Dmitri Schostakowitsch: 24 Präludien und Fugen op. 87 (Bearbeitung für Orgel)

Von mir für Orgel bearbeitet und eingespielt mit Samples der Riegerorgel im Konzerthaus Wien (Vienna Konzerthaus Organ).

Die 24 Präludien und Fugen für Klavier von Dmitri Schostakowitsch habe ich nicht für Orgel bearbeitet, weil ich diese Fassung für besser oder gar authentischer halte als die originale Klavier-Fassung halte, das ist sie ganz bestimmt nicht. Ich halte eine solche dreist erscheinendes Tun für ein besserere Möglichkeit sich dieser  Musik anzunähern als lediglich passiv den Interpretationen von Tatjana Nikolajewa oder Keith Jarrett zu lauschen. Das ist alles, was ich zu meiner Rechtfertigung zu sagen weiß.

Wer sich Schostakowitschs 24 Präludien anhört, der muss zunächst einmal den Urheber der „Leningrader Symphonie“ vergessen, um den Komponisten von einer ganz anderen Seite kennen zu lernen. Denn in dem Werk gibt es weder Heldenvisionen noch Siegesmetaphern, sondern nur eine ganz persönliche Musik, die bisweilen schmerzerfüllt, träumerisch oder auch komisch sein kann. In seiner Musik versteckte der Komponist die Botschaften an die Zeitgenossen. Aber darüber, was er damit ausdrücken wollte, sollte man nicht reden müssen. Nicht umsonst wiederholte Dmitrij Schostakowitsch oft: „Hören Sie doch meine Musik, da ist alles gesagt.

Bezeichnend für die Schwierigkeiten, die die sozialistischen Spießbürger, die sich für Revolutionäre einer neuen Zeit und im Besitz der einzig möglichen Wahrheit über das Leben, das Universum und den ganzen Rest hielten, sei folgende Anekdote zitiert:

Pawel Apostolow war Musikwissenschaftler, Komponist für Blaskapellen und der Mann, der Schostakowitsch sein Leben lang drangsalierte. Im Großen Vaterländischen Krieg kommandierte er als Oberst ein Regiment; später spielte er eine Schlüsselrolle in der Abteilung Musik des ZK. Schostakowitsch sagte über ihn: »Er kam auf einem weißen Pferd angeritten und vernichtete Musik.« 1948 zwang Apostolows Komitee den Komponisten zu einem Widerruf seiner musikalischen Sünden und trieb ihn fast in den Selbstmord. Zwanzig Jahre später erlebte Schostakowitschs todesschwangere Symphonie eine »nichtöffentliche Premiere« im Kleinen Saal des Moskauer Konservatoriums. Im Grunde war es eine private Probeaufführung für sowjetische Musikexperten, bei der keine Gefahr bestand, dass das neue Werk die breitere Öffentlichkeit infizieren könnte. V dem Konzert hielt or Schostakowitsch eine kleine Ansprache. Der Violinist Mark Lubozki erinnert sich, dass Schostakowitsch sagte: »Der Tod ist schrecklich, danach kommt das Nichts. Ich glaube nicht an ein Leben jenseits des Grabes.« Dann bat er das Publikum, möglichst leise zu sein, da die Aufführung aufgezeichnet werde. Neben Lubozki saß eine Frau, die im Haus des Komponisten arbeitete, einen Platz weiter ein älterer, glatzköpfiger Mann. Als der ganz besonders leise fünfte Satz der Symphonie erklang, sprang dieser Mann plötzlich auf, ließ seinen Sitz laut zurückknallen und rannte aus dem Saal. Die Frau flüsterte: »Unverschämter Kerl! Er wollte Schostakowitsch schon 1948 fertigmachen, aber es ist ihm nicht gelungen. Er hat immer noch nicht aufgegeben, und jetzt hat er die Aufnahme absichtlich ruiniert.«

Wie sehr er in der Zeit der Stalinschen Säuberungen litt, mag folgendes Zitat, in dem er die zweiten Weltkrieg für weniger schrecklich als den Stalinschen Terror schildert (und das will schon was heißen!)  belegen:

«Der Krieg», schrieb der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch in seinen Erinnerungen, «hat mir geholfen. Der Krieg brachte unsagbares Leid und Elend. Das Leben wurde sehr schwer. Es gab unendlich viel Kummer, unendlich viel Tränen. Doch vor dem Krieg war es noch schwerer, weil jeder mit seinem Leid allein war. Schon vor dem Krieg gab es in Leningrad sicherlich kaum eine Familie ohne Verluste: der Vater, der Sohn, und wenn es kein Angehöriger war, dann ein naher Freund. Jeder hatte um jemanden zu weinen. Aber man mußte leise weinen, unter der Bettdecke. Niemand durfte es merken. Jeder fürchtete jeden. Der Kummer erdrückte, erstickte uns. Er würgte alle, auch mich. Ich mußte ihn in Musik umsetzen. Ich empfand das als meine Pflicht und Schuldigkeit. Ich mußte ein Requiem schreiben für alle Umgekommenen, für alle Gequälten. Ich mußte die furchtbare Vernichtungsmaschinerie schildern und den Protest gegen sie zum Ausdruck bringen. Aber wie? Argwohn umgab mich, wo ich ging und stand. […] Da kam der Krieg. Der heimliche, isolierte Kummer wurde zum Kummer aller. Man dufte über ihn sprechen, man konnte offen weinen, offen die Toten beklagen […]. Das Recht auf Kummer ist ein Privileg […]. Nicht nur ich verdanke dem Krieg die Möglichkeit, mich auszusprechen. Das geistige Leben, das vor dem Krieg völlig verdorrt war, erblühte neu, voll und dicht. Alles gewann an Kontur, an Deutlichkeit, an Sinn.»

Christof Rüger: 24 Präludien und Fugen op. 87

Wie Tatjana Nikolajewa berichtet, empfing der Komponist die Anregung zu diesem umfangreichen Zyklus (geschrieben von Oktober 1950 bis Februar 1951) durch die Teilnahme am Leipziger Bachfest 1950. In dessen Rahmen hatte er zusammen mit T. Nikolajewa (Bachpreisträgerin) und dem Pianisten P. Serebrjakow die Soloparts des d-Moll-Konzertes für 3 Klaviere von J. S Bach gespielt. Unmittelbar nach seiner Rückkunft begann Schostakowitsch mit der Komposition von op. 87, das analog dem zweibändigen »Wohltemperierten Klavier« des Thomaskantors in jeder Dur- und Molltonart ein Präludium und eine Fuge enthält. Die An Ordnung ist die gleiche wie bei op. 34: sie folgt dem Quintenzirkel und stellt die Mollparallele jeweils nach. Die Arbeit an dem Werk schritt erstaunlich schnell voran. T. Nikolajewa erlebte die Entstehung aus nächster Nähe mit; so war es ganz natürlich, daß die Uraufführung (Dezember 1952) dann auch ihr übertragen wurde. Auf zweierlei hatte Schostakowitsch selbst hingewiesen: ursprünglich sei nur eine Reihe technischer Exerzitien im polyphonen Stil geplant gewesen, ferner handele es sich nicht um inhaltlich verbundene Stücke, also einen Zyklus, sondern um einzelne, selbständige. Interpretationspraxis und Rezeption haben diese Vorbehalte dann bald widerlegt: was Schostakowitsch aus Bescheidenheit und wohl auch aus Furcht vor möglicher Deuterei ablehnte, ist inzwischen erwiesen — das Werk besitzt die innere Kohärenz und inhaltliche Geschlossenheit eines Zyklus. Gegenüber op. 34 ist die Klangsprache spürbar herber geworden; es drängen sich Vergleiche zu Hindemiths »Ludus tonalis« auf, jenem Zyklus, dessen Entstehung (1942) genau zwischen Schostakowitschs opp. 34 und 87 fällt. Ausdruck und Haltung werden vornehmlich bestimmt von einer oft dissonant geschärften, strengen Lyrik, einem resoluten, in sich ruhenden Selbstbewußtsein und nicht zuletzt von einer subjektiven, ja bekenntnishaften Ausformung jedes einzelnen Stücks, welche mitunter ins Autobiographische spielt.

Präludium und Fuge IV e-Moll op. 87. Für diese Komposition ist das Vorbild im cis-Moll-Paar aus Bachs »Wohltemperiertem Klavier« I zu suchen. Das ruhige Präludium (Andante, 4/4) wirkt traurig, gramvoll dennoch keineswegs düster — trotz der tiefen, wie für die Orgel geschriebenen Haltetöne im Baß. Im Mittelregister sorgt eine obligate Achtelbewegung für den gleichmäßigen Puls. Auf ihr erhebt sich quasi konzertierend der Diskant.

    

Aus dem Grundimpuls zweier Terzabsprünge entwickelt Schostakowitsch einen über 6 Takte reichenden Abgesang. Eine eigentümliche harmonische Wirkung erzeugt der unverhoffte Übergang aus der Tonika zu As-Dur. — Die Doppel-Fuge (à 4, Adagio, 4/4) gehört zu den Höhepunkten des Werkes. Ihr 1. Thema (NB a) schließt an die C-Dur-Fuge dieses Opus an und nimmt das Hauptthema des Kopfsatzes der 10. Sinfonie voraus, die ja unmittelbar nach den 24 Präludien und Fugen entstand. In beiden Themen spielt die bereits vertraute Kleinsekundwendung eine wesentliche Rolle; das 2. Thema greift den Anfang der oben erwähnten Achtelfiguration aus dem Präludium auf und stellt sich überdies als Konzentrat des 1. Themas heraus (NB b). Ein dritter Baustein ist der beibehaltene Gegensatz zum 1. Thema (NB c); seine dreimalige Halbtonwendung ähnelt formal den Klagen des Schwachsinnigen aus Mus- sorgskis »Boris Godunow«.

 

Die vorzügliche Abstimmung und Verträglichkeit der gewählten Themen ermöglichen Schostakowitsch im Höhepunktsabschnitt besonders überzeugende Kombinationen dieser Gestalten, etwa die Gleichzeitigkeit von 1. (Baß) und 2. Thema (Diskant), deren unterschiedliche metrische Formulierungen sich trefflich ergänzen, oder des 2. Themas (Baß) mit dem Gegensatz des 1. (in parallelen Terzen im Diskant).

Präludium und Fuge VIII fis-Moll op. 87. Nach der seltsam verhangenen Motorik des Allegretto-Präludiums (2/4) — sogar sechsfache Repetition der Initialis, ostinate Staccatogruppen aus zwei Achteln m. s., später Halbtonsequenzen von cis3 absinkend bis d2 — setzt attacca die Fuge ein (à 3, Andante, 3/4), ein Stück von bedrückender Tragik und Hoffnungslosigkeit. Tatjana Nikolajewa bekennt, daß sich ihr hier immer die Assoziation eines Gettos aufdrängt. Das Thema spricht von Ermattung, vergeblichem Aufschwung und ruft einen stationären Eindruck hervor.

Präludium und Fuge IX E-Dur op. 87. Das auf 3 Systeme verteilte Präludium (Moderato non troppo, 4/4) wirkt wie der antiphonale Gesang zweier jeweils im Oktavunisono singenden Chorgruppen — die Männer heben mit einem gemessenen Gesang an, auf dem ausgehaltenen cis setzen quasi die Frauenstimmen ein. Die folgende Fuge (Allegro, 3/4) ist die einzige 2stimmige in op. 87.

Präludium und Fuge X cis-Moll op. 87. Nach Bachschem Vorbild (Präludium Es-Dur aus dem »Wohltemperierten Klavier« I) scheint dieses Präludium entworfen (Allegro, 4/4); den Vergleich sprengen aber vornehmlich die metrisch und satztechnisch abweichenden Einschübe (ein Binnen-3/4-Takt, Akkordsatz). Die Fuge à 4 (Moderato, 3/4) gemahnt an die Stimmungswelt des russischen gedehnten Liedes.

