Musik aus dem „Index musicorum purgandorum“ eines besorgten Vaters

Die Sinfonie g-Moll KV 183 von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem „Index musicorum purgandorum“ seines zutiefst besorgten Vaters Leopold, zum Leben erweckt von den gesampelten Damen und Herren des „Kirk Hunter Diamond Orchestra”.

Beschriebene Musik ist halt wie ein erzähltes Mittagessen.
Franz Grillparzer (1791 – 1872),
Wiener Hofkonzipist und Burgtheaterdichter

Dieser „wahren“ Erkenntnis Rechnung tragend werde ich nichts klug Geschissenes über diese Sinfonie erzählen, Wer das braucht, kann sich an dem klugen Wikipedia-Artikel über die Sinfonie g-Moll KV 183 des Wolfgang Amadeