt dabei seine Aufgabe, und so könnte alles eine Symphonie des Friedens sein, wenn die Hand, die alles geschrieben hat, am fünften Schöpfungstag aufgehört hätte. Aber es gab einen sechsten Tag«, sagte die Sonne. »Du bist weise, weil du alles aus der Ferne betrachtest«, bemerkte der Jüngling. »Aber die Liebe kennst du nicht. Wenn es keinen sechsten Schöpfungstag gegeben hätte, dann gäbe es keine Menschen, und das Kupfer bliebe für immer Kupfer, und das Blei bliebe für immer Blei. Es ist richtig, daß jedes seinen persönlichen Lebensplan hat, aber eines Tages ist dieser Lebensplan erfüllt. Dann muß man sich in etwas Edleres verwandeln und einen neuen Lebensplan erfüllen, bis die Weltenseele wirklich nur noch ein einziges Ganzes ist.« Die Sonne wurde nachdenklich und schien wieder stärker. Der Wind, dem die Unterhaltung gefiel, blies auch verstärkt, damit die Sonne den Jüngling nicht erblinden ließ. »Dafür gibt es die Alchimie«, fuhr der Jüngling fort. »Damit jeder Mensch seinen Schatz sucht und findet und danach besser sein möchte als im vorherigen Leben. Das Blei wird seine Aufgabe erfüllen, bis die Welt kein Blei mehr benötigt; dann muß es sich in Gold umwandeln. Die Alchimisten vermögen das. Sie zeigen, daß, wenn wir edler zu sein versuchen, als wir es von Natur aus sind, auch alles um uns her edler wird.« »Und wieso behauptest du, ich würde die Liebe nicht kennen?« fragte die Sonne. »Weil die Liebe nicht darin besteht, still zu sein wie die Wüste, noch darin, durch die Welt zu ziehen wie der Wind, noch darin, alles aus der Ferne zu betrachten, wie du es tust. Die Liebe ist die Kraft, die die Weltenseele verwandelt und veredelt. Als ich das erste Mal in diese Weltenseele eindrang, empfand ich sie als vollkommen. Aber dann erkannte ich, daß sie der Widerschein von allen Geschöpfen ist und somit auch ihre Kriege und ihre Leidenschaften in sich trägt. Wir nähren die Weltenseele, und unsere Erde wird edler oder schlechter, je nachdem, ob wir edler oder schlechter werden. Hier kommt dann die Kraft der Liebe ins Spiel, denn wenn wir lieben, wollen wir stets edler werden, als wir sind.« »Was willst du eigentlich von mir?« wollte die Sonne wissen. »Daß du mir behilflich bist, mich in Wind zu verwandeln«, entgegnete der Jüngling. »Die Natur erkennt mich als die weiseste aller Kreaturen an«, sagte die Sonne. »Aber wie ich dich in Wind verwandeln soll, weiß ich leider nicht.«
»Mit wem soll ich dann sprechen?« Die Sonne überlegte einen Moment. Der Wind hatte ja gelauscht und würde bestimmt über die ganze Welt verbreiten, daß ihre Fähigkeiten beschränkt seien. Sie entkam dem jungen Mann, der die Sprache der Welt sprach, nicht so schnell. »Unterhalte dich mit der Hand, die alles erschaffen hat«, empfahl die Sonne. Nun schrie der Wind vor Freude auf und blies stärker denn je, die Zelte wurden aus dem Boden gerissen, und die Pferde machten sich von den Zügeln los. Die Männer auf dem Felsen klammerten sich aneinander, um nicht umgeweht zu werden. Der Jüngling wandte sich nun an die Hand, die alles aufgezeichnet hatte. Und er spürte, daß das Universum schwieg, anstatt irgend etwas zu sagen, und so blieb auch er still. Ein Strom der Liebe entsprang seinem Herzen, und er begann zu beten. Es war ein Gebet, das er noch nie zuvor gebetet hatte, denn es war ohne Worte und ohne Bitten. Er dankte nicht, weil die Schafe eine fette Weide gefunden hatten, und er bat nicht, noch mehr Kristallwaren verkaufen zu können, oder daß die Frau seiner Träume auf seine Rückkehr warten möge. In der Stille, die nun herrschte, erkannte der Jüngling, daß die Wüste, der Wind und die Sonne ebenfalls nach den Zeichen von jener Hand suchten, um ihren Weg zu finden und das zu verstehen, was in einen einfachen Smaragd eingraviert war. Er wußte, daß diese Zeichen sowohl auf der Erde als auch im Weltraum verstreut waren, und daß sie dem Augenschein nach keinerlei Sinn ergaben, und daß weder die Wüste noch de Wind, noch die Sonne oder die Menschen wußten, warum sie erschaffen worden waren. Aber jene Hand hatte für alles einen Beweggrund, und nur sie allein konnte Wunder vollbringen, indem sie Ozeane in Wüsten verwandelte oder Männer in Wind. Denn sie allein wußte darum, daß eine höhere Bestimmung das Universum zu einem Punkt drängte wo die sechs Schöpfungstage sich in das Große Werk verwandelten. Und der Jüngling tauchte in die Weltenseele ein und erkannte, daß diese ein Teil der göttlichen Seele und die göttliche Seele seine eigene Seele war. Und daß er somit selber Wunder vollbringen konnte.
An jenem Tag blies der Samum wie nie zuvor. Noch über Generationen erzählten sich die Araber die Legende des Jünglings, der sich in Wind verwandelte, beinahe ein ganze Heerlager zerstörte und die Macht des obersten Kriegsherrn der Wüste herausforderte.
Als der Sturm sich endlich beruhigt hatte, blickten alle zu dem Platz hinüber, an dem der Jüngling gewesen war, aber dieser war nicht mehr dort; er war bei einem fast völlig mit Sand bedeckten Wächter, der die andere Seite des Lager bewachte. Die Männer waren durch diese Zauberei beunruhigt. Nur zwei Personen lächelten: der Alchimist, weil er seinen richtigen Schüler gefunden hatte, und der Anführer, weil sie die Herrlichkeit des Herrn geschaut hatten. Am folgenden Tag verabschiedete sich der Anführer von dem Jüngling und dem Alchimisten und veranlaßte, daß sie eine Eskorte begleitete, wohin sie auch wollten.

Paulo Coelho
Der Alchimist

 