Präludium und Fuge XIII Fis-Dur op. 87. Heft II wird eröffnet von einem Präludium (Moderato con moto, 6/8), das bei klarer Trennung von Melodie und Begleitung deutlich improvisatorische Elemente aufweist, Diese freie Haltung soll kontemplativ auf das Kommende einstimmen, Die Adagio-Fuge (2/4), bald dreisystemig gesetzt, ist betont rational gehalten — gilt es hier doch (das einzige Mal in op. 87), 5 Stimmen gegen einander zuführen. Ihr Thema wirkt besonders elementar und zugleich abstrakt und eignet sich damit speziell für kontrapunktische Arbeit.

Präludium und Fuge XV Des-Dur op. 87, Beide Stücke (Allegretto,  3/4; Allegro molto, 3/4) werden von jener automatenhaften und brutalen Motorik beherrscht, wie sie für des Komponisten negative Klanggestalten typisch ist (Scherzo der 8. Sinfonie). Die Fuge ergänzt diese Charakterzüge noch um die giftige Groteske: bizarre Metrik (vom 3/4- über den 2/2- bis zum 5/4-Takt) und geometrische Linienführung (von der Tonika aus weitet sich das Thema zickzackförmig jeweils einen Halbton »nach außen« auf). ’

 

Der Gegensatz bringt dann eine synkopierte chromatische Linie. Die Schlußpartie des 4stimmigen Stückes greift noch einmal auf die brutale Wucht des Präludiums zurück.

Präludium und Fuge XX c-Moll op. 87. Das Paar bedient sich einer bereits hin und wieder latent angewandten Methode der Zyklusbildung: die Initiales (exakt: die ersten 4 Töne) beider Stücke sind identisch.

 

Die improvisatorische Gestaltung des lyrischen Präludiums (Adagio, 4/4) bringt neben einer freien Melismatik des Diskant noch zahlreiche Taktwechsel mit sich. So wirkt das ständige Pendeln zwischen 4/4 und 3/2 in der Fuge à 4 geradezu organisch (Moderato, 4/4).

Präludium und Fuge XXI B-Dur op. 87. Leichte, flinke Bewegung, ähnlich der eines Spinnrads, prägt das Präludium (Allegro, 4/4). Ri- tornellartig erklingt immer wieder ein bifunktionaler Ostinatbaß aus Tonika und Dominante, jeweils eingeschoben spielt die Linke denn stak- katierte Achtelbässe. Ununterbrochen wird, der übrigens sehr rasche (Halbe = 104) 16tel-Faden weitergesponnen. Burschikos wirkt das Thema der 3stimmigen Fuge (Allegro non troppo, 3/4). Ihre Besonderheit: bei Comeseintritt pausiert der Gegensatz, der Dux aber schließt mit einer Imitation des Themenkopfes; auch später pausiert der Gegensatz wieder — Ergebnis: ein Dialoggewebe von reizvoller Transparenz.

Präludium und Fuge XXII g-Moll op. 87. Die homophone Satzweise des Präludiums (Moderato non troppo, 3/4) knüpft deutlich bei Bach an (»O Mensch bewein dein’ Sünde groß« aus der Urfassung der Johannes- Passion, die Schostakowitsch 1950 in der Thomaskirche gehört hatte). Der ruhige Fluß des gleichmäßigen Metrums, die weich und dunkel gewählten Akkorde der Linken (Mollterz in der großen Oktave) erzeugen eine gelöste, nachdenkliche Stimmung. Diese prägt auch die sempre legato vorzutragende 4stimmige Fuge (Moderato, 3/4). Von der schon im 1. Takt erreichten Sext fällt die Melodie stufig (mit jeweiligem Abstoß von der Tonika) zur Mollterz ab — auf jene Spitzentöne legt Schostakowitsch besonderen Wert, sie ergeben eine selbständige motivische Einheit.

 

Kryzysztof Meyer über die 24 Präludien und Fugen op. 87

Im Jahre 1950 feierten die Musikliebhaber in aller Welt den 200. Todestag von Johann Sebastian Bach. Besonders festlich wurde dieser Jahrestag in der erst zuvor entstandenen Deutschen Demokratischen Republik begangen. Den zentralen Feierlichkeiten vom 13. Juli bis zum 11. August in Leipzig ging ein internationaler Bach-Wettbewerb für junge Pianisten, Geiger, Sänger, Cembalisten und Organisten voraus. Zahlreiche Konzerte sowie ein musikwissenschaftlicher Kongreß fanden statt. Die sterblichen Überreste Bachs wurden in die Leipziger Thomaskirche überführt und in deren Gruft feierlich bestattet.
Beim Leipziger Bach-Fest war der Einfluß des damals Europa beherrschenden kalten Krieges in der politischen Atmosphäre deutlich spürbar, denn die Feierlichkeiten waren nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein politisches Ereignis. Die ganze Parteiführung und die Regierungsmannschaft der Deutschen Demokratischen Republik mit Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht an der Spitze nahmen daran teil. Die Rede Piecks war in unerträglicher Weise gespickt mit Phrasen wie »Bach – der Herold des Friedens«, »die faschistischen Barbaren, die die Erinnerung an die großen russischen Komponisten zu verwischen suchen«, und verschiedenen Auslassungen über den kulturellen Niedergang Westdeutschlands.
In dieser gespannten Atmosphäre voll Aggression und aufdringlicher Propaganda erschien Schostakowitsch als Mitglied der siebenundzwanzigköpfigen sowjetischen Delegation. Dies war nun sein zweiter, bedeutend längerer Aufenthalt in Ostdeutschland. Er war Mitglied der Jury beim Wettbewerb, nahm an allen Feierlichkeiten und Konzerten teil und interessierte sich wie immer lebhaft für das Schaffen der zeitgenössischen Komponisten. Er hielt einen Vortrag über Bach, der später in einigen deutschen Zeitschriften publiziert wurde und in dem er unter anderem feststellte: »Das musikalische Genie Bachs steht mir besonders nahe. Es ist unmöglich, an ihm gleichgültig vorüberzugehen. Ich höre seine Musik stets mit größtem Gewinn und ungeheurem Interesse. Viele seiner Werke habe ich viele Male angehört. Und jedesmal entdecke ich darin neue, wunderschöne Stellen. Bach spielt in meinem Leben eine bedeutende Rolle. Ich spiele täglich ein Stück von ihm. Dies ist mir ein echtes Bedürfnis, und der tägliche Kontakt mit der Bachschen Musik gibt mir ungeheuer viel.«
Während des Festes dirigierte Kirill Kondraschin Schostakowitschs Symphonie Nr. 1. Außerdem trat Schostakowitsch unter ganz unerwarteten Umständen als Pianist auf: Zum Abschluß des Festes stand nämlich Bachs Konzert für drei Klaviere auf dem Programm. Unter Kondraschins Leitung sollten Marija Judina, Tatjana Nikolajewa (die frischgebackene Siegerin des Leipziger Wettbewerbs) und Pawel Serebrjakow spielen. Marija Judina verletzte sich jedoch kurz vor dem Konzert am Finger und konnte deshalb nicht auftreten. Schostakowitsch erklärte sich daraufhin bereit einzuspringen, obwohl er dieses Werk niemals zuvor gespielt und in Leipzig nicht die geringste Chance hatte, einen freien Augenblick zum Üben zu finden. Kondraschin erinnerte sich später:
»Die Flügel waren auf der Bühne mit dem schmalen Ende zum Publikum aufgestellt, und das Orchester umgab sie im Halbkreis. Die Proben mit den Solisten und dem Orchester verliefen ohne Probleme, aber bei der Generalprobe kam es zu einem kleinen Zwischenfall: Im dritten Satz spielen die Pianisten der Reihe nach eine Solopassage, der ein Orchesterinterludium folgt. Schostakowitsch unterlief in seinem Solo ein Fehler, er wiederholte zwei Takte und spielte danach seinen Part zu Ende.
Vor dem Konzert kam er zu mir und sagte: ›Kirill Petrowitsch, während der Probe habe ich bei meinem Solo einen Fehler gemacht und bin jetzt furchtbar nervös. Erlauben Sie bitte, daß Pawel Serebrjakow beide Solopassagen spielt – meine und seine eigene. Schließlich stehen die Flügel so auf der Bühne, daß im Publikum niemand sieht, welcher der Solisten gerade spielt.‹
Natürlich war ich einverstanden. Beim Konzert hat dann Serebrjakow Schostakowitsch wundervoll vertreten, sich aber bei seinem eigenen Solo so vertan, daß er für einen Augenblick ganz aussetzen mußte. Nach dem Konzert sah ich Schostakowitsch in der Ecke stehen und äußerst aufgeregt seine Brille putzen.
›Was ist geschehen?‹ fragte ich.
›Eine sehr dumme Geschichte! Es ist mir furchtbar peinlich‹
›Wieso? Weshalb?‹ fragte ich.
›Ich habe einen Kollegen hereingeritten! Er war aufgeregt, weil er beide Soli spielen mußte, und das Publikum weiß nicht einmal, aus welcher Bedrängnis er mich gerettet hat.‹«
Im Gespräch mit den deutschen Kollegen betonte Schostakowitsch, wie sehr er Bachs Wohltemperiertes Klavier bewundere, und meinte, daß es reizvoll sein müßte zu versuchen, diese — wie er sagte — »phantastische Tradition« fortzusetzen. Die deutschen Komponisten äußerten Zweifel, ob es überhaupt möglich sei, im 20. Jahrhundert einen analogen Zyklus von Präludien und Fugen zu schreiben. Dabei konnten sie nicht ahnen, daß ebendies Schostakowitsch in naher Zukunft gelingen sollte. Er war nämlich bereits zu diesem Zeitpunkt entschlossen, mit einem Werk dem großen Thomaskantor seine Ehrerbietung zu erweisen.
Zunächst wollte er polyphone Übungen schreiben, die der Vervollkommnung des Komponistenhandwerks dienen sollten wie ähnliche Arbeiten von Nikolai Rimski-Korsakow und Pjotr Tschaikowski. Bald jedoch änderte er sein Vorhaben und beschloß, 24 Präludien und Fugen für Klavier zu schreiben, eben in der Art des Wohltemperierten Klaviers. Nach seiner Rückkehr schuf er in der Zeit von Oktober 1950 bis Februar 1951 einen sehr umfangreichen zweiteiligen Zyklus (in jedem Teil jeweils zwölf Präludien und Fugen), den er aber – wie er selbst sagte – nicht als einen fortlaufenden Zyklus ansah, sondern als eine Serie von nicht miteinander verbundenen Werken.
Die Aufnahme der Präludien und Fugen war durchaus nicht ein­mütig. Schostakowitsch stellte sie am 31. März und 5. April 1951 auf zwei Treffen der Sektion für symphonische Musik des Komponistenverbands vor.
Direkt nach dieser Präsentation schrieb Daniel Schitomirski an seine Frau:
»Gestern spielte Schostakowitsch zum ersten Male im Komponistenverband seine neuen Präludien und Fugen, d. h. die Hälfte des Zyklus, also 12 Präludien und Fugen. Natürlich war der Saal überfüllt. Es herrschte eine gespannte Atmosphäre. Pianistisch war sein Spiel äußerst mangelhaft (später sagte er mir am Telefon, er hätte schreckliche Magenschmerzen gehabt), aber die Musik entschädigte teilweise mit vielen hervorragenden Stücken. Einiges wurde nicht ganz klar, anderes wiederum war so schlecht vorgetragen, daß man sich über die entsprechende Musik überhaupt kein Urteil bilden konnte.«
Eine Woche später informierte er seine Frau wieder: »Gestern brachte Schostakowitsch im gleichen Saal die zweite Hälfte seiner Präludien und Fugen zu Gehör. Er war weit besser in Form, und auch sein Spiel war viel ausgeglichener. Wiederum ein ganzer Ozean bester Musik. Als er geendet hatte, spendete der Saal einmütig Beifall. Die ›Chefs‹ verziehen jedoch nach wie vor die Miene über diese Stücke, wenngleich sich unter den Fugen auch gänzlich liedartige befinden, von denen eine (soweit ich das mitbekommen habe) sogar ein authentisches russisches Volksliedthema aufweist …«
Am 16. Mai entbrannte eine lebhafte Diskussion, an der sich Komponisten, Instrumentalisten, Kritiker und Musikwissenschaftler beteiligten. Die meisten warfen Schostakowitsch eine Rückkehr zu Formalismus und Dekadenz vor, einige Fugen (so etwa die Fuge Des-Dur) wurden schlicht als ganz gewöhnliche Kakophonie bezeichnet. Dem Komponisten wurde darüber hinaus eine Abwendung von der gegenwartsbezogenen Thematik vorgeworfen (»wozu das Wohltemperierte Klavier wiederholen?«). Unter den schärfsten Kritikern befanden sich Marian Kowal, aber auch Dmitri Kabalewski, Israil Nestjew, Sergei Skrebkow und einige mehr. Es waren nur wenige, die Schostakowitschs neues Werk verteidigten — hauptsächlich seine Schüler Georgi Swiridow und Juri Lewitin sowie die Pianistinnen Judina und Nikolajewa. Diese Auseinandersetzungen zogen sich über mehrere Monate hin und verstummten erst, als Nikolajewa — die die Präludien und Fugen noch während ihrer Entstehung voller Eifer einstudierte – den ganzen Zyklus erstmals in zwei Konzerten aufführte und damit einen großen Erfolg erzielte.

In diesen 24 Präludien und Fugen entwickelte der Komponist seine Konzeption der Übertragung der Bachschen Fuge in seine Musiksprache, und zwar beginnend mit einer fast stilisierenden Bearbeitung (Präludium cis-Moll) bis hin zur totalen Chromatik, in der die Tonart nur noch eine marginale Rolle spielt und lediglich eine konventionelle Bezeichnung ist (Fuge Des-Dur).
Nicht alle Stücke sind gleich wertvoll, und nicht alle zeigen Schostakowitschs stilistische Eigenschaften. Manche, wie zum Beispiel die Präludien C-Dur und Fis-Dur, ergehen sich in einer seichten und wenig überzeugenden Archaisierung. Es sind jedoch nur wenige Stücke nicht ganz gelungen, und sie mindern nicht im geringsten die Bedeutung des Werkes insgesamt. Der Zyklus enthält dramatische Stücke voller Pessimismus (etwa das erschütternde Präludium b-Moll oder die Fuge h-Moll) und andere, die von Schostakowitschs spezifischem Humor geprägt sind (Präludium H-Dur, Fuge B-Dur), aber auch groteske (Präludium fis-Moll, Fuge As-Dur), lyrische (Präludium f-Moll, Fuge g-Moll), heitere (Präludium F-Dur, Fuge A-Dur), der russischen Tradition verpflichtete (Präludium c-Moll, Fuge d-Moll) und schließlich Stücke, die sich auf seine eigenen interessanten Tonleitern stützen (die Fugen As-Dur und Es-Dur). Alle haben außerdem hohe pianistische Vorzüge – es ist deutlich zu sehen, daß hier ein Virtuose am Werk war.
In dem Zyklus treten erstaunliche stilistische Inkonsequenzen auf. Manchmal erscheinen neben eindeutig traditionellen Miniaturen (Präludium Fis-Dur) sehr geistreiche und unkonventionelle Stücke (Fuge Des-Dur). Einige Teile des Zyklus weisen charakteristische Stilmerkmale des frühen Schostakowitsch auf (zum Beispiel das Präludium fis-Moll), andere wiederum knüpfen an seine letzten Werke an (zum Beispiel an das Lied von den Wäldern), in denen die Originalität des kompositorischen Gedankens nicht mehr so überzeugend ist (Fuge C-Dur). Das reiche Instrumentalkolorit (Präludium E-Dur) ist mit trockener, »graphischer« Polyphonie durchflochten (Fuge a-Moll), und die unmittelbaren Anknüpfungen an die Faktur Bachs (Präludium cis-Moll) verbinden sich mit der Welt von Modest Mussorgskis Dramen (Präludium es-Moll).
Schostakowitschs Zyklus ist jedoch vor allem der russischen Tradition tief verbunden. Seine Nationalität war in seiner Musik bereits wiederholt zum Ausdruck gekommen, hier jedoch trat sie dank der Anwendung einer modalen Harmonik besonders deutlich hervor. Die Präludien und Fugen sind nicht von der in der westeuropäischen Musik traditionellen Dur-Moll-Harmonik geprägt, sondern von den in der russischen Volks- und Kirchenmusik üblichen Tonskalen, derer sich im 19. Jahrhundert mit hervorragenden Effekten die Vertreter des »mächtigen Häufleins« bedienten, insbesondere Mussorgski. Schostakowitschs Bestreben, enge Verbindungen zur Tradition herzustellen, sind gut zu verstehen, wenn man die Entstehungszeit dieses Werkes berücksichtigt, das zweifellos zu den anspruchsvollsten gehört, die er nach den Ereignissen von 1948 geschrieben hat. Jedes gewagtere Vorpreschen barg nämlich die Gefahr herber Kritik in sich, mit der übrigens einige Fugen und Präludien, die eine unkonventionelle Sprache und nur geringe Verbindungen zur Vergangenheit aufwiesen, nichtsdestotrotz bedacht wurden.
Das neue Werk hat der Prüfung der Zeit standgehalten und ist in das Repertoire zahlreicher Pianisten in aller Welt eingegangen. Für Schostakowitsch selbst hatte diese Entwicklung eine enorme Bedeutung, denn seit 1948 hatte sich seine schöpferische Arbeit fast ausschließlich auf die Realisierung ihm aufgezwungener, für seine Kunst aber verderblicher Forderungen beschränkt, die jahrelang seine Entwicklung hemmten. Seit der Resolution Über die Oper »Die große Freundschaft« schuf er nur noch Werke wie Das Lied von den Wäldern, die Musik zu den oberflächlichen Texten von Jewgeni Dolmatowski und vor allem musikalische Illustrationen zu den Propagandafilmen Mitschurin, Begegnung an der Elbe, Der Fall von Berlin, Belinski und Das unvergeßliche Jahr 1919. Kondraschin erinnert sich, daß Schostakowitsch kurz nach den Ereignissen von 1948 auf die Frage seiner Kollegen, an was er gerade arbeite, voll Bitterkeit antwortete: »Im Augenblick schreibe ich eine Filmmusik. Es ist schlimm, daß es dazu kommen mußte. Ich kann euch nur einen Rat geben: Solltet ihr auch in die Lage kommen, dies tun zu müssen, dann nur im Falle äußerster Not, äußerster Not.«

Unvergängliche Werke aber schuf er nur für sich allein, ohne Aussicht, sie in absehbarer Zeit aufführen zu können. Neben den bereits erwähnten Jüdischen Liedern und dem Violinkonzert steht hier das wunderschöne Streichquartett Nr. 4 (1949), dem – wie den beiden vorangegangenen Werken – Motive jüdischer Musik zugrunde lagen.

Kryzysztof Meyer:
Persönliche Erinnerungen an den Menschen Schostakowitsch

An Stelle der üblichen Zusammenfassung, allgemeiner Schlußfolgerungen oder Erwägungen über die Bedeutung seiner Musik innerhalb der Kunst unseres Jahrhunderts habe ich beschlossen, die Lebens- und Schaffensgeschichte Dmitri Schostakowitschs um einige persönliche Erinnerungen an ihn zu ergänzen. Über Schostakowitschs Werk ist sehr viel geschrieben worden, aber ich bin mir nicht sicher, ob diese unzähligen Studien die in gewisser Weise rätselhafte Gestalt letztendlich wirklich ergründet haben. Schostakowitsch ist nicht nur wegen seiner nicht ganz eindeutigen Haltung gegenüber dem schonungslosen sowjetischen Machtapparat schwer faßbar, sondern auch wegen mancher persönlicher Eigenschaften, die es sinnlos, ja wahrscheinlich völlig unmöglich machen, gewöhnliche Maßstäbe anzulegen.

Schostakowitsch war ein Mensch voller Widersprüche. Aus den familiären Erinnerungen, die Victor Seroff in seiner Monographie auswertet, kristallisiert sich das Bild eines hochbegabten jungen Mannes heraus, der unglaublich fleißig ist und sich um die Verbesserung der Lebensbedingungen seiner Nächsten sorgt, gleichzeitig aber im Alltag unerträglich sein kann. Diese angeborenen Charaktereigenschaften prägten sich um so mehr aus, je stärker er im Laufe der Jahre schweren Prüfungen und Erfahrungen ausgesetzt war, bei denen es nicht mehr allein darum ging, sich selbst und seiner Familie einigermaßen erträgliche Existenzbedingungen zu sichern, sondern schlicht darum, zu überdauere und Repressionen möglichst zu vermeiden. Sein schwieriger Charakter unterlag also Veränderungen, die ihn schließlich so weit führten, daß man ihn kaum noch als einen Menschen bezeichnen konnte, der sich in seinen Reaktionen einfach verhielt, rational dachte und konsequent handelte.

Sein Verhalten entzog sich einer eindeutigen Beurteilung. Die einen sahen in ihm einen Opportunisten, andere wiederum respek­tierten sein Verhalten, in dem sie Beweise für eine Ablehnung des sowjetischen Machtanspruchs erkannten. Es gab auch einzelne, die Schostakowitsch für einen typischen russischen Sonderling hielten – einen Menschen, der den Tölpel spielt und unter der Narrenmaske der Welt auf umständliche Weise die Wahrheit sagt, wobei er seine Gedanken absichtlich in rauhe, farblose und ungelenke Worte kleidet. Wahrscheinlich war er von allem etwas, und diese Charakterzüge verbanden sich in ihm unauflöslich; ähnlich wie seine ungewöhnliche Bescheidenheit und der Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten gepaart waren mit krankhaftem Ehrgeiz, immer der erste und beste zu sein.
So wie er sich verhielt und handelte, konnte Schostakowitsch sicherlich die Menschen nicht für sich einnehmen, obwohl es viele waren, die sich als seine Freunde bezeichneten. Wirkliche Freunde hatte er jedoch im Laufe seines Lebens nur wenige. Man könnte sie an den Fingern einer Hand aufzählen. Neben Iwan Sollertinski waren es mit Sicherheit Issaak Glikman und Leo Arnschtam. Die Freundschaft mit Jewgeni Mrawinski zerbrach Anfang der sechziger Jahre unwiederbringlich. Auch die Kontakte zu Wissarion Schebalin kühlten sich ab und sogar die zum jungen Edisson Denissow, den er eine Zeitlang sehr förderte. Selbstverständlich gab es noch eine Gruppe ihm sehr ergebener Musiker, die auch zum Freundeskreis gezählt werden dürfen – das Beethoven-Quartett, David Oistrach, Mstislaw Rostropowitsch und Moissei Wainberg. Dies waren jedoch vor allem Künstlerfreundschaften – kaum mehr. Der Grund hierfür ist nicht nur in der Tatsache zu suchen, daß die Menschen gerade in den für den Komponisten schwierigsten Jahren sich ihrer eigenen Sicherheit wegen lieber zurückzogen, sondern auch in dem Umstand, daß Schostakowitsch in zwischenmenschlichen Beziehungen stets eine große Distanz wahrte. Es genügt, daran zu erinnern, daß er ausgesprochen selten Brüderschaft schloß und sogar seine nächsten Freunde lieber förmlich mit dem Vatersnamen ansprach; so wandte er sich an Sollertinski mit Iwan Iwanowitsch und an Glikman mit Issaak Dawidowitsch, auch wenn er dies nicht immer konsequent durchhielt. Selbst in seiner Beziehung zu Mrawinski behielt er bis zum Schluß die offizielle Anrede bei, und gegenüber Oistrach ging er erst in den letzten Lebensjahren zum vertrauten »Du« über. Sein angeborenes Unvermögen, Kontakte zu knüpfen, spielte bei dieser besonderen Art von Isolation zusätzlich eine große Rolle. Er schrieb selbst darüber, aIs er über sein erstes Treffen mit Sollertinski berichtete. In der Zeit des großen Terrors, als das Zusammenleben der Menschen von Angst geprägt war, zeigte sich Schostakowitsch manchmal völlig unzugänglich. In ihren Erinnerungen bestätigen dies Nicolas Nabokov, Arthur Miller und Hans Mayer. Da er nicht viele Freunde hatte, umgab sich Schostakowitsch dafür mit Menschen, die im kulturellen Leben der Sowjetunion eine sehr zweideutige Rolle spielten.