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Was ist Liebe?
Liebe wird meist als eine auf Freiheit gegründete Beziehung zwischen zwei Personen gesehen, die ihren Wert nicht im Besitz der anderen Person sieht und findet, sondern sich im austauschenden Miteinander zwischen den Liebenden entfaltet. Die Liebenden erkennen sich wechselseitig in ihrer Existenz an und fördern sich, zueinander ausgerichtet, in Herz, Seele und Leib. Liebe bedeutet: Das höchste Wohlsein des anderen aktiv wollen – und auch tun! Liebe braucht also ein Gegenüber um sich definieren zu können. Liebe, die nur ins kalte Weltall gepustet wird, und sich in irgendwelchen schwarzen Löchern und der Unendlichkeit verirrt, und letztlich sich auflöst, ist so sinnvoll und erbaulich, wie großer Reichtum, ohne Aussicht sich je etwas kaufen zu können. Liebe, die nicht erwidert wird, verliert ihre Bedeutung und kann einen kaputt (sündig) machen bzw. bleiben lassen – darum gehen Menschen auch leider verloren. Man kann als Mensch alleine sein und dennoch geliebt – weil es Gott gibt. Gott ist das Substantiv der Liebe (1. Johannes 4,8). Niemand kann Liebe weitergeben ohne Gottesbezug (selbst wenn ihm das gar nicht bewusst ist). Liebe ist von Gott (1. Johannes 4,7) – Er hat sie quasi erfunden, indem ER Menschen schuf – zu seinem Bilde (1. Mose 1,26). Und Gott hatte daran gefallen und fand es “sehr gut“ (1. Mose 1,31). Der Teufel hat bis heute damit ein Problem. Ohne Liebe ist alles irgendwie sinn- und bedeutungslos. Die Bibel drückt es so aus: “Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze“ (1. Korinther 13, 1-3). Liebe zeigt sich in Taten, aber eine Tat muss nicht zwangsläufig immer mit Liebe zu tun haben. Allen Besitz den Armen zu geben, scheint sehr liebevoll und uneigennützig zu sein, aber man kann das, wie der Text sagt, auch ohne Liebe tun! Moralischer Fanatismus ist keine Liebe! Der Mensch braucht Erlösung – Gottes Liebe ermöglicht es, alles andere geht an der befreienden Wahrheit vorbei. Liebe hat in seiner Substanz (Gott) nichts mit Hormomen und Chemie zu tun. Sie ist auch keine Krankheit wie die Sünde, vielmehr wird durch die Liebe Gottes unsere Krankheit (Sünde) in Person Jesu Christi geheilt, wie in Jesaja 53, 4-5 geschrieben steht: “Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“. Die Liebe kam zu uns (nicht wir zu ihr) und wir würden auch nie etwas von echter Liebe wissen, wenn Gott sie uns nicht gezeigt hätte, bevor wir danach fragten – Römer 5,8: “Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“. Die Agape-Liebe ist die göttliche Liebe. Diese gründet sich auf einen Willensentschluss! Sie ist in der Lage auch da noch zu lieben, wo wir keine Sympathie, keine guten Gefühle mehr haben. Sei es in Bezug auf den Nächsten, den Bruder, die Schwester oder selbst gegenüber Gott. Agape, göttliche Liebe liebt die, die Liebe nötig haben. Darum hat Gott auch die Welt geliebt (Johannes 3,16).

Jörg Bauer
Was ist Liebe?
Geistliche Impulse

 

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21. ​10. Was bindet eigentlich Menschen am meisten aneinander? Was ist Liebe? Wenn einer den anderen so kennt, wie niemand sonst. Wenn man sich nur dem einen gegenüber ganz zeigt, ohne Angst, man könnte mißverstanden, zurückgestoßen werden. Vollkommenstes Vertrauen. Das kann man nicht sehenden Auges verletzen, auch, wenn ein anderer glaubt, das gleiche Anrecht darauf zu haben. Man möchte sich verdoppeln können, hier und dort gleichzeitig sein, diesem und jenem alles sein können. Da es nicht geht, ist es ehrlicher, es nicht zu versuchen, den letzten Schritt nicht zu tun, dem Augenblick nicht nachzugeben. »Du bist unnormal moralisch.« Das trieb mir die Tränen in die Augen. Männer fordern nur immer, Gerd ist die große Ausnahme. In Deutschland, soweit ich seine Männer kenne, der einzige für mich. In letzter Zeit schrieb ich zweimal in Artikeln den Satz: »Nicht jede Trauer ist unproduktiv, nicht jede ›Begeisterung‹ produktiv.« Ich empfinde das in diesen Tagen sehr stark, wo meine Grundstimmung: produktive Trauer. Oder doch Ernst. Warum soll man einen Menschen, dessen Liebe man nicht erwidern kann, aufgeben müssen? »Licht eines fernen Sterns« – wie lange kann ihm das genügen? »Genug, daß es dich gibt …« nicht nur eine Formel, die ausreicht, wenn man sich täglich sehen kann?

Christa Wolf
Moskauer Tagebücher

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Liebe, was ist Liebe! Dummes, verschlissenes altes Zeug! Nur Das reizt die Weiber, zu sehen, wie dieselbe Liebe, dieselbe althergebrachte langweilige Hingebung wol bei Dem sich ausnehmen möchte oder bei Dem oder bei Dem.. Dem möcht’ ich ansehen, Dem abfühlen, wie er lieben könnte, Der mit seinen tiefen Augen, Der mit seinem schwarzen Bärtchen, Der mit seinen kleinen gefirnißten Glanzstiefelchen! Ha, ha! Oder flattern sie nur deshalb hin und her, weil sie wissen, daß ihre Gefühle Eintagsblumen sind, Pilze in einer Sommernacht aufgeschossen, das Glück, das sie zu gewähren sich das Ansehn geben, eine Sternschnuppe, von der man zu bald inne wird, daß sie nur optische Täuschung war!

Karl Ferdinand Gutzkow
Die Ritter vom Geiste

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Also was ist Liebe? Für eine geliebte Frau zu sterben, dazu kommt man ja heutzutage selten. Das wäre freilich das Schönste. – Unterbrechen Sie mich nicht, Sie! Ich rede nicht von der Liebe zu zweien, vom Küssen und Beisammenschlafen und Heiraten. Ich rede von der Liebe, die zum einzigen Gefühl eines Lebens geworden ist. Die bleibt einsam, auch wenn sie, wie man sagt, >erwidert< wird. Sie besteht darin, daß alles Wollen und Vermögen eines Menschen mit Leidenschaft einem einzigen Ziel entgegenstrebt und daß jedes Opfer zur Wollust wird. Diese Art Liebe will nicht glücklich sein, sie will brennen und leiden und zerstören, sie ist Flamme und kann nicht sterben, ehe sie das letzte irgend Erreichbare verzehrt hat.

Hermann Hesse
Liebesopfer
Eine Erzählung

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… was ist Liebe ohne Zuversicht? Sag was Du willst; Liebe die sich nicht ewig weiß und ewig erwidert, das ist keine Liebe, das ist bloßes Ergötzen, dem Du nur in der Angst jenen Namen liehest – Blumenfreude, Schmuck, Tanz und Spiel.