Gegen Ende der fünfziger Jahre erwachte in mir der Wunsch, Kontakt zu Schostakowitsch aufzunehmen. Der Grund hierfür war natürlich seine Musik, nicht seine Persönlichkeit, denn das, was ich damals aus offiziellen Quellen über ihn wußte, regte nicht gerade dazu an, seine Bekanntschaft zu suchen. Der Name Schostakowitsch verband sich in Polen wie auch in allen anderen sozialistischen Ländern vor allem mit Werken wie Das Lied von den Wäldern, bestenfalls aber mit der Leningrader Symphonie oder der Symphonie Nr. 5, die auch nicht anders bezeichnet wurde als »die Antwort eines sowjetischen Komponisten auf eine gerechte Kritik«. Darüber hinaus wurden seine verschiedenen unerträglich propagandistisch-ideologischen Aussagen publiziert, die in greller Form den Standpunkt der Kommunistischen Partei aufzeigten. Dies alles stellte für den größten Teil der polnischen Intelligenz eine wirksame Antireklame dar. Es gab jedoch seine Musik, auch wenn diese zum damaligen Zeitpunkt nur zum kleinen Teil bekannt war. Über Meisterwerke wie Die Nase oder Lady Macbeth von Mzensk oder seine frühen Symphonien (mit Aus­nahme der Symphonie Nr. 1) war kaum etwas zu erfahren; die sowjetische Propaganda behauptete aber weiterhin, daß es sich hierbei um künstlerische Entartungen handelte. Schostakowitsch war mir also allein als Schöpfer der Symphonien Nr. 1, Nr. 5, Nr. 7 und Nr. 10 sowie des Klavierquintetts und der Violoncellosonate bekannt, denn in jenen Jahren wurde kaum etwas anderes aufgeführt.
Die Symphonien Nr. 1 und Nr. 10 genügten jedoch, um mir – einem Teenager und Schüler der Musikschule – eine neue, faszinierende Welt der Töne zu eröffnen. Das Ungewöhnliche dieser Musik weckte in mir den Wunsch, möglichst viele Werke dieses Komponisten kennenzulernen, wenngleich die Möglichkeiten sehr begrenzt waren.
Einige Personen, die Gelegenheit gehabt hatten, Schostakowitsch persönlich kennenzulernen, brachten ihn mir als Mensch näher. In ihren Erzählungen wandelte sich das Bild des offiziellen Vorkämpfers für den Frieden und Verfechters der Grundsätze des sozialistischen Realismus in die tragische Gestalt eines Opfers des kommunistischen Regimes, eines eingeschüchterten Menschen, der nicht mehr frei schaffen und handeln konnte. Meine Pflichten in der Schule erlaubten es mir leider nicht, den »Warschauer Herbst« 1959 zu besuchen (ich lebte damals in Krakau). So versäumte ich eine Gelegenheit, Schostakowitsch persönlich kennenzulernen. Da mich jedoch seine Musik immer mehr faszinierte – ich hatte mich damals eben mit seiner neuesten, der Symphonie Nr. 11 bekannt gemacht -, beschloß ich, dem Meister einen Brief zu schreiben und ihm zu bekennen, welche Empfindungen seine Kunst in mir weckte. Ich schrieb also ei­nen langen Brief und legte eines meiner Werke bei. Da ich mit einer Reaktion seinerseits kaum zu rechnen wagte, war meine Freude um so größer, als – entgegen dem, was ich über seine Unzugänglichkeit gehört hatte – bereits nach einigen Wochen eine Antwort kam, der eine Photographie mit Widmung beigelegt war. Da dies gerade mit meinem kompositorischen Debüt zusammenfiel, schilderte ich ihm dies, noch ganz unter dem Eindruck des Ereignisses, im nächsten Brief und dankte zugleich für die rasche Antwort. Und wiederum kam eine Sendung; auf einem Stück minderwertigem Karton, möglicherweise dem Überrest irgendeiner Verpackung, war zu lesen: »Lieber Krzysztof, ich gratuliere Ihnen zum ersten Konzert. Ich wünsche große schöpferische Erfolge. Mit bestem Gruß D. Schostakowitsch«. So begann die – selbstverständlich nicht allzu intensive – Korrespondenz zwischen dem weltberühmten Komponisten und dem halbwüchsigen Schüler und späteren Studenten. Schostakowitschs Briefe waren stets sehr sachlich und kurz, wenngleich auch warmherzig. Ich beschloß deshalb, mich nach Moskau aufzumachen, um ihn persönlich kennenzulernen.
Zu jener Zeit war in Polen eine Auslandsreise ein äußerst schwieriges Unterfangen, auch wenn sie in die sogenannten Volksrepubliken oder die Sowjetunion führen sollte. Private Fahrten waren grundsätzlich unzulässig. Einen Platz in einer Gruppenreise zu ergattern war andererseits nur nach Überwindung zahlreicher Hürden möglich. Nach mehreren Monaten hartnäckiger Bemühungen gelang es mir endlich, alle Formalitäten zu erledigen. Ich schrieb also an Schostakowitsch, daß ich nach Moskau kommen werde, und bat ihn um eine Begegnung. Am Tag vor meiner Abreise erhielt ich einen Brief, in dem ich las: »… Leider werde ich mich mit Ihnen nicht treffen können, denn ich werde zu der Zeit nicht in Moskau weilen …«
Dennoch verzichtete ich nicht auf die Reise und beschloß, als ich in Moskau war, auf eigene Faust mein Glück zu versuchen.
Ich ging also zum Sitz des Komponistenverbands. Dort erklärte mir die Sekretärin von Tichon Chrennikow mit gezwungener Höflichkeit, daß Schostakowitsch zwar zu Hause sei und noch eine Woche lang in Moskau bleiben werde, aber so beschäftigt sei, daß er niemanden empfangen könne. Dabei machte sie deutlich, daß sie auch nicht gewillt war, mir seine Telephonnummer zu geben. Ich spürte zwar deutlich, daß der Wunsch, Schostakowitsch zu besuchen, im Komponistenverband nicht gern gesehen war. Es ist mir aber wohl nie gelungen, das ganze Ausmaß des dort herrschenden Widerwillens gegenüber Schostakowitsch richtig zu erfahren. Noch Ende der achtziger Jahre, als ich eine der sich sonst am freundlichsten gebenden höheren Angestellten des Verbandes bat, ein kleines Päckchen an die Witwe des Komponisten weiterzugeben, erfuhr ich nach mehreren Monaten, daß dies immer noch nicht geschehen war, weil »niemand wußte, wo sich Frau Schostakowitsch befinde«. Die so »erfolglos Gesuchte« wohnte die ganze Zeit über im selben Haus, vier Stockwerke höher!
Im darauffolgenden Jahr begab ich mich zum zweitenmal nach Moskau, nachdem ich zuvor wiederum mehrere Wochen mit der Erledigung von Paßformalitäten verbracht hatte. Zu der Zeit wohnte Schostakowitsch nicht mehr auf dem Kutusowskiprospekt, sondern im Zentrum Moskaus in einer kleinen Straße, die früher Brjussowski-Pereulok hieß und in der seit Jahren viele bedeutende Künstler lebten.
Bis heute sind an den Häuserwänden zahlreiche Gedenktafeln zu bestaunen, unter anderem eine zu Ehren von Wsewolod Meyerhold, der hier von 1928 bis zu seinem Tod gelebt hat. Hier wohnte auch die hervorragende Sängerin Antonina Neschdanowa. Nach ihrem Tod wurde die Straße umbenannt und trug fortan ihren Namen. Eine kleine orthodoxe Kirche — eine der wenigen, die sogar in den schlimmsten Jahren nicht geschlossen wurden – befindet sich ebenfalls dort. Die Neschdanowastraße beginnt an einer der wichtigsten Moskauer Hauptstraßen, der Twerskastraße, die noch zu Lebzeiten des Schriftstellers in Gorkistraße umbenannt wurde, und endet bei der Gerzenstraße, die vor allem dank des Konservatoriums mit dem berühmten Großen Tschaikowski-Konzertsaal bekannt ist. Am Anfang der Neschdanowastraße geht von ihr eine kleine Gasse ab, die sie mit der parallelen, ebenfalls kleinen Ogarjowstraße verbindet. In dieser Gasse wurde gegen Ende der fünfziger Jahre ein mehrstöckiger Gebäudekomplex im damals typischen »sozialistischen« Stil errichtet. In dem Gebäudeflügel, der zur Neschdanowastraße hinausging, ließ sich der sowjetische Komponistenverband nieder sowie – als seine Filiale — der Komponistenverband der Russischen Sowjetrepublik, dem Schostakowitsch acht Jahre lang vorstand. Außerdem befinden sich in dem Gebäude die Redaktion der Monatsschrift Sowetskaja musyka (Sowjetische Musik), ein Konzertsaal, die Auslandsagentur und ein preiswertes, für Moskauer Verhältnisse elegantes Restaurant, das nur den Mitgliedern des Komponistenverbands zugänglich ist. Über hundert Familien der bedeutendsten Komponisten, Musikwissenschaftler und Interpreten wohnten in diesen Blocks, darunter im sechsten Stockwerk Schostakowitsch, ein Stockwerk tiefer Aram Chatschaturjan und Dmitri Kabalewski. Nicht weit entfernt wohnten auch Rostropowitsch und Kogan.
Diesmal war mir das Schicksal gnädiger. Schostakowitsch war nicht nur in Moskau, sondern auch bereit, mir etwas von seiner Zeit für ein Treffen zu opfern. Bevor es dazu kam, verbrachte ich viele Stunden allein damit, seine Telephonnummer herauszufinden. In der Sowjetunion gab es nämlich praktisch seit Jahren keine Telephonbücher, und man benötigte wahrlich detektivischen Spürsinn, um eine Nummer herauszubekommen. Eine Begegnung aber konnte nur nach vorheriger telephonischer Absprache und genauer Festlegung eines Termins zustande kommen, was übrigens bei den vielfältigen Verpflichtungen Schostakowitschs nicht einfach war. Nach einem guten Dutzend Telephonaten mit seiner Sekretärin im Komponistenverband erfuhr ich endlich nach einigen Tagen, daß ich am Vormittag zu einer bestimmten Stunde kommen solle, wobei ich unbedingt pünktlich sein müsse. Wie ich später erfuhr, war Schostakowitsch in dieser Hinsicht äußerst genau und verlangte größte Pünktlichkeit; dies war eine der wenigen Eigenschaften, die ihn mit Sergei Prokofjew verbanden.
Das Treffen sollte in Schostakowitschs Büro im Komponistenverband der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) stattfinden. Als ich zur verabredeten Stunde kam und das Gebäude betrat, sprach mich eine typische russische »Babuschka« an, die auf dem Gang neben dem Eingangstor saß und nach dem Ziel meines Kommens fragte. Nahezu in jedem Moskauer Haus sind Leute, deren Aufgabe darin besteht, zu beobachten, wer kommt, wer geht und wer wen besucht. Als mich der Aufzug in den zweiten Stock brachte (Schostakowitsch wohnte vier Stockwerke darüber), betrat ich ein geräumiges Sekretariat, in dem ein Trubel herrschte wie auf einem großen Postamt. Trotz der vielen Besucher und des allgemeinen Wirrwarrs mußten die Mitarbeiter alles genauestens unter Kontrolle haben, denn sogleich kam eine der Sekretärinnen auf mich zu, die bestens wußte, wer ich war und warum ich kam.
Eine halb geschlossene Tür auf der linken Seite führte in ein großes Arbeitszimmer. Am Ende dieses Raumes standen zwei Männer, von denen mir einer Schostakowitsch ähnlich schien. Kaum hatte ich meinen Mantel abgenommen, als ebendieser auf mich zukam – es war in der Tat Schostakowitsch. Er war etwas kleiner, als ich dachte.
Trotz der frühen Stunde trug er einen streng offiziellen dunkelblauen Anzug und ein schneeweißes Hemd. Aber bei aller Korrektheit seiner Kleidung war er auffallend schlecht rasiert. Er fragte mich mit leiser, etwas heiserer und unerwartet hoher Stimme, wobei er die Wörter etwas ungenau aussprach:
»A wy kak goworitje – tak skasat, po russki? Sprechen Sie deutsch? Parlez-vous français? Do you speak, tak skasat, english?«
Diese Fragen klangen recht befremdlich, denn wir hatten bereits seit drei Jahren auf Russisch korrespondiert. Zudem erfuhr ich später, daß Schostakowitsch außer einigen englischen Brocken keine Fremdsprachen beherrschte.
Mit einer Handbewegung bat er mich auf die linke Seite jenes großen Raumes. Er tat dies auf eine äußerst förmliche Art, wobei nicht einmal ein Anflug von Freundlichkeit sein Gesicht erhellte. Nach |Jahren sollte ich mich überzeugen, daß er sich bei Menschen, die er wenig kannte, stets so steif und unzugänglich gab.
Schostakowitsch holte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und zog den Rauch tief ein. Die Begegnung begann mit konventionellen, gleichsam eilig gestellten Fragen: wo und bei wem ich studiere und so weiter. Dies wäre weiter nicht verwunderlich gewesen, wenn ich hierüber nicht bereits in meinen Briefen geschrieben hätte. Hatte er es vergessen? Hatte er sie nie genau gelesen? Stellte er diese Fragen, um irgendwie das Gespräch zu eröffnen, und beachtete meine Antworten gar nicht? Denn alles, was ich sagte, führte zu keinerlei sichtbaren Reaktionen auf seinem Gesicht, obwohl dieses sehr lebendig war, aber allein wegen der zahlreichen nervösen Zuckungen und der sehr lebhaften Augen. Erst als ich ihm die Noten meiner Klaviersonate Nr. 1 vorlegte, schienen sich seine Geister zu regen, und in seinem Gesicht zeigte sich Interesse.
Wir setzten uns an den Flügel, Schostakowitsch an der rechten Seite. Rasch nahm er seine altmodische runde Brille ab und setzte eine andere auf, die noch vorsintflutlicher war. Nervös sah er die Noten durch. Während meines Spiels verfolgte er aufmerksam den Text und legte die Blätter um. In dem geräumigen, nahezu leeren Arbeitszimmer – es befanden sich darin lediglich ein Schreibtisch, ein kleines Tischchen, Büroschränke und zwei Konzertflügel – war der Nachhall so groß, daß die Musik unerträglich dröhnte und die Töne fast gänzlich verschwammen. Und da überfiel mich ein eigenartiger Gedanke, daß nämlich die Leute nebenan im Sekretariat möglicherweise sagten: »Na ja, aus Schostakowitschs Arbeitszimmer kann ja nur solche Kakophonie kommen«, woraufhin jemand hereinkäme und allem ein Ende setzte.
Plötzlich aber verwandelte sich diese meine Phantasie in Wirklichkeit, denn kaum hatte ich aufgehört zu spielen, betrat ein junger Mann ohne anzuklopfen das Zimmer und kam mit sicheren Schritten auf den Flügel zu. Schostakowitsch sprang auf, gab ihm die Hand und sagte: »Lernen Sie sich kennen: Krzysztof Meyer, polnischer Komponist – Andrei Jakowlewitsch Eschpai, ein sehr guter Komponist, verstehen Sie, ein sehr guter Komponist, der auch selbst instrumentiert!« fügte Schostakowitsch mit steinernem Gesicht erläuternd hinzu. Sie wechselten rasch einige Worte, und Eschpai verließ wieder den Raum.
»Ihre Sonate ist, sozusagen, interessant, eine gute Musik, sozusagen, sie hat mir gefallen. Und was zeigen Sie mir noch?« fragte er plötzlich viel freundlicher. »Ein Streichquartett? Ein Streichquartett?«
Er nahm die Partitur in die Hand, und in dem Augenblick schwand sein herzlicher Gesichtsausdruck so schnell, wie er sich zuvor gezeigt hatte.
»Weshalb eine andere Notierung?« fragte er heftig. »Weil das jetzt so in Mode ist?«
Ich versuchte zu erklären, daß diese Art von Musik nicht mit Hilfe der traditionellen Zeichen notiert werden könne.
»Ja, ja, das ist jetzt so in Mode«, wiederholte er, als ob er gar nicht zugehört hätte. Er blätterte die ersten drei Seiten durch und bemerkte, als wenn er schon vorher die Partitur gesehen hätte: »Hier sollte wohl cis und nicht c stehen.«
Ich blickte auf die Noten. Natürlich, er hatte recht! Schostakowitsch fand sofort den Fehler, erkannte also auf Anhieb den Sinn dieser Musik, obwohl er sie überhaupt nicht akzeptierte, denn als wir den letzten Satz des Werkes vierhändig durchgespielt hatten, wiederholte er das Urteil über die Sonate, so als hätte ich ihm das Quartett überhaupt nicht gezeigt: »Ihre Sonate ist interessant, eine gute Musik. Sie hat mir, sozusagen, sehr gefallen. Gut, daß Sie sie selbst spielen, denn jeder Komponist muß Klavier spielen können.«
Diesen letzten Satz wiederholte er bei fast allen unseren späteren Begegnungen.
Er stand auf und ging zum Schreibtisch, setzte sich mit dem Rücken zum Fenster und griff wieder nach der Zigarettenschachtel.
Obwohl ich selbst nicht rauchte, war ich einen Augenblick lang neugierig, ob er mir auch eine anbieten würde. Er nahm jedoch nur eine Zigarette heraus, zündete sie an und versank in Gedanken. Plötzlich schien er aus seinem Grübeln aufzuschrecken, und eine gewisse Herzlichkeit erhellte wieder seine Züge. Zum drittenmal wiederholte er den Satz über meine Sonate und fügte etwas lebhafter hinzu: •Man muß ein Konzert organisieren und Ihre Werke aufführen, am besten hier, im Komponistenverband. Wir machen ein Konzert, ja, wir machen ein Konzert. Man muß Austauschkonzerte zwischen den Verbänden machen, zwischen Warschau und Moskau.«
Er hatte eine hohe, heisere Stimme und sprach leise, wobei er Silben verschluckte und manche Wörter mehrmals wiederholte.
Schließlich erwähnte er, daß er in nächster Zukunft eine Reise nach Polen unternehmen wolle.
Auf die Frage, wann er zu kommen gedenke und ob seine Pläne vielleicht mit dem »Warschauer Herbst« in Verbindung stünden, sagte er: »Nein, nicht zum ›Warschauer Herbst‹, nein, nein. Ich werde Ihnen schreiben, wann ich komme. Ich werde Ihnen einen Brief schreiben.«
Einen solchen Brief habe ich niemals erhalten. Auch habe ich nicht gehört, daß er versucht hätte, Austauschkonzerte zwischen den Verbänden zu organisieren. Möglicherweise hat er das schnell wieder vergessen, oder vielleicht sollte das nur eine höfliche Geste sein …
Ich hatte mich so sehr auf diese Begegnung gefreut, aber das Gespräch wollte nicht recht zustande kommen. Meine Versuche, von ihm verschiedenes zu erfahren und auch einige Fragen zu seiner Musik zu stellen, blieben erfolglos. Schostakowitsch saß wie auf Kohlen, rauchte eine Zigarette nach der anderen und beantwortete meine Fragen knapp, als wollte er mich abfertigen. Mir lag zum Beispiel sehr daran, von ihm zu hören, warum seine frühe Schauspielmusik zu Hamlet, die er 1932 für das Wachtangow-Theater geschrieben hatte, so grotesk und humoristisch war, ohne Verbindung zu Shakespeares Drama.
Ehe ich meine Frage zu Ende formuliert hatte, antwortete er blitzschnell, »weil der Regisseur eine solche Konzeption hatte«. Als ich erwähnte, daß ich im Prager Rundfunk seine Symphonie »Der 1. Mai« gehört hatte, die damals noch unbekannt war und nicht gespielt wurde, tat er so, als hörte er nicht, was ich sagte. Mir wurde klar, daß er nicht die geringste Lust hatte, über seine Musik zu sprechen. Als ich aber anmerkte, daß ich eben die Partituren seiner Quartette erstanden hätte, zeigte er sich deutlich erfreut:
»Ah, die Quartette«, sagte er erregt. »Ja, die Quartette. Geben Sie her, dann werde ich sie Ihnen signieren!«
Zu meiner Verwunderung packte er den ersten Band, öffnete ihn, überlegte eine Weile und fragte dann: »Wie schreibt man eigentlich Ihren Namen?«
Ich war wie vom Blitz getroffen – eine solche Frage nach drei Jahren einer relativ regen Korrespondenz! Dabei hätte ich längst merken müssen, daß es ihm in keinem seiner Briefe gelungen war, meinen Namen, den Vornamen oder die Adresse richtig zu schreiben. So sollte es auch bis zum Ende unserer über ein Jahrzehnt dauernden Bekanntschaft bleiben, obwohl diese im Laufe der Jahre einen hohen Grad von Vertrautheit erlangte. Damals wußte ich auch nicht, daß die wenigen freundlichen Worte, die er mir in den Partiturband schrieb, eine der beiden »Standardwidmungen« waren, die Schostakowitsch nahezu automatisch allen schrieb – den näheren und den weiteren Bekannten, den Autogrammjägern und den Fremden. Sie lauteten: »Zum freundlichen Gedenken« oder »Mit besten Wünschen«.
So endete meine erste Begegnung mit Schostakowitsch. Am Schluß wiederholte er nochmals: »Ihre Sonate ist sehr interessant; gute Musik; sie hat mir, sozusagen, sehr gefallen. Gut, daß Sie sie selbst spielen, denn jeder Komponist muß Klavier spielen können.«
Darauf begleitete er mich in das Sekretariat hinaus. Als ich meinen Mantel anzog, sprach er bereits mit einem anderen Gast. Ich verließ das Gebäude in der Neschdanowastraße in der Überzeugung, daß es mir wohl nie gelingen würde, diesen Menschen näher kennenzulernen.
Im März 1968 trafen wir uns zum zweitenmal. Aus der Korrespondenz war deutlich zu ersehen, daß mein Verhältnis zur Gegenwartsmusik ganz anders war als seine traditionellen Ansichten hierzu. Schostakowitsch hat dies mehrmals in seinen Briefen betont. Deshalb versprach ich mir nicht allzuviel von diesem zweiten Gespräch.
Als ich ihn in seiner Wohnung besuchen ging, blieb vorher noch etwas Zeit, so daß ich eine Weile vor dem Haus in der Neschdanowastraße wartete und das Treiben beobachtete. Eine Gruppe Musikwissenschaftler diskutierte leidenschaftlich über das seit Kriegsende erste offizielle Treffen mit westdeutschen Komponisten. Drei stark angeheiterte bekannte Moskauer Komponisten verließen das Restaurant gleich nebenan. Chrennikow, der von seinen Mitarbeitern umgeben war, gab ihnen irgendwelche Anweisungen. Plötzlich tauchte Kabalewski mit Rucksack und Skiern auf und stieg zusammen mit seiner Tochter in einen großen Wagen. Alle, die sich hier aufhielten und der Ecke einen lauten, lebhaften und geschäftigen Charakter verliehen, gehörten Musikerkreisen an. Und da fiel mir der ungeheure Kontrast auf zwischen diesem so typischen Wirrwarr und der Ruhe des zu Ende gehenden Tages sowie der damals in Moskau noch spürbaren Allgegenwart der Natur – dem Geruch der Erde und des tauenden Schnees, der das Nahen des Frühlings ankündigte.
Zur verabredeten Stunde läutete ich an der Haustür. Es öffnete die langjährige Haushaltshilfe Marija Koschunowa. Gleich darauf zeigte sich Schostakowitschs junge Frau Irina Antonowna im Flur, und schließlich kam der Hausherr gelaufen – wortwörtlich gelaufen. Obwohl Schostakowitsch seit unserer letzten Begegnung einen Herzinfarkt und bereits den zweiten komplizierten Beinbruch erlitten hatte, wirkte er physisch kaum verändert. Seine Haare waren lediglich deutlich grauer geworden, und er rauchte keine Zigaretten mehr, was er übrigens gleich mit den Worten kommentierte: »Die Ärzte haben mir alle Freuden dieses Lebens genommen, alle Freuden dieses Lebens.«