Friedrich Heinrich Jacobi
Eduard Allwills Papierei

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Was ist Liebe? Zu Beginn einer literarischen Dankrede mutet die Frage seltsam an, obwohl – nein, nicht obwohl – gerade weil sie zu jenen wenigen Fragen gehört, vielleicht sogar wie sonst nur die Frage nach dem Tod, die jeden Menschen ungeachtet seiner Herkunft oder seines Glaubens, seiner Eigenschaften und Neigungen schon einmal persönlich beschäftigt haben oder fortwährend beschäftigen: Was ist Liebe? Es ist eine Frage, die notwendig das Private berührt, insofern jeder, der sie ernsthaft zu beantworten sucht, von seinen individuellen und also je spezifischen Erfahrungen bewegt ist. Das ist dann doch anders als bei der Frage nach dem Tod, deren Antworten in der Regel absolut erfahrungslos sind oder jedenfalls in den monotheistischen Traditionen für erfahrungslos gehalten werden. Liebe ist maximal empirisch. Das Sonderbare ist nur: Je mehr wir – nein, schon hier verbietet sich die Verallgemeinerung – je mehr ich erfahre, desto weniger weiß ich. Je länger, tiefer, glücklicher oder schmerzhafter ich sie empfinde, über sie nachdenke, sie in meiner Umgebung beobachte, desto schwerer fällt es mir, die Frage zu beantworten: Was ist Liebe?
Die Antworten der Dichter, so begeistert ich sie als junger Mensch las, befriedigten mich mit den Jahren immer weniger, schlimmer noch: führten mich in die Irre, soweit ich das als Irregeführter zu beurteilen vermag. Die Dichter – nun doch eine Verallgemeinerung, zu allem Überfluß eine, die literaturhistorisch grotesk ist, jedoch in der Not gerade des jungen, des beginnenden Lesers sich unvermeidlich einstellte – die Dichter besangen die Liebe als eine Verheißung. Sie sprachen vom Leiden, ja, beschrieben das Beißen ihrer Sehnsucht, das Brennen ihrer Eifersucht, die Prügel ihrer Enttäuschung. Und doch schien die Liebe über alle Abgründe der Verzweiflung, des Verlassenseins, des unstillbaren Verlangens das herrlichste, das höchststehende aller menschlichen Gefühle zu sein. Des Menschen Glück – noch so ein Wort, das man auf Anhieb zu begreifen glaubt und das eben deshalb zwischen den Fingern zerrinnt: Glück – des Menschen Glück schien untrennbar von ihr abzuhängen, genauer: schien mit der Liebe zu korrelieren, deren Erfüllung den Liebenden als Beschwingtheit, als Schweben, als Schwerelosigkeit erhebt und ihn damit geradezu physisch spürbar dem Himmel nähert, während die Liebesnot seine Beine buchstäblich so schwermacht, daß er sich durch den Alltag allenfalls noch schleppt, wenn er nicht gleich im Bett bleibt, niedergedrückt auf die Erde.
Im nachhinein habe ich den Eindruck, daß viele Dichter gar nicht von der Liebe sprachen, sondern von der Verliebtheit, deren Symptome so viel leichter zu benennen sind – nachweislich waren es schon vor fünftausend Jahren dasselbe Leeregefühl im Magen, der beschleunigte Pulsschlag, das rasante Auf und Ab der Stimmung, und auch in Zukunft werden es dieselben Torheiten sein, zu denen sich der Liebende hinreißen läßt, die Schwüre, die sämtlich für die Ewigkeit gegeben werden, um häufig doch nur ein paar Wochen zu halten. Wohl deshalb sprachen die Dichter zu mir, der ich auch erst die Verliebtheit kennengelernt hatte. Ob Werther, ob Hyperion, um nur die beiden berühmtesten Liebenden der deutschen Literatur zu nehmen, sie sind ja beide noch im ersten und subjektiv dramatischsten Stadium der Liebe geschildert.
Natürlich steht das dort nicht so, natürlich geht es ihnen ums Ganze, um Leben oder sonst eben den Tod. Aber wenn wir überlegen, welche Äußerungen und Zustände unseres gewöhnlichen Lebens den Situationen am ehesten noch entsprechen, die Goethe und Hölderlin schildern, ist es doch wohl die frühe, meist jugendliche Verliebtheit. Und ich glaube, daß das Befremden, Belächeln oder sogar das peinlich Berührtsein, welche die unaufhörlichen Kniefälle, flammenden Briefe und rasenden Verzückungsrufe Werthers oder Hyperions in uns auslösen, durchaus mit dem Befremden, dem Belächeln, dem peinlich Berührtsein zu tun haben, mit welchen wir uns an die Kniefälle, Briefe und Verzückungsrufe unserer eigenen jugendlichen Verliebtheit erinnern. Die Umwelt, die sich über die Verbindung der Verliebten mokiert, kann auch aus einem Klassenzimmer bestehen, die heimlichen Begegnungen können in einem Winkel des Schulhofs genauso aufregend sein – und wie erst die scheue Berührung, der längste Kuß, das erste Mal, den angebeteten Körper nackt vor sich zu sehen. Die Sehnsucht Werthers und die Raserei Hyperions sind Sehnsucht und Raserei jedes Menschen, der sich unsterblich verliebt zu haben glaubt.
Ohne andere, auch metaphysische Dimensionen dieser Romane zu leugnen, würde ich immer auf ihrem Wirklichkeitsgehalt beharren, dem Wirklichkeitsgehalt auch für unsere Zeit, für jedes Herz, das vor Zuneigung, Begehren und Begeisterung hörbar klopft, nur beziehen sich die Dichter eben auf einen sehr kleinen Ausschnitt dessen, was Liebe sein kann. Nicht zufällig trennen die vorbürgerlichen Gesellschaften so deutlich zwischen der Liebe und der Institution der Ehe. Was dort mit Liebe gemeint war, bezog sich allenfalls als Utopie, als durchgängig scheiternder Wunsch auf eine Lebensgemeinschaft, die Jahre und Jahrzehnte dauert. Es ist diese Tradition, die Tradition von Romeo und Julia oder orientalisch Leila und Madschnun, in die sich Goethe einreiht, wenn er im Werther von der unerfüllten, auch unerfüllbaren Liebe erzählt. Das ist im Kern auch das Thema seiner Wahlverwandtschaften, die kein Ehe-, sondern ein Ehebruchsdrama sind, also genau den Konflikt zwischen leidenschaftlichem Gefühl und dauerhafter Verbindung behandeln. Nur Hölderlin geht einen Schritt weiter, wenn die Begeisterung seines Hyperion seltsam abkühlt, als er Diotima endlich besitzt. Um diese, im Roman ziemlich unscheinbare Wendung zum Schluß zu registrieren, muß man als Leser allerdings geübter sein, als ich es bei der ersten, noch jugendlichen Lektüre war. Überhaupt hat die Literatur, haben im deutschen Sprachraum gerade Goethe und Hölderlin maßgeblich dazu beigetragen, daß sich eine Vorstellung von immerwährender Bezauberung herausgebildet hat, die in der engen Bezogenheit zweier Menschen in der heutigen Kleinfamilie beinah zwangsläufig überfordert und eben irreführt. Die meisten Ehen – auch das gehört zu den Beobachtungen, die mich verwirren – scheinen keineswegs an einem Zuwenig an Liebe zu scheitern, eher an einem Zuviel an Erwartungen.
Was Mann und Frau dort trennt, wo sie über viele Jahre hinweg zusammenleben, davon erzählt die Literatur der bürgerlichen Ehe, die im deutschen Sprachraum vielleicht mit dem Siebenkäs, spätestens mit Brigitta anhebt. Auf dem Bild, das Jean Paul und Stifter malen, wirkt die Liebe ungleich gewöhnlicher, matter, häufig trübseliger. Das liegt nicht oder nicht allein daran, daß im neunzehnten Jahrhundert der Realismus in die deutsche Literatur eingezogen sei. Es liegt auch daran, daß Jean Paul oder Stifter sich einem Aspekt der Liebe widmen, der erst mit der Etablierung der Liebesheirat als gesellschaftlichem Ideal relevant wird: die alltäglich gewordene Zweisamkeit nämlich, die natürlicherweise gewöhnlicher, matter, häufig trübseliger ist als die Sensationen der Verliebtheit. Entscheidend ist, daß auch der Eheroman die Liebe hochhält, wenn er die Kümmernis der Eheleute als ein Gefrieren ihrer Gefühle beschreibt, die Krise damit durch einen Mangel an Zuneigung, an Zuwendung erklärt. Daß die Liebe selbst ein Abgrund sein kann und gerade ihr Übermaß zerstört, das fand ich in der Literatur nirgends.