Zu meiner großen Verwunderung machte Schostakowitsch den Eindruck eines völlig anderen Menschen. Es strahlte Lebensfreude aus, war fröhlich und erinnerte in nichts an den introvertierten Griesgram, den ich dreieinhalb Jahre zuvor angetroffen hatte. Er trug einen unglaublich häßlichen, aber sorgfältig gebügelten rostrotbräunlichen Anzug mit einer farblich darauf abgestimmten altmodischen Krawatte. Mit einer herzlichen Geste bat er mich in sein Arbeitszimmer.
Dieses war groß, und in seiner Einrichtung mischten sich auf eigenartige Weise Anzeichen guten Geschmacks mit mangelndem Interesse an irgendeiner Form von Raumästhetik. Links neben der Tür standen ein recht abgenutztes altes Sofa sowie ein Bücherschrank mit wild durcheinandergeworfenen Büchern. Über dem Sofa hing das bekannte Porträt von Boris Kustodjew, das Schostakowitsch im Alter von 13 Jahren zeigt. Daneben hing noch eine kleine Zeichnung desselben Malers, die den kleinen Dmitri beim Klavierspiel im Profil darstellt. Am anderen Ende des Zimmers standen zwei Flügel — beide ziemlich verstimmt, was darauf schließen ließ, daß sie wohl wenig gebraucht wurden. Auf der gegenüberliegenden Wand hingen verschiedene Photos von Schostakowitsch, von denen eines, das ihn mit dem Rücken zum Flügel sitzend zeigt, besonders stark vergrößert war. Daneben befanden sich noch andere Photos von ihm, die aber – wie ich nach einigen Besuchen merkte – meistens bald ausgewechselt wurden; anscheinend bereiteten sie Schostakowitsch eine besondere Freude. Des weiteren waren Photos von Wissarion Schebalin, Gustav Mahler und Modest Mussorgski zu sehen sowie vier Karikaturen der Mitglieder des Beethoven-Quartetts: Dmitri Zyganow, Sergei und Wassili Schirinski und Wadim Borissowski. Daneben stand eine Beethoven-Büste. Die Wand zierten außerdem ein Konzertplakat und die sorgfältig eingerahmten Diplome der Ehrendoktorate. Zwischen den beiden großen Fenstern stand ein ansehnlicher Schreibtisch mit einer mächtigen Tischlampe (ob sie wohl antik war?) und zwei schweren silbernen Kerzenleuchtern. Auf dem Schreibtisch lagen die verschiedensten Dinge verstreut: eine Schachtel mit altertümlichen Schreibfedern, Federhalter, ein alter Tintenlöscher, zahlreiche Kugelschreiber, Bleistifte und Filzstifte sowie eine Zigarettenschere, die wohl noch aus der Zeit stammte, als Schostakowitsch leidenschaftlich rauchte. Daneben befanden sich ein Terminkalender, zwei große Tintenfässer, das Telephon und eine ganze Menge anderer Gegenstände. Rechts neben dem Schreibtisch stand ein kleines Tischchen mit einem Tonbandgerät. Eine mächtige antike Uhr tickte laut und schlug alle halbe Stunde. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand hing ein großes und ziemlich vulgäres Bild, das Nana, die Heldin aus Emile Zolas Roman, zeigte. Später erfuhr ich, daß es der mit Schostakowitsch befreundete Pjotr Wiljams gemalt hatte. Im Zimmer befanden sich außerdem nachträglich eingebaute primitive Schränke und eine Sprossenwand für gymnastische Übungen.
Schostakowitsch setzte sich auf den Drehstuhl am Flügel und ließ mich weit von sich auf dem Sofa neben der Tür Platz nehmen. Neugierig fragte er mich nach den Eindrücken meiner Sibirienreise (ich war gerade auf dem Rückweg aus Nowosibirsk), dem Verlauf der Konzerte mit meinen eigenen Werken und den menschlichen Begegnungen. Meine Erzählung unterbrach er immer wieder mit Kommentaren wie: »Oh, Slonim, er ist ein wunderbarer Pianist«, oder: »Kotljarewski, ein guter Mensch, tief gläubig, verstehen Sie, tief gläubig«.
Schostakowitsch interessierte sich für alles und wollte alle Einzelheiten wissen. Plötzlich aber wechselte er das Thema und riet mir, was ich in Moskau besichtigen sollte. Schließlich fragte er, ob ich irgendwelche Werke mitgebracht hätte. Als ich von der Tonbandaufnahme meiner Symphonie erzählte und erwähnte, daß ich die Noten einer neuen Klaviersonate bei mir hätte, rief er: »Zeigen Sie her, bitte, zeigen Sie unbedingt her!«
Irina Antonowna schaltete das Tonbandgerät an, und Schostakowitsch setzte sich an den Schreibtisch. Beim Zuhören las er aufmerksam in der Partitur mit. Alle Fröhlichkeit wich aus seinem Gesicht und machte einer tiefen Konzentration Platz. Seinen Kopf stützte er in die linke Hand und klopfte hin und wieder nervös mit den Fingern gegen die Backe. Während des Zuhörens kam wie verabredet Raissa Gleser, eine Moskauer Musikwissenschaftlerin, die im Haus nebenan wohnte. Schostakowitsch, der die Vereinbarung wohl vergessen hatte, sprang auf und rief erregt: »Absperren, die Tür absperren!«
Woraufhin er sich wieder meiner Symphonie zuwandte und mit unbewegtem Gesicht zuhörte. Als sie zu Ende war, stellte er eingehende, wenngleich unwesentliche Fragen, als ob er zögerte, ein Urteil über das Werk abzugeben, das ihm möglicherweise nicht gefiel. Das Gespräch wurde immer schwieriger. Plötzlich sagte Schostakowitsch leise und eindringlich mit einem beinahe entschuldigenden Unterton: »Sie haben mir aber versprochen, die Sonate vorzuspielen …«
Ich setzte mich also an den Flügel, und es wiederholte sich die Situation von vor Jahren bei meinem ersten Besuch. Wieder spielte ich, und Schostakowitsch saß zu meiner Rechten und blätterte die Seiten um. Als ich fertig war, schwieg er eine Weile und meinte schließlich: »Sie spielen sehr gut Klavier.«
Nach kurzer Überlegung wiederholte er leise, wie erstaunt: »Wirklich vorzüglich.«
Er nahm nochmals die Noten in die Hand, blätterte darin und sagte dann: »So eine schöne Sonate, schade, daß sie schon zu Ende ist«, und unerwartet lebhaft fügte er hinzu: »Sie hätten noch ein wenig mehr schreiben sollen, ein wenig mehr.« Dabei schlug er die Noten auf der letzten Seite auf. »Sie hätten die Sonate erst hier beenden sollen«, er strich mit dem Finger über die leeren Seiten am Ende des Manuskripts. »Hier hätten Sie enden sollen … oder besser hier«, und der Finger wanderte einige Zentimeter weiter, »oder hier. Eine wunderbare Sonate. Sie spielen ausgezeichnet Klavier.«
Er zeigte sich wieder in bester Stimmung. Inzwischen bat Irina Antonowna alle zu einem Imbiß an den reich gedeckten Tisch im Nebenzimmer. Rasch schenkte Schostakowitsch Wein ein und trank ein volles Glas in einem Zug. Er strahlte richtig vor Freude. Deren Ursache war mir bald klar, als er nämlich wie beiläufig erwähnte, daß er vor einigen Tagen das Streichquartett Nr. 12 beendet hatte.
»Ich habe in Repino daran gearbeitet«, fügte er hinzu. »Dort ist die Natur so wunderbar. Schade, daß Sie nicht nach Repino gekommen sind. Wir hätten uns dort und nicht in Moskau treffen sollen.«
Ich fragte ihn, welche Opusnummer das Quartett trägt. »Das ist schwer zu beantworten, sehr schwer. Aber meine Schwester in Leningrad kennt alle meine Werke. Ich werde sie unbedingt fragen müssen. Übrigens, wissen Sie, wie man auf italienisch ›Dämpfer abnehmen‹ schreibt? Ich muß es in die Partitur einfügen. Nicht ›ohne Dämpfer spielen‹, sondern ›Dämpfer abnehmen‹ … Können Sie mir das vielleicht sagen? Ich habe das Quartett für Zyganow geschrieben und hoffe, daß er es wird spielen wollen. Ja, das hoffe ich sehr …«
Ich wollte noch etwas mehr über dieses neue Werk erfahren, aber es gelang mir nicht, Schostakowitsch zu weiteren Äußerungen zu bewegen, außer zu der Feststellung, daß es länger sei als das Streichquartett Nr. 5. Danach wechselte das Gesprächsthema. Schostakowitsch sprach immer schneller, und von Zeit zu Zeit unterbrach er das Essen, trommelte irgendeinen Rhythmus mit den Fingern auf den Tisch oder spielte mit dem Korken, den er von einer Hand in die andere warf und zwischen den Tellern hin und her rollte. Plötzlich rief er: »Die Lampe über uns, ich kann das nicht mehr ansehen! [Es handelte sich um einen wunderbaren Kristallüster.] Ständig habe ich das Gefühl, daß mir irgendein Teil davon auf den Kopf fällt. Man muß das absichern!«
Er spielte immer nervöser mit dem Korken. Ganz unvermittelt kam er auf Polen zu sprechen und zeigte Interesse an polnischer Musik.
Dabei erwähnte er, daß sein Vater ausgezeichnet Polnisch gesprochen habe, und rezitierte aus dem Gedächtnis einen lustigen Kindervers von Jan Brzechwa. Dann fügte er in leicht entschuldigendem Ton hinzu: »Wissen Sie, es ist für Sie vielleicht unangenehm, aber ich mag Chopin nicht besonders. Zum Beispiel das Prelude A-Dur …«, und er begann mit leiser, hoher Stimme, das Klavierspiel imitierend, zu singen, wobei er mit solchem Schwung die Hände durch die Luft wirbelte, als ob er eine der Etudes d’execution transcendante von Franz Liszt spielte und nicht jene einfache Miniatur von Chopin. Abrupt brach er das Singen ab und erklärte: »Ich kann nicht mehr singen. Ich habe die Stimme völlig verloren. Kennen Sie Grazyna Bacewicz, eine polnische Komponistin?«
Wie sich herausstellte, kannte er Bacewicz und liebte ihre Musik, obwohl diese sich sehr von seinem eigenen Schaffen unterschied. Als sie im darauffolgenden Jahr starb, schrieb er mir einen ergreifenden Brief voller Trauer, aus dem deutlich wurde, wie sehr er diese hervorragende Komponistin geschätzt und verehrt hatte. Im Augenblick jedoch begnügte er sich mit meiner zustimmenden Antwort und meinte weiter, daß Witold Lutosŀawski ein Meister sei, aber die Passion von Krzysztof Penderecki zuviel langsame Musik enthalte.
»Zuviel langsame Musik«, wiederholte er, »übrigens ist auch in Ihrer Symphonie zuviel langsame Musik.«
Die gute Laune verließ ihn nicht. Wieder wechselte er das Thema und sprach nun von Bela Bartok, den er sehr lobte.
»Das ist ein wunderbarer Komponist«, begann er regelrecht zu schwärmen. »Wissen Sie, seine Quartette sind eine herrliche Schule für Komponisten; sie werden von Quartett zu Quartett besser.«
Da Bartok im Jahre 1929 die Sowjetunion besucht hatte, fragte ich, ob sie sich bei der Gelegenheit persönlich kennengelernt hatten.
»Nein, nein, leider«, unterbrach er sofort, »Bartok war damals in Moskau, und ich lebte, was Sie vielleicht nicht wissen, in Leningrad.«
Schostakowitsch sprach fast ununterbrochen und freute sich offensichtlich an seinen eigenen oft unerwarteten Formulierungen. Vor allem aber erzählte er mit Vergnügen von der neuen Oper Moissei Wainbergs, Die Reisende.
»Das ist ein erstaunliches Werk …«, wiederholte er mehrmals, »eine ungewöhnliche Oper.«
Als Raissa Gleser schließlich aufstand und meinte, es sei nun höchste Zeit, den Besuch zu beenden, widersprach er heftig: »Wohin so eilig? Bleibt doch noch, bleibt. Wir werden uns morgen sowieso noch sehen«, fügte er hinzu, »denn möglicherweise komme ich zu Ihrem Konzert.« (Am nächsten Tag fand in Moskau ein Konzert mit Werken von mir statt.)