Allerdings gehörte Heinrich von Kleist nicht zu den Dichtern, die ich als junger Mensch las; oder wenn ich ihn las, dann konnte ich ihn noch nicht auf das eigene Erleben beziehen. Heute glaube ich, daß in deutscher Sprache niemand das Wesen der Liebe tiefer, umfassender, auch illusionsärmer bezeichnet hat als jener Dichter, der mit dem «Ach!» der Alkmene den berühmtesten Ausdruck für die totale Verwirrtheit der Liebenden geschaffen hat.
Dieser Seufzer ist ja nicht einfach ein Ausdruck des Schmerzes, der Wollust oder der Sehnsucht wie die Hunderte und Tausende Achs! anderer Dichter, bei denen man den Seufzer auch durch ein Wort ersetzen könnte, durch ein «Sag bloß!» oder ein «Wie schade!» Im Ach! der Alkmene ist die Unmöglichkeit ausgedrückt, überhaupt noch Worte zu finden, wie László F. Földényi bemerkt hat, die Begrenztheit der Sprache selbst, damit der Verständigung, des Verstehens. Alkmene kann ihre Erfahrung, sich mit einem Gott vereinigt, und das heißt bei Kleist in aller Konkretion: mit einem Gott geschlafen, also unfaßbar guten Sex gehabt zu haben, niemandem auf Erden vermitteln. Wie sollte sie auch, wie soll ein gewöhnlicher Sterblicher ihr himmlisches Erleben nachvollziehen? Es ist alles, aber nicht sentimental, das Ach! der Alkmene, vergleichbar eher dem Stöhnen im Liebesakt, das um so durchdringender wird, je weniger die Liebenden ihr Erleben in Worte zu fassen vermögen. Allerdings ist das Ach! der Alkmene nicht glückhaft wie in der ekstatischen Vereinigung zwei Körper, nein, es ist schreckensvoll über alle Maßen, fremd geworden sich selbst, unversöhnt mit der Welt. Eben weil sie die göttliche Liebe erfuhr, ist sie vernichtet. «Schützt mich ihr Himmlischen!», ruft Alkmene noch, bevor sie ihr Bewußtsein, ihre bisherige Existenz, ich meine jedesmal: ihr Leben mit dem Ach! aushaucht.
Ich sagte, daß in der Liebe Erfahrung und Wissen in einem diametral entgegengesetzten Verhältnis zueinander stünden. Präziser hätte ich vom Dafürhalten sprechen müssen, nicht vom Wissen: Wenn meine Erinnerung nicht täuscht, hatte ich als junger Mensch sehr viel genauere Ansichten darüber, was die Liebe sei – eben das, was ich so unbändig stark fühlte, als ich für ein Mädchen geradezu im Wortsinn entbrannte, das, genau das, war Liebe und sonst nichts – und wehe, einer der Erwachsenen wagte es, mein Glück und meinen Kummer mit süffisant hochgezogenen Augenbrauen zu relativieren. Auch Kleist kennt als Dichter das Lodern des jugendlichen oder jedenfalls jugendhaften Verliebtseins, von dem er insbesondere im Erdbeben in Chile so mitreißend kühl erzählt. Wieviel ambivalenter, auch fragwürdiger, narzißtischer das Begehren erscheint, wenn es sich zunehmend zum Körperlichen hin verlagert, davon ahnen Jeronimo und Josephe so wenig wie die meisten Menschen, die zum ersten Mal lieben. Aber Kleist sieht es, mehr noch: schildert geistreich die Tiefen und gerade auch die Untiefen des rein erotischen Begehrens im Amphytrion, der «sich selbst in einer Seele spiegeln/Sich aus der Träne des Entzückens widerstrahlen» möchte. Kleist kennt die Übermacht der sexuellen Leidenschaft über die Vernunft, den eitlen Ehrgeiz bloßen Erobernwollens und den mörderischen Haß eines Betrogenen, verdichtet all dies im Findling: die Wollust des Nicolo, der trotz der Verheiratung nicht von einer deutlich älteren Kurtisane ablassen kann, seinen Ehrgeiz, mit der eigenen Adoptivmutter zu schlafen, die er Nacht für Nacht bei einem bizarren Masturbationsritus beobachtet, mit einer Peitsche nackt vor dem Bildnis eines früheren Geliebten, die Vergewaltigung dieser Adoptivmutter und schließlich der Haß des betrogenen Adoptivvaters, der Nicolo umbringt und sich trotz allen Drängens vor der Hinrichtung der Absolution verweigert, um seine Rache auf dem «untersten Grund der Hölle» fortzusetzen.
O ja, die Liebe kann einen Menschen über sich hinauswachsen lassen wie den Anwalt Friedrich von Trota, der in der Erzählung Der Zweikampf seine Mandantin bis zur physischen Aufopferung verteidigt. Liebe bedeutet zuerst und zuletzt Mutterliebe, für die Kleist in der gleichnamigen Anekdote ein unerhörtes Bild geschaffen hat: «mit Gliedern, gestählt von Wut und Rache» umklammert eine Mutter einen tollwütigen Hund, der ihre Kinder angefallen hat, läßt sich von ihm zerfleischen, läßt sich mit der Tollwut anstecken, bis das Tier erdrosselt ist. Aber Liebe kann auch den gesunden Pragmatismus einer Marquise von O. bedeuten oder das Mißtrauen des Gustave von der Ried, der in der Verlobung in St. Domingo seine Geliebte wegen eines falschen Verdachts erschießt und anschließend vor Scham sich selbst. Liebe kann die wütende Eifersucht der Thusnelda erzeugen, die in der Hermannsschlacht einen ausgewachsenen Bären auf den Geliebten hetzt. Liebe kann sich als die bedingungslose Hingabe und sogar Hörigkeit des Käthchens von Heilbronn darstellen, das die Gemeinheiten und Erniedrigungen des Grafen Friedrich Wetter vom Strahl mit einer solchen Klaglosigkeit erträgt, daß ein masochistisches Lustempfinden mehr als nur angedeutet ist. Und dann kann Liebe genau das Umgekehrte sein, der unbedingte Wille, über den Geliebten zu herrschen, ihm seinen Willen zu rauben wie in der Penthesilea, und Kleist weiß auch, daß das eine zum anderen gehört, Hingabe und Unterwerfung sich gegenseitig bedingen. «Wer das Käthchen liebt», so schrieb er in einem Brief, «dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören wie das + und – der Algebra zusammen, und sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht.»
Kleists Penthesilea ist das brutalste Liebesdrama der deutschen Theatergeschichte. Was als Sekundenverliebtheit zweier feindlicher Kriegshelden beginnt, endet im Wahnsinn, im Tod, im Kannibalismus. Ja, Penthesilea stürzt sich, nachdem sie Achill mit ihrem Pfeil durch den Hals geschossen, also schon getötet hat, inmitten einer Hundemeute auf ihn, zerrt ihm die Rüstung vom Leib und reißt mit ihren Zähnen seinen Brustkorb auf. Blut trieft ihr von Mund und Händen, als sie von ihrem Geliebten abläßt, der so entstellt ist, «daß Leben und Verwesung sich nicht streiten,/Wem er gehört». Was folgt, was danach überhaupt noch folgen kann, ist laut Regieanweisung eine «Pause voll Entsetzen».
Kleist tröstet nicht damit, daß hier Liebe in Haß umgeschlagen sei. Penthesilea vernichtet Achill, weil sie ihn liebt. Sie will ihn mehr als nur mit Leib und Seele besitzen, sie will ihn ganz und gar in sich aufnehmen, und das heißt bei Kleist in aller Konkretion: Sie will sein Herz verspeisen. Und verspeist es, Kleist läßt keinen Zweifel daran: «Sie hat ihn wirklich aufgegessen, den Achill, vor Liebe», betonte er in einem Brief an seine Vertraute Marie von Kleist. Als Penthesilea endlich aus ihrer Raserei erwacht  – nicht weniger als sechsundzwanzig Mal charakterisiert Kleist im Dramentext einen der beiden Liebenden als «rasend» –, als sie vor sich den toten Achill erkennt, ist sie unfähig, sich selbst die Tat zuzuschreiben. Gut, das versteht man als Zuschauer sofort. Seltsamer ist, daß sie selbstverständlich von zwei Tätern ausgeht. Einer, so glaubt sie, habe ihren Geliebten ermordet, ein anderer ihn verschlungen. Dem Mörder will sie vergeben, dieser möge entfliehen. Sagen soll man ihr bloß, wer ihren Achill aufgegessen hat. Der Mord mag niedere Gründe haben, das beschäftigt sie nicht. Wer hingegen «mir den Toten tötete», der muß ihn geliebt und damit «mir so gottlos neben gebuhlt» haben – anders als mit Liebe, mit dem höchsten Ausdruck von Menschlichkeit also, kann Penthesilea sich die drastischste Form der Unmenschlichkeit, die Menschenfresserei nicht erklären.

Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel.

Die Oberpriesterin beschwört Penthesilea, die schreckliche Wahrheit anzunehmen, daß diese sich selbst mit allen Hunden über Achill geworfen und – «O meine Lippe zittert auszusprechen,/Was du getan». Penthesilea will es auch von ihrer Gefährtin Prothoe hören, die jedoch das Gesehene ebensowenig in Worte zu fassen vermag. Eben das gibt den Ausschlag, die Unaussprechlichkeit, damit Penthesilea stotternd begreift:

Was! Ich? Ich hätt ihn –?
Unter meinen Hunden –?
Mit diesen kleinen Händen hätt ich ihn –?
Und dieser Mund hier, den die Liebe schwellt –?
Ach, zu ganz anderm Dienst gemacht, als ihn –!

Auch Penthesilea selbst vermag den Satz nicht zu Ende zu sprechen; nicht einmal das Ach! der Alkmene bringt sie über die Lippen. «Ihr lügt» sagt sie noch einmal, und dann, als sei es die einzig mögliche Erklärung: «Küßt ich ihn tot?» Endlich sieht Penthesilea ein, daß niemand anders als sie selbst das Unaussprechliche getan hat. Noch stammelt sie wie zur Entschuldigung,

So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,
Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,
Kann schon das eine für das andre greifen.

Dann jedoch, als sie sich vor die Leiche niederkniet, bittet sie den toten Achill nicht, ihr zu vergeben; als Liebende weiß sie, was der Liebende tun wird: «Du vergibst mir!» Bevor sie sich den Dolch in die Brust stößt – soweit es der Text sagt, nicht aus Scham, sondern um «diesem Jüngling hier» zu folgen, sich im Tod also mit ihm zu vereinen –, verwirft sie noch die eigene Entschuldigung, im Wahn gehandelt zu haben. Sie, die den Anblick eines getöteten Tiers nicht ertrug, ja, «den Wurm nicht [trat], den gesprenkelten,/Der unter ihrer Füße Sohle spielte», sie, «dies wunderbare Weib», wie Achill sie nannte, «halb Grazie, halb Furie», Penthesilea bekennt, den Geliebten im vollen Bewußtsein verschlungen zu haben.

Wie manche, die am Hals des Freundes hängt,
Sagt wohl das Wort: sie lieb ihn, o so sehr,
Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;
Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrin!
Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon.

Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht.
Sieh her: als ich an deinem Halse hing,
Hab ichs wahrhaftig Wort für Wort getan;
Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.

Gibt es für das, was Kleist in seiner Penthesilea – nein, er zeigt es ja nicht einmal, hielt selbst es für ausgeschlossen, je eine Aufführung des Stückes zu sehen, und hat es explizit nicht für die Bühne geschrieben –, gibt es für die Szene, die Kleist also ausschließlich vor unserem inneren Auge entfaltet, eine Entsprechung im gewöhnlichen Leben, wie es für den Eheroman naheliegt und ich es zuvor auch für die klassischen Liebesgeschichten behauptete? Gewiß, in der Rubrik «Vermischtes» erwähnen die Zeitungen gelegentlich Fälle von Kannibalismus; besonders einer ist mir im Gedächtnis geblieben, bei dem der Angeklagte seine Tat als Liebesdienst hinstellte. Das meine ich allerdings nicht. Literatur, wie ich sie verstehe, mag sich extrem gewalttätiger oder auch besonders kurioser, absurd anmutender, abseitiger, närrischer, obsessiver oder schlicht unglaublicher Vorgänge annehmen – Heinrich von Kleist selbst hat in den Zeitungen am aufmerksamsten die Rubrik «Vermischtes» gelesen. Aber Literatur, für die Kleist ein Maßstab ist, ist es nicht um Absonderlichkeiten zu tun. Sie nimmt solche Vorgänge, um das Extreme, das Gewalttätige, das Absurde, Närrische, Abgründige, Obsessive oder Unglaubliche in unserer eigenen Seele zu beleuchten, in jeder Seele. «Erschrecken Sie nicht, es läßt sich lesen», fährt Kleist in seinem Brief über die Penthesilea fort: «Vielleicht hätten Sie es unter ähnlichen Umständen vielleicht ebenso gemacht.»
Niemand, der bei Verstand ist, wird je in Gefahr geraten, seinen Geliebten oder seine Geliebte aufzufressen. Doch bestimmt sind die meisten Menschen von der Liebe schon einmal um den Verstand gebracht worden. Und dann sollten sie sich erinnern können, daß da nicht nur hehre, helle, selbstlose Gefühle mitschwingen. Sie würden vielleicht nicht in einer öffentlichen Ansprache, aber doch sich selbst eingestehen, daß es in der Liebe auch um Besitzergreifen geht, um Macht, um Eitelkeit, so wie Penthesilea ihren Achill ja hätte haben können, indes nicht haben wollte, als sie noch seine Gefangene war – sie wollte ihn erst besiegen, also dominieren, ihn für immer an sich binden und löste die Tragödie eben durch ein Übermaß an Begierde aus.

Ists meine Schuld, daß ich im Feld der Schlacht
Um sein Gefühl mich kämpfend muß bewerben?
Was will ich denn, wenn ich das Schwert ihm zücke?
Will ich ihn denn zum Orkus niederschleudern?
Ich will ihn ja, ihr ew’gen Götter, nur –
An diese Brust will ich ihn niederziehn!

Und so wie Penthesilea in ihrer Ekstase den Geliebten verschlingt, ihn ganz und gar in sich aufnimmt, so mögen auch gewöhnliche Menschen in der Verzückung, die ihnen in der körperlichen Liebe zuteil wird, für Sekunden den überwältigenden Eindruck haben, sich mit dem Gegenüber physisch zu vereinen, in ihr sich aufzulösen oder ihn aufzunehmen. Es ist ein Grenz- oder genau gesagt: ein grenzüberschreitender Bereich menschlicher Erfahrung, den Kleist so präzise wie universal beschreibt – aber eben der Erfahrung. «Es ist wahr, mein innerstes Wesen liegt darin», schrieb Kleist in einem weiteren Brief an Marie über die Penthesilea: «der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele.»
Es ist für Kleists Rezeption bezeichnend, daß sein erster Herausgeber Ludwig Tieck das Wort «Schmutz» durch «Schmerz» ersetzte, «Schmerz meiner Seele». Schmutzig durfte Literatur nicht sein, oder, wie Goethe höflich schrieb, um sich Kleist vom Leib zu halten:

Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht recht befreunden. Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region, daß ich mir Zeit nehmen muß, mich in beide zu finden.

Jedenfalls im neunzehnten Jahrhundert finde ich nichts, was gerade auch die Gewalt des Sexuellen so rückhaltlos und drastisch bezeichnet wie Kleists Penthesilea, und selbst aus den letzten Jahrzehnten würden mir eher Beispiele aus dem Film einfallen als aus der Literatur. Eher muß man zurückgehen, um etwas Vergleichbares zu finden, zur antiken Tragödie natürlich, an die Kleist so viel anders, so viel überzeugender als die deutsche Klassik anknüpft: Dort hat er es ja her, das Motiv des Gott-Essens genauso wie die tödliche Liebe der Götter.
Aber nicht nur dort. Bestimmt nicht zufällig vergleicht Kleist den liebenden Achill mit Christus:

Ach, diese blutgen Rosen! Ach, dieser Kranz von Wunden um sein Haupt!

Auch versieht er das Verschlingen gegen Ende der Tragödie mit deutlichen Anspielungen auf das Abendmahl, das Verzehren des Fleisches, das Trinken des Blutes. Von der Germanistik weniger beachtet als seine Bezüge zur griechischen Tragödie, versteht Kleist die Liebe so biblisch, daß er auf der Kirchenkanzel einen Skandal auslösen würde. «Denn Liebe ist stark wie der Tod», heißt es im Hohelied, «und ihr Eifer» – wohlgemerkt ihr Eifer! – «ist fest wie die Hölle» – wie die Hölle!

Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen noch die Ströme sie ertränken. (8,6f.)