Zwei amüsante Episoden ereigneten sich noch während der Verabschiedung. Da ich schon damals daran dachte, eine Monographie über ihn zu schreiben, fragte ich nach dem Geburtsnamen seiner Mutter. Verblüfft blickte er zu seiner Frau, als ob er die Frage überhaupt nicht verstünde. Irina Antonowna aber beantwortete sie seelenruhig. Zum Schluß wollte ich ihm sein eigenes großes und sehr schönes Photo schenken, das mir jemand in Nowosibirsk gegeben hatte. Erfreut nahm er das Bild.
»Sie möchten ein Autogramm haben? Ich werde es Ihnen gleich unterschreiben!«
Obwohl ich das gar nicht erwartet hatte, nahm er einen Kugelschreiber und schrieb einige Worte auf das Photo. Er wollte es mir gerade überreichen, doch da zog er seine Hand nochmals zurück und schrieb etwas hinzu. Wir waren noch nicht ganz aus der Wohnung, als er sich rasch umdrehte und in seinem Arbeitszimmer verschwand.
Es blieb uns die Erinnerung an ein ungewöhnlich angenehmes, herzliches und wunderbares Treffen.
Die nächste Begegnung erfolgte im Herbst 1969. Anlaß war die Moskauer Premiere seiner Symphonie Nr. 14. Ich kam am Tag des Konzerts, am 8. Oktober, in Moskau an und war mir gar nicht bewußt, wie wohlgesinnt mir Fortuna war. Wegen des nebligen Herbstwetters war dies nämlich das einzige Flugzeug, das im Laufe der Woche pünktlich angekommen war. Es war natürlich unmöglich, jetzt noch eine Konzertkarte zu bekommen, aber befreundete Personen im Komponistenverband hatten mir ihre Hilfe versprochen.
Einige Stunden später war ich glücklicher Besitzer einer Einladung.
Erst am darauffolgenden Tag erfuhr ich, daß ich die Einladung von Schostakowitsch selbst erhalten hatte; sie war ursprünglich für seinen Sohn bestimmt.
Die Menschen strömten in Scharen in das Konzert, obwohl es angeblich keine solche Sensation war wie die Uraufführung der Symphonie Nr. 13. Alle Plätze im Großen Saal des Tschaikowski-Konservatoriums waren bereits lange vor dem Erscheinen des Moskauer Kammerorchesters und seines Dirigenten Rudolf Barschai besetzt.
Im ersten Teil des Konzerts wurde Joseph Haydns Symphonie f-Moll »La passione« glänzend aufgeführt. Dennoch war die Resonanz nicht überwältigend. Es zeigte sich deutlich, daß man vor allem den zweiten Teil des Konzerts mit der Symphonie von Schostakowitsch erwartete. Das neue Werk wurde in noch vollkommenerer Weise mit der höchstmöglichen Einfühlungsgabe aufgeführt. Sowohl die Solisten Galina Wischnewskaja und Mark Reschetin als auch das zwanzigköpfige Orchester erreichten ein nur selten gehörtes Niveau. Wie ich später erfuhr, hatte Barschai vor dem Konzert mehrere Dutzend Proben abgehalten.
Als die letzten Töne verklungen waren, erwartete ich einen Beifallssturm, wie er mir aus Erzählungen nach den Uraufführungen der Symphonie Nr. 5 und der Leningrader Symphonie bekannt war. Die Ovationen dauerten in der Tat sehr lange, und die Aufführung war im Vergleich mit einem gewöhnlichen Konzert ein großer Erfolg; der Komponist mußte über zehnmal auf die Bühne kommen. Dennoch schien mir, daß die Anwesenden etwas konsterniert waren von der unglaublichen Konzentration und Tiefe der Musik, deren Charakter, Stimmung und Thematik eher zur Reflexion als zu lauten Enthusiasmusbekundungen anregten.
Hinter den Kulissen wurde Schostakowitsch von einer ganzen Schar von Verehrern umringt. Vor mir stand gerade Aram Chatschaturjan, der ihn herzlich umarmte und rief: »Mitja, ich danke dir, du bist genial!«
Schostakowitsch machte eine undeutbare Grimasse und bedankte sich kurz. Als ich an ihn herantrat und ebenfalls meine Dankbarkeit für ein so unvergleichliches Erlebnis bekundete, sagte er gar nichts und machte den Eindruck, als ob er mich überhaupt nicht erkenne. Ich fügte deshalb hinzu, daß ich direkt aus Warschau gekommen sei. Aber er sah unverändert ausdruckslos durch mich hindurch. Mit meinem Bekannten dagegen, der ihm auch gratulierte, wechselte Schostakowitsch einige freundliche Worte. Die Szene mußte so eigenartig wirken, daß mich ebenjener Bekannte mißtrauisch fragte: »Habt ihr euch überhaupt jemals kennengelernt?«
Viele Jahre später erklärte mir Irina Schostakowitsch, daß ihr Mann damals bei den vielen Begegnungen mit Bekannten nach dem Konzert überhaupt nicht normal reagieren konnte, weil er so furchtbar aufgeregt war.
Zwei Tage nach diesem für mich überraschenden Ereignis im Moskauer Konservatorium traf ich Schostakowitsch im Großen Theater. Wie immer saß er während der Pause auf seinem Platz.
»Guten Abend, wie verlief der letzte ›Warschauer Herbst‹?« fragte er sogleich, als er mich sah. Wir verabredeten, daß ich am nächsten Tag nachmittags zu ihm nach Haus kommen sollte, wobei er sich im voraus entschuldigte, daß »er nicht in der Lage sein werde, mich so zu empfangen, wie es sich gehört«.
Da ich wußte, wie wichtig für ihn Pünktlichkeit war, erschien ich auf die Minute genau. Schostakowitsch öffnete die Tür selbst und war so nervös, daß er fast zitterte.
»Ich habe überall nach Ihnen telephoniert! In allen Hotels habe ich Sie gesucht! Wo waren Sie denn?«
Erschrocken über seinen Zustand fragte ich: »Was ist passiert?«
»Wie können Sie fragen? Sehen Sie denn nicht? Der Aufzug ist defekt! Man muß zu mir in den sechsten Stock zu Fuß gehen! Ich wollte deshalb unser Treffen verschieben. Aber ich konnte Sie nirgends finden. Es tut mir furchtbar leid!«
Der Aufzug war in der Tat außer Betrieb, aber es ist mir nicht gelungen, ihm zu erklären, daß dies für mich völlig ohne Bedeutung sei. Er entschuldigte sich noch mehrmals und erklärte, daß in letzter Zeit der Aufzug sehr oft defekt sei …
Er war an jenem Tag in schlechter Stimmung und schien sich auch nicht recht wohl zu fühlen. Die ganze Zeit war er sehr ernst, und als ich ihn etwas genauer beobachtete, stellte ich bedrückt fest, daß er im letzten Jahr viel deutlicher gealtert war als in den vier Jahren zuvor. Immer wieder rückte er seine bedeutend stärkere Brille zurecht oder putzte sie nervös. Er hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe, und seine Hände waren ungewöhnlich rauh und rissig. Gekleidet war Schostakowitsch, wie stets etwas eigenartig, in einen alten aschgrauen Anzug, den er wahrscheinlich früher zu festlichen Anlässen getragen hatte, und ein zerknittertes buntes Flanellhemd.
Wir sprachen zunächst über Beethoven, dessen Symphonie Nr. 9 Schostakowitsch kürzlich in einem Konzert gehört hatte.
»Ich habe sie schon lange nicht mehr gehört, aber endlich habe ich erkannt, wie glänzend sie geschrieben ist. Bei Beethoven haben wir alles – Klassik und Romantik und 20. Jahrhundert.« Nach einer Pause fügte er gedankenverloren hinzu: »Es gibt so viele wunderbare Werke, so viele herrliche Entdeckungen. Nicht nur die Symphonie Nr. 9, nein, auch seine letzten Sonaten, vor allem die Hammerklaviersonate.« Er ging an den Flügel und spielte ein Stück aus dem Adagio.
»Da ist schon alles drin. Aber auch in der Großen Fuge … Die Große Fuge mag ich besonders gern.« Und voller Enthusiasmus schlug er plötzlich vor: »Spielen wir die Große Fuge.«
Schostakowitsch ging an den Schrank, nahm die Noten heraus und gab sie mir.
»Sie spielen auf dem einen Flügel die Stimme der ersten Geige und der Bratsche, und ich spiele auf dem anderen Flügel die Stimme der zweiten Geige und des Cellos.«
»Und wie teilen wir uns die Noten?« fragte ich, da ich nur ein Exemplar der Partitur sah.
»Das ist kein Problem«, Schostakowitsch winkte ab, »ich spiele aus dem Gedächtnis.«
Es ist kaum zu glauben, aber Schostakowitsch, dem es zu der Zeit bereits schwerfiel, Klavier zu spielen, spielte die beiden Stimmen von Beethovens Quartett nicht nur technisch einwandfrei, sondern er irrte sich auch kein einziges Mal, obwohl er dieses überaus schwierige Werk ganz aus dem Gedächtnis wiedergab.
Danach schien er mir noch erschöpfter und unzugänglicher zu sein. Er reagierte nicht einmal auf das Kommen von Wainberg. Schließlich wollte er aber doch noch wissen, ob ich ihm irgendwelche meiner neuen Werke mitgebracht hätte. Ich zeigte ihm also das eigens für diesen Zweck mitgenommene Violinkonzert und eine neue Symphonie für Chor und Orchester. Er wollte gerne beide Werke hören, doch schien ihm dies unmöglich, und mit einer hilflosen Handbewegung meinte er nur: »Wissen Sie, meine Frau ist nicht zu Hause, und ich weiß nicht, wie man das Tonbandgerät bedient.«
Er war sehr erstaunt, als ich ihm zeigte, wie einfach das geht. So hörte er beide Werke ab und las dabei wie immer die Partitur mit.
»Eine herrliche Symphonie! Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Sie gefällt mir sehr gut!«
Nach einer Weile schien er irgendwie verlegen, als ob er um Verzeihung bitten wollte, und sagte schließlich: »Bitte schenken Sie mir diese Einspielung.«
Einen Augenblick lang war ich verblüfft. Da flüsterte mir Wainberg auf polnisch zu: »Sie müssen ihm das Band unbedingt geben; es hat ihm wirklich gut gefallen.«
Schostakowitsch bemerkte Wainbergs Reaktion und wurde noch verlegener: »Sie denken nun wohl, daß ich aufdringlich bin? Wirklich nicht! Können Sie mir das Band schenken?«
Als wir uns kurz danach verabschiedeten, gab er mir eine unglaublich lange Liste von Personen, die ich in Leningrad, wohin ich mich am nächsten Tag begab, besuchen müßte.
»Und wenn Sie wieder nach Moskau zurückkehren, rufen Sie unbedingt an, dann werden wir uns treffen.«
Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, daß er, als ich eine Woche später anrief, nicht das geringste Interesse an einer solchen Begegnung zeigte, ebenso wie er im Jahr zuvor nicht zu meinem Konzert in Moskau erschienen war, obwohl er sein Kommen am Vortag mehrmals angekündigt hatte. Er sagte mir am Telephon noch einige Komplimente über meine Symphonie Nr. 2, und wir verabschiedeten uns – diesmal für über ein Jahr.
Jede meiner Begegnungen mit Schostakowitsch war auf ihre Art faszinierend, obgleich auch aufreibend, denn seine Stimmungen und sein Verhalten ließen sich niemals Voraussagen. Ein etwas vertrauteres und freundschaftlicheres Verhältnis entwickelte sich erst z11 Beginn der siebziger Jahre, aber er überraschte mich weiterhin immer wieder durch sein Verhalten und seine Fragen. Sein Charakter spiegelt sich besonders gut in den Briefen wider, die voller Gegensätze waren, scheinbar lakonisch, andererseits aber manchmal sehr ausführlich in der Beschreibung von oft unwesentlichen Einzelheiten.
Dennoch glaube ich, daß seine Sorgen und Erlebnisse in den Briefen besser zum Ausdruck kommen als in den chaotischen, nervösen Gesprächen.