Nimmt man die Worte so ernst, wie Kleist selbst es in seinem Leben, in seinen Lieben, in seinen allerletzten Briefen vor dem gemeinsamen Selbstmord mit Henriette Vogel tat – Liebe so stark wie der Tod, Eifer so fest wie die Hölle, und ein Feuer so gewaltig, daß kein Wasser es zu löschen vermag –, und stellt das Hohelied in den Zusammenhang des leidenschaftlichen, bisweilen gewalttätigen, fortwährend sexuell konnotierten Verhältnisses, das im Alten Testament, in der Offenbarung des Johannes und selbst in der Bergpredigt den Schöpfer mit seinen Geschöpfen verbindet, man könnte auch sagen: aneinander kettet, bleibt von einem lieben Gott nichts übrig und von einem braven Glauben erst recht nicht. Schließlich gibt es in der Bibel nicht nur das Hohelied des Salomo, das die Liebe zwischen Gott und dem Volk Israel in wundersam zärtlichen, dabei unverhüllt erotischen Bildern erzählt. Es gibt, wahrscheinlich sogar repräsentativer für den Gesamttext, auch das Buch Hosea, in dem Gott als der Liebende vor Eifersucht so fürchterlich wütet, daß er das Volk als seine Geliebte mehr als nur züchtigt, sie vor den Augen ihrer Liebhaber nackt auszieht und sich an ihr vergeht: «Niemand soll sie von meiner Hand erretten», brüllt der liebende Gott (2,12), und die Menschen stammeln nach der Vergewaltigung bestimmt nicht aus Verliebtheit:

Kommt, wir wollen wieder zum Herrn; denn er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen; er hat uns geschlagen, er wird uns auch verbinden. (6,1)

Solche Verhältnisse der Liebe, die die Bibel vor zwei- bis dreitausend Jahren festhielt, sind realer, erfahrungsgesättigter als alle Romanzen, die seither geschrieben wurden – nicht bloß schmerzlich, sondern schmutzig. In einem Brief an seinen Freund oder Geliebten Ernst von Pfuel schrieb Kleist:

Wie flogen wir vor einem Jahre einander, in Dresden, in die Arme! Wie öffnete sich die Welt unermeßlich, gleich einer Rennbahn, vor unsern in der Begierde des Wettkampfs erzitternden Gemütern! Und nun liegen wir, übereinander gestürzt, mit unseren Blicken den Lauf zum Ziele vollendend, das uns nie so glänzend erschien, als jetzt, im Staube unsres Sturzes eingehüllt!

Der Gott der Bibel ist nicht lieb, er ist cholerisch, zornig, rachsüchtig und mordend, er ist großmütig, erbarmend, zärtlich und beschützend, er ist rasend, der Gott der Bibel, nicht weniger als Penthesilea und Achill ist er rasend vor Liebe. Und auch die Menschen der Bibel lieben nicht wie im Vorabendprogramm, sondern ohne Maß; sie verschreiben sich ihrem Herrn buchstäblich mit Haut und Haaren, sind unterwürfig, aber auch rebellisch, werben um den Herrn, wenn er sich ihnen entzieht, und beschimpfen ihn, wenn er sie mißhandelt, klagen die Zuneigung des Geliebten in immer neuen Worten ein. Das macht die Bibel groß, groß auch für Ungläubige: Sie erzählt nicht von Übersinnlichem, sondern von der irdischen Erfahrung in der gesamten Bandbreite und also über das Vertraute, das Angenehme, das Gefällige hinaus. Insofern ist die Bibel göttlich, als sie menschlich ist im Extrem. Es ist, was auch Kleists Dichtungen groß, was sie hier und dort göttlich macht. Es ist, was der deutschen Literatur heute am meisten fehlt.
Ich komme noch einmal auf den berühmten Seufzer der Alkmene zurück, den ich keineswegs willkürlich mit dem Stöhnen im Liebesakt verglich. In der arabischen Sprache kann nämlich das Seufzen und das Stöhnen mit demselben Wort bezeichnet werden: tanaffus. Ich erwähne das, weil die islamischen und hier speziell die arabischen Mystiker große Seufzerexperten waren und ein wenig dazu beitragen können, genauer auf das Ach! der Alkmene zu hören. Besonders bei Ibn Arabi, dem berühmtesten Sufi der arabischen Geistesgeschichte, findet sich eine regelrechte Theologie des Seufzens. «Wenn die Liebesleidenschaft sich im Akt erfüllt, atmen die Liebenden wohlig ineinander», schrieb Ibn Arabi Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in seinen Mekkanischen Offenbarungen, «und tiefe Seufzer lassen sich hören, der Atem strömt in der Weise aus, daß er im Liebenden das Bild des Geliebten formt.» Nun muß man wissen, daß das Seufzen, das zugleich ein Stöhnen ist, im Arabischen mit zwei Buchstaben wiedergegeben wird, dem hamza, das den Knacklaut zwischen zwei Vokalen bezeichnet (wie in The-ater, beachten und so weiter) und dem hāʾ, das stets ein stimmhaftes/h/anzeigt, fast ein/ch/: oaaach. Ibn Arabi bemerkt über die Abfolge der Laute, aus denen das Stöhnen besteht, daß das hamza und das hāʾ die beiden Konsonanten seien, deren Entstehungsort am tiefsten liege. Beide Konsonanten brächten schon physisch eine Bewegung des Herzens zum Ausdruck, da sie zu den sogenannten Kehllauten oder, wie Ibn Arabi die Phonetiker verbessert, genau gesagt zu den Brustlauten gehörten, die ein atmendes Wesen bereits im Naturzustand bildet – bevor es also die Sprache erlernt oder wenn es zum Sprechen nicht mehr fähig ist. «Das tiefe Seufzen, das dadurch entsteht, ist direkt mit dem Herzen verbunden, das der Ort ist, wo der Laut erzeugt wird, und zugleich der Ort seiner Ausbreitung.» Über den Ursprung dieses Klang gewordenen Atmens schreibt Ibn Arabi:

Wenn der Liebende, den Umständen entsprechend, eine Form annimmt, liebt er zu stöhnen, denn in diesem ausströmenden Atem verläuft die Bahn der erstrebten Lust. Dieser tiefe Atem entwich der Quelle der göttlichen Liebe und geht durch die Geschöpfe hindurch, denn damit wollte der Wahrhaftige sich ihnen bekannt machen, auf daß sie Ihn erkennen.

Im Seufzen der sexuellen Verzückung, so kann man, so muß man Ibn Arabi verstehen, im Seufzen, das zugleich ein Stöhnen ist, atmet Gott durch die Liebenden hindurch. Er ist, christlich vergleichbar nur dem Vorgang der Eucharistie, physisch im Menschen gegenwärtig. Die Assoziation ist im Original noch stärker, weil das Arabische die Wörter «Seele» (nafs), «Atem» (nafas) und eben auch «tiefes Seufzen, Stöhnen» (tanaffus) aus einer einzigen Wurzel herleitet, nafusa, und im Bewußtsein des Sprechenden wie des Hörenden untrennbar verbindet. Das Stöhnen als die stärkste, die hörbare Form des Ausatmens kommt, entweicht, strömt schon dem Wortsinn nach aus der Seele. Und so, genau so, stelle ich mir das Seufzen der Alkmene vor: nicht als sentimentales ach! wie in ach je! oder ach Gottchen!, sondern als ein dunkles, tief aus der Brust herausbrechendes Stöhnen, das aus der Seele kommt, entweicht, strömt – oaaach.
Ich muß nur vorstellen, daß Alkmene mit diesem Ach! tatsächlich stirbt – man stirbt nicht mit einem hellen, putzig-erschrockenen Ruferchen. Jedenfalls die Heiligen, von deren Tod berichtet wird, von deren Tod an einer Stelle auch Dein Name berichtet, hauchen die Luft zu einem letzten Seufzer aus, ohne sie wieder einzuatmen. Am Ende hat der Atem keine Wende. Wenn Sie also, wenn Sie jemals wieder in einem deutschen Theater oder gar von dieser Bühne eine Alkmene ein kurzes, keckes Ach! ausrufen hören, dann denken Sie bitte daran, daß das in der Situation nicht gemeint ist, nicht gemeint sein kann, und ahmen Sie vor Ihrem inneren Ohr ein Stöhnen wie in einem Bett nach, das auch ein Sterbebett sein mag.
Was ist Liebe? In seinen Mekkanischen Offenbarungen schreibt Ibn Arabi, daß die Liebe ein brennendes Verlangen sein könne und erotische Erregung. Liebe könne Verzückung sein, Schmerz, Heulen, Trübsinn, Wunde, Auszehrung, Schmachten, Treue – ihre Gestalten seien nicht zu zählen. Liebe könne sich als Verkümmerung darstellen, als Verwelken, äußerste Verwirrung, Sehnsucht, Ekstase, tiefe Seufzer – und jedem einzelnen Aspekt widmet Ibn Arabi ein eigenes Kapitel. Dann jedoch, einige Seiten später, berichtet er folgende, selbstverständlich für wahr erklärte Anekdote:

Ein verliebter Mensch trat eines Tages bei einem religiösen Führer ein, einem Scheich, der mit ihm über die Liebe sprach. Da begann die betreffende Person zu schmelzen, sich zu verflüssigen und wie Wasser zu zerfließen. Ihr Körper löste sich vollständig auf, schrumpfte zu einem dünnen Wasserfilm und zersetzte sich gänzlich vor dem Scheich. In diesem Moment trat ein Freund des Scheichs ein und traf niemanden mehr bei ihm an. Also fragte er ihn: «Wo ist denn der Soundso?»
«Da ist er» antwortete der Scheich und zeigte auf die Wasserlache, um den Freund über den Zustand jenes Verliebten aufzuklären.

Ich glaube, Heinrich von Kleist hätte diese Anekdote gefallen. Und ich glaube, er hätte sie ebenso selbstverständlich wie Ibn Arabi für wahr gehalten und in der Rubrik «Vermischtes» seiner Berliner Abendblätter angeführt. Mit Glück, diesem anderen Wort, dessen Bedeutung zwischen den Fingern verrinnt, mit Glück hat die Liebe, wie sie in den Dichtungen Kleists so vielfältig Gestalt annimmt, allenfalls im Rückblick zu tun – oder künftig. Sieht man von der verzauberten Alkmene ab, die aus ihrem Sexrausch um so verzweifelter erwacht, sind im gesamten Werk Heinrich von Kleists überhaupt nur zwei Menschen glücklich. Es ist Michael Kolhaas, als er zur Hinrichtung geführt wird, und der Prinz von Homburg, als er in die Hinrichtung einwilligt. «Ins Glück?» heißt es im gestrichenen Teil der Familie Ghonorez,

Ins Glück? Alter, es geht nicht. ‘s ist inwendig zugeriegelt. Komm vorwärts. Es steht ein Teufel hinter dir, der wird gleich peitschen, wir sind bald am Ziele.

NAVID KERMANI
ZWISCHEN KORAN UND KAFKA
West-östliche Erkundungen
Rede zur Eröffnung der Hamburger Lessing-Tage, Thalia Theater, 22. Januar 2012

 

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Was ist Liebe? Liebe ist, wenn man ein Gefühl erlebt, aber nicht versucht, es zu definieren. Alles andere ist schon gesagt. Es gibt Hunderttausende Erklärungen, Beschreibungen und Umschreibungen der Liebe, und es wäre müßig, hier noch weitere hinzuzufügen. Zu diesem Thema sollte man sich mehr auf die Dichter als auf die Denker verlassen. Was zum Beispiel die Junggesellen Kant, Schopenhauer und Nietzsche über die Liebe zusammenphilosophiert haben, ist fast nur noch als Kuriosum zu gebrauchen. Ein Petrarca, Shakespeare oder Maupassant wußten da wesentlich besser Bescheid. In der deutschen Sprache umfaßt das Wort Liebe etwas, wofür die Griechen mindestens drei verschiedene Begriffe hatten: Eros, in erster Linie, jedoch nicht nur für die geschlechtliche Liebe; Philia, die auch eine Freundschaft, eine Liebe zur Sache sein kann, wie Philosophie zur Weisheit oder Philologie zum Wort. Selbst der Pferdeliebhaber Philhippos (Philipp) verdankt seinen Namen diesem Wort. Und dann noch Agape als Gottesliebe, als die uneigennützige, aufopfernde Nächstenliebe, ähnlich wie das lateinische Wort caritas. Obwohl und weil sich die Begriffe oft nicht voneinander trennen lassen, wurde immer wieder versucht, das Gefühl der Verbundenheit mit einem anderen Menschen, mit der Menschheit, mit Gott, mit einer Idee, mit einer Sache zu beschreiben. Doch die beste Theorie hilft nicht weiter, hier helfen nur die Dichter. Dies ist ein unermeßliches Feld, aus dem hier nur eine der unendlichen vielen Blüten am Wegrand vorgestellt werden soll. Den schmalen Grat zwischen Dichtung und philosophischer Reflexion beschreitet der Dichter Wolfgang Streicher (geb. 1936) in seinem Werk »Konstruktion«. Aus ihm stammen folgende Sätze: »Die Liebe ist immer so weit, wie sie ist. Sie geht nicht von einem Programm aus, das es zu realisieren gilt, sondern verwirklicht sich Akt für Akt, ohne Vorausschau, ohne ausdrücklichen Willen zum Erotischen. Es gibt keine Programme, es gibt keine Vorausschau auf Zärtlichkeit.« Aus solchen Reflexionen schießt Streicher Wortbilder ab, die jenseits des Rationalen landen und über jeden Versuch hinausgehen, die erotische Komponente der Liebe zu analysieren: Ein Engel strahlt Programme aus. Das Geschlecht stellt um sich Kulissen auf. Die Minute schlägt sich ins Fleisch. Programme entzünden sich von selbst. Das Geschlecht drängt in Analogien. Die Frau beklagt die abgefallenen Monde. Symmetrien bewahren einen Schmerz. Das Glück ist eine Übung der Gelenke. Der Geist kommt auf den Geist zurück. Hier ist nichts auszudeuten, die Sätze bilden eine Einheit und besitzen doch keine nachweisbare Funktion untereinander. Solche Reflexionen haben kein Ziel, sie sind immer schon dort, wo sie hingelangen können. Man kann mit ihnen nie mehr erreichen als das, was sie schon für den erreicht haben, der bereit ist, Dichterworten auch dann nachzuspüren, wenn sie in kein logisches System passen. Ruft dies nach einer Gegenwelt, in der Begriffe und Aussagen eindeutig und vernunftbezogen sind, in der »Programme nicht von Engeln ausgestrahlt«, sondern von Menschen entwickelt werden? Liebe ist nie logisch und wo sie es zu sein versucht, hat sie schon etwas anderem Platz gemacht.

Frieder Lauxmann
Philosophisches ABC

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Alles, was wir uns wünschen, ist Liebe. Und was ist Liebe? Liebe bedeutet: In einer Gemeinschaft, die von Selbstachtung und wechselseitigem Respekt und Kooperation getragen wird, zu leben.