Die meisten seiner Briefe betrafen hauptsächlich seine sich gnadenlos verschlechternde Gesundheit. Alle, die ihm nahestanden, wußten, daß sowohl die fortschreitende Lähmung der Hände als auch der Lungenkrebs unheilbar waren. Schostakowitsch aber glaubte immer noch an seine Gesundung, obwohl dies vielleicht nur noch die in solchen Situationen typische Selbsttäuschung war. »Ich werde hundert Jahre alt«, sagte er 1973 einem Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. »Ich habe eine eiserne Gesundheit ich werde noch lange leben«, versicherte er einem seiner Biographen zu einem Zeitpunkt, als es ihm bereits außerordentlich schwerfiel, die wenigen Stufen am Eingang zu seiner Moskauer Wohnung zu überwinden. Krankheit und die Rückkehr zu Wohlbefinden sind ein Dauerthema seiner Briefe. Im Januar 1968 schrieb er: »Es geht mir schon besser. Nach einem viermonatigen Krankenhausaufenthalt konnte ich endlich nach Hause zurückkehren. Ich hatte einen Beinbruch erlitten. Das Bein haben sie mir sehr gut in Ordnung gebracht, obwohl ich nur schlecht gehen kann, vor allem auf Stufen, insbesondere abwärts.« In seinem Brief vom 2. Mai 1970 stand zu lesen: »Seit längerer Zeit bin ich nun schon in Kurgan und befinde mich bei einem ausgezeichneten Arzt in Behandlung, bei G. A. Ilisarow. Er versucht, meine Hände und Beine in Ordnung zu bringen.« Zwei Monate später kam er wieder darauf zu sprechen: »Die Behandlung brachte keine schlechten Ergebnisse. Mitte August werde ich noch einmal nach Kurgan fahren, damit Ilisarow seine Behandlung endlich mit einem, wie er selbst sagt, ›Schlußakkord‹ abschließen kann.«
Aus seinen Briefen erfuhr ich auch, daß ihm das Komponieren schwerfiel und er darunter litt. Trotz bedeutender Meisterwerke wie der Symphonie Nr. 14 oder der Streichquartette Nr. 12 und Nr. 13 schien er den Glauben an seine Fähigkeiten zu verlieren. »Nichts will mir mehr gelingen«, sagte er einmal, »ich habe mich leergeschrieben …« In einem seiner Briefe klagte er, daß er die Musik zu dem Film König Lear nicht beenden könne.
1971 erhielt ich einen deprimierenden Brief: »Lieber Krzysztof! Besten Dank für Ihr Quartett Nr. 3 […]. Es ist für mich eine große Freude und Ehre, daß Sie mir Ihr neues Werk aus Anlaß meines 65. Geburtstags gewidmet haben. Ich danke Ihnen. Ich selbst bin in letzter Zeit ständig krank. Auch jetzt geht es mir nicht gut. Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß ich wieder zu Kräften kommen werde. Im Augenblick aber bin ich sehr schwach. Im Sommer des Jahres habe ich noch eine Symphonie beendet – die Symphonie Nr. 15. Wahrscheinlich sollte ich nicht mehr komponieren. Aber ich kann nicht anders leben. Diese Symphonie hat vier Sätze. Es finden sich darin genaue Zitate von Rossini, Wagner und Beethoven. Einiges ist unter dem Einfluß von Mahler entstanden. Ich würde Sie sehr gern mit dieser Symphonie bekannt machen.« Dieser Brief spiegelt wohl seine große Bescheidenheit am besten wider. Er hat ihn kurz vor seinem zweiten Herzinfarkt geschrieben.
Bald nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus besuchte ich ihn. Er schien mir ungewöhnlich heiter, ja fast erregt. Als ich ins Zimmer kam, rief er freudig: »Wunderbar, daß Sie da sind! Tauschen wir erst die Geschenke aus, zuerst die Geschenke!«
Sein Leben lang liebte es Schostakowitsch, Geschenke zu empfangen und zu geben. Sie durften jedoch nie kostspielig sein. Es ging immer um Kleinigkeiten. Am liebsten hatte er humorvolle oder praktische Dinge. Seine Bekannten wußten, daß Kerzenhalter zu den von ihm bevorzugten Geschenken gehörten. Im Laufe der Zeit hat sich deshalb eine ungeheure Vielzahl hiervon angesammelt – alles Geschenke, die zu den verschiedensten Anlässen zusammenkamen. Er freute sich wie ein Kind, wenn an seinem Geburtstag im Zimmer so viele Kerzen brannten, wie er Jahre zählte.
Während dieses Besuchs sprach er sehr viel und fast ununterbrochen, so daß er niemanden zu Wort kommen ließ. Er sprach hauptsächlich von seiner Krankheit oder vielmehr davon, daß er überzeugt war, sie endlich glücklich überwunden zu haben. Unter den damals Anwesenden blieb mir vor allem sein Freund aus den Jugendjahren, der Regisseur Leo Arnschtam, in Erinnerung, der ihn mit größter Bewunderung, ja Verehrung ansah. Schostakowitsch wechselte sprunghaft das Gesprächsthema und freute sich über alles. Plötzlich rief er aus: »Lowka, weißt du, Krzysztof Iwanitsch [seit einigen Jahren nannte er mich so] erzählte mir, daß in Krakau eine Grippeepidemie herrscht. Also nicht nur bei uns, nicht nur bei uns. Und ich habe keine Grippe!«
Solche glücklichen Augenblicke wurden bald immer seltener. Als wir uns das letztemal im April 1974 sahen, war er schon sehr schwach und erschöpft. Damals klagte er: »Nun weiß ich gewiß, daß ich niemals mehr gesund werde. Aber ich habe gelernt, nicht mehr darüber nachzugrübeln.«
Dieses letzte Treffen war besonders deprimierend. Schostakowitsch saß auf einem Stuhl und bewegte sich kaum. Lediglich mit der noch etwas geschickteren linken Hand untermalte er mit leichten Gesten das Gespräch. Er sah auch nicht mehr gut, wie die sehr starken Brillengläser verrieten. Seine Kurzsichtigkeit hatte — wie er selbst zugab – bereits 15 Dioptrien überschritten.
Irina Antonowna brachte eine große Flasche Kognak der Marke »Napoleon« herein, und Schostakowitsch erklärte stolz, daß ihm die Ärzte wieder erlaubt hätten, Alkohol zu trinken. Wir saßen mehrere Stunden zusammen und nippten an dem Kognak. Langsam belebte sich Schostakowitsch, aber von seiner früheren Spontaneität und seinem aufbrausenden Temperament war nicht mehr viel übriggeblieben.
Nur einmal, als wir auf Gustav Mahler zu sprechen kamen, rief er: »Seine Symphonien … Am meisten mag ich die Erste … aber auch die Zweite … und die Dritte … auch die Vierte ist herrlich! … Ja, und die Fünfte. Auch die Sechste und die Siebte … die Achte ist wunderbar … und erst die Neunte!!! … Ja, und natürlich die Zehnte. Aber wenn mir jemand sagen würde, daß mir nur noch eine Stunde zu leben geblieben sei, dann möchte ich den letzten Satz vom Lied von der Erde hören.«
Seit Jahren versuchte ich ihn zu überreden, ein Klarinettenquintett zu schreiben. Er überlegte: »Wer weiß … das ist mir nie in den Sinn gekommen … aber das ist eine interessante Idee.«
Während unserer letzten Begegnung war er davon nicht mehr so überzeugt. »Das Klarinettenquintett von Brahms gefällt mir nicht so sehr. Da ziehe ich das Horntrio vor. Ich hörte es einmal in einer Aufführung mit Zyganow … aber das Quintett kenne ich vielleicht nicht so gut … Das Klarinettenquintett von Mozart ist ausgezeichnet … aber Brahms? … Brahms ist wohl eher ein Symphoniker …« Plötzlich ereiferte er sich: »Am meisten liebe ich die Symphonie Nr. 4, natürlich, sie ist die beste. Danach die Zweite, dann die Erste und am wenigsten mit Sicherheit die Dritte.«
Diesmal wollte er mir seine neuen Werke zeigen – die Sechs Romanzen nach Worten von Marina Zwetajewa und das Streichquartett Nr. 14. Und so tauschten wir die Rollen: Jetzt saß ich am Schreibtisch, lauschte seiner Musik und las in der noch unedierten Partitur mit. Schostakowitsch aber saß auf dem Stuhl daneben, auf dem ich sonst so oft Platz genommen hatte. Ich muß – falls ich mich so unbescheiden äußern darf – bekennen, daß mich der neue Vokalzyklus überhaupt nicht überzeugte, so daß ich lange schweigend über den Noten saß, ähnlich wie schon mehrmals Schostakowitsch, wenn ihm meine Musik nicht gefiel. Da er mir aber vor Jahren in einem Brief geschrieben hatte, daß »zwischen uns stets die besten Beziehungen sein müßten und diese es erfordern, sich offen die Wahrheit zu sagen«, beschloß ich, ihm meine Zweifel zu bekennen.
Er antwortete traurig: »Ja, man muß ständig suchen und darf sich nicht wiederholen.«
Mit um so größerer Freude konnte ich ihm zu seinem neuen Quartett gratulieren, an dem mich vor allem der erste Satz begeisterte. Er meinte daraufhin, daß Quartette leicht zu komponieren seien; eine wirklich schwierige Aufgabe sei dagegen das Schreiben eines Streichtrios.
»So hat es mir wenigstens einmal Edik Denissow erklärt«, fügte er mit einem scheuen Lächeln hinzu.
Während dieser letzten Begegnung kreiste das Gespräch hauptsächlich um Vergangenes. Schostakowitsch spielte mir sogar das Thema seiner Kontrapunktprüfung vor, das ihm Alexandr Glasunow gestellt hatte. In Gedanken kehrte er zu Wissarion Schebalin zurück und zu seinen früheren Schülern; mit großer Sympathie sprach er von Arsenni Kotljarewski. Es war offensichtlich, daß er hauptsächlich in seinen Erinnerungen lebte. Auf seinem Schreibtisch tauchten verschiedene Gegenstände aus der Vergangenheit auf, die ich früher dort nie gesehen hatte — sein Photo mit den Mitgliedern des Beethoven-Quartetts, ein Porträt von Igor Strawinsky sowie ein Diplom der Academie Charles Cros für die Platteneinspielung der Katerina Ismailowa.
Als ich mich verabschiedete, stellte er fest, daß er keinen Termin für das nächste Treffen ausmachen könne: »Wissen Sie, ich bin ein so furchtbar launischer Mensch. Aber wir werden uns sicher bald sehen«, fügte er erklärend hinzu.
Wir haben uns nie wieder gesehen. Am Telephon sprachen wir noch mehrmals miteinander, und ich erhielt einige Briefe; eines Tages überbrachte mir jemand die Partitur seiner Symphonie Nr. 13 mit einer freundlichen Widmung. Am 10. August 1975 erhielt ich ein Telegramm mit der Nachricht von seinem Tod. Ich fuhr zur Beerdigung, die einen ausgesprochen offiziellen und pompösen Charakter hatte. Einige Tage nach meiner Rückkehr nach Polen kam sein letzter Brief an, den er Ende Juli während seines Klinikaufenthalts mit der fast schon gelähmten Hand geschrieben hatte:
»Lieber Krzysztof! Dank für das Gedenken, danke für den Brief.
[…[ Ich bin wieder im Krankenhaus wegen Herz-Lungen-Komplikationen. Nur mit größten Schwierigkeiten kann ich mit der rechten Hand schreiben. Bitte deshalb nicht böse sein für diese krumme Schrift […]. Mit herzlichem Gruß D. Schostakowitsch
PS.: Obwohl es mir sehr schwerfällt, habe ich eine Sonate für Viola und Klavier geschrieben. D. Sch.«

Wenn ich diese sehr unvollständigen Erinnerungen an den Menschen Schostakowitsch noch ergänzen sollte, so könnte ich nur an einen der Briefe von Thomas Mann anknüpfen, in dem es heißt, daß er. als er Gustav Mahler persönlich kennenlernte, zum erstenmal im Leben das Gefühl hatte, vor einem wahrhaft großen Menschen zu stehen. Auch Schostakowitsch strahlte eine seltene Größe und Güte aus sowie eine Art magischer Kraft, der man sich nicht entziehen konnte.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

siebzehn − 4 =