Bernhard Pörksen
Die Gewissheit der Ungewissheit –
Gespräche zum Konstruktivismus

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Was ist Liebe? Darüber ist immens viel geschrieben worden, wenn auch wieder nicht gerade von Psychologen. Schon seit Jahren hält sich ein Grundlagenwerk voller trivialer Tiefsinnigkeit hartnäckig in der deutschen Bestseller-Liste: ERICH FROMM, Die Kunst des Liebens. Auch ein moderner Psychologe schreibt Seichtes und Leichtes in tiefschürfender Diktion zu diesem Thema: PETER LAUSTER, Die Liebe. Ich möchte nichtsdestotrotz zunächst aus dem für mich zu diesem Thema zweitbedeutendsten Opus „Liebe unter sechs Augen“ von JAN HAGEL eine in Misskredit geratene vulgäre Vorform der Liebe, die Erotik, charakterisieren: „In unserem Jahrhundert, in dem das Problem der Freizeitgestaltung besonders akut geworden ist, muss mit Nachdruck auf die noch immer unausgeschöpften Möglichkeiten der Erotik verwiesen werden. Nicht nur zur Unterhaltung, auch zur Veredlung des Menschen werden dadurch neue Wege erschlossen, ist es doch erwiesen, dass zu den wesentlichen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Mensch und Tier unsere Fähigkeit gehört, Vergnügen am Sex zu finden! Wer den reinen Fortpflanzungstrieb und die Frage der Arterhaltung aus dem Sexualleben ausklammert, die Erotik als eigenständiges Erlebnis und künstlerische Ausdrucksform betrachtet, kann auf diese gar nicht unangenehme Art viel zur Vermenschlichung des eigenen Ichs beitragen… Diese Erkenntnisse sind lange von Philosophen und Theologen unterdrückt worden: die Frucht der Liebe fand zwar ungeteilten Beifall, doch der Herstellungsprozess durfte nur als Heimarbeit, nicht etwa als Hobby aufgefasst werden.“ (HAGEL, 1968)
JOACHIM FERNAU beklagt und begründet den sinkenden Markt- und Lustwert des Geschlechtlichen im Rahmen der ehelichen Gemeinschaft ähnlich unumwunden: „Die Mönche kamen in die Hütten! Mit glühenden Augen und zorniger Zunge standen sie in der Tür, traten sie mit ein, saßen sie am Tisch, standen sie am Bett. Der Einbruch in die Ehe war der erste Sturmangriff. Was sollte sie sein? Ein Vertrag? Ein natürliches Zusammenfinden, ein Vollzug durch die körperliche Vereinigung? Die Augen flammten im Zorn auf vor diesen barbarischen, diesen tierischen Instinkten. Aber was war die Ehe dann? Ein Sakrament, wurde ihnen verkündet. Etwas rein Geistiges, Geistliches. Die Germanen staunten. Sie konnten zuerst gar nicht fassen, was sie hörten: die körperliche Gemeinschaft sollte unwichtig sein? Ganz unwesentlich? Jawohl, ein unheiliges, ein notwendiges Übel. Je niedriger man sie ansah, desto besser. Ihr Wert musste völlig vernichtet werden, denn das Geschlechtliche war viehisch, sündig von Adam an, ekelhaft, widerlich.“ (FERNAU, 1969)

Wolfgang Rost
Emotionen – Elixiere des Lebens

  

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Was ist Liebe? Die Gegenwart dieses Lebens tief in dir und in allen Geschöpfen zu spüren. Es zu sein. Aus diesem Grunde ist alle Liebe die Liebe Gottes. ***** Liebe ist nicht wählerisch, genau wie das Sonnenlicht nicht wählerisch ist. Sie bevorzugt niemanden. Sie ist nicht ausschließlich. Ausschließlichkeit gehört nicht zur Liebe Gottes, sondern zur Liebe des Ego. Allerdings fühlen wir wahre Liebe mit unterschiedlicher Intensität. Es kann einen Menschen geben, der dir deine Liebe klarer und intensiver zurückspiegelt, und wenn derjenige für dich genauso fühlt, dann kann man sagen, dass ihr miteinander in einer Liebesbeziehung seid. Was dich mit diesem Menschen verbindet, verbindet dich auch mit jemandem, der neben dir im Bus sitzt, oder mit einem Vogel, einem Baum, einer Blume. Nur die Intensität, mit der du es wahrnimmst, ist anders. Sogar in einer eigentlich abhängigen Beziehung kann es Momente geben, wo etwas Wahreres durchscheint, etwas, das jenseits eurer gegenseitigen Suchtbedürfnisse liegt. Das sind die Momente, in denen dein Verstand und der Verstand deines Partners oder deiner Partnerin kurz beiseite treten und der Schmerzkörper vorübergehend ruht. Manchmal geschieht das, wenn ihr euch körperlich nahe seid oder wenn beide das Wunder der Geburt miterleben oder in der Gegenwart des Todes oder wenn einer von beiden schwer krank ist – was auch immer dem Verstand die Macht nimmt. Wenn das geschieht, wird dein Sein enthüllt, das normalerweise hinter dem Verstand verborgen ist, und dadurch wird wahre Kommunikation möglich. Wahre Kommunikation ist Kommunion, ist die Verwirklichung von Einheit und somit Liebe. Normalerweise geht das sehr schnell wieder verloren, es sei denn, du kannst gegenwärtig genug bleiben, um den Verstand und seine alten Muster auszuschließen. Sobald der Verstand und die Identifikation mit ihm zurückkehren, bist du nicht mehr du selbst, sondern eine Vorstellung deiner selbst, und sofort beginnst du Spiele und Rollen zu spielen, um die Bedürfnisse deines Ego zu befriedigen. Wieder bist du ein menschlicher Verstand, der vorgibt, ein menschliches Wesen zu sein, und der mit einem anderen Verstand ein Drama veranstaltet, das sie dann “Liebe” nennen.
Kurze Einblicke sind zwar möglich, aber die Liebe kann erst dann wirklich erblühen, wenn du für immer von der Identifikation mit dem Verstand befreit bist, wenn deine Gegenwärtigkeit intensiv genug ist, um den Schmerzkörper aufzulösen – oder wenn du wenigstens als Beobachter gegenwärtig bleiben kannst. Dann kann der Schmerzkörper dich nicht mehr überwältigen und so die Liebe zerstören.

Eckhart Tolle
Jetzt! Die Kraft der Gegenwart

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Die Sonne scheint so schön und freundlich in mein Zimmer, in dem nächsten steht das Fenster offen. Auf der Straße ist alles still, es ist Sonntag-Nachmittag. Ich höre deutlich eine Lerche, welche draußen in einem der Nachbargehöfte ihre Triller schlägt, dem Fenster gegenüber, wo das hübsche Mädchen wohnt. Weit, weit von hier, aus einer abgelegenen Straße höre ich einen Mann Krabben ausrufen. Die Luft ist so warm, und dennoch ist die ganze Stadt wie ausgestorben. – Da gedenke ich meiner Jugend und meiner ersten Liebe – als ich mich sehnte. Jetzt sehne ich mich nur nach meiner ersten Sehnsucht. Was ist Jugend? Ein Traum. Was ist Liebe? Des Traumes Inhalt.

Søren Kierkegaard
Entweder-Oder.

 

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»Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?« – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.
»Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Mißtrauenhaben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Tor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!

Friedrich Nietzsche
Also sprach Zarathustra

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Was ist Liebe? Genuß, Zeitvertreib, Laune, Torheit, Phantasie, Unterhaltung, Lustbarkeit. ‘s ist nicht mehr Liebe, wenn sie uns unbequem wird, wenn sie, statt zu ergötzen, uns Qual bereitet.

Wolfgang Amadeus Mozart:
So machen sie’s alle oder Die Schule der Liebenden

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Ein Franzose hält sich für den unglücklichsten und lächerlichsten Menschen, wenn er gezwungen ist, einsam zu sein. Aber was ist Liebe ohne Einsamkeit?

Stendhal (Henry Beyle)
Über die Liebe

  

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Was ist Liebe? Süßes Sehnen,
Banges Wähnen,
Recht des eitlen Traumes Traum.
Die unsterblichen Gewalten
Willst du halten,
Und du hältst dich selber kaum.

Ernst Moritz Arndt
Reime aus einem Gebetbuche für zwei fromme Kinder

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Was ist Ehre als der Zunder des Stolzes; was ist Reichtum als die Wurzel des Geizes; und was ist Liebe als die Falltür der Leidenschaft, die edle Freiheit des Herzens zu berücken?

Johann Karl August Musäus
Libussa
Volksmärchen der Deutschen

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Denn was ist Liebe? – Ein vorübergehendes dunkles Gefühl, und ein Wort.

Ludwig Tieck
William Lovell

Liebe, was ist das?

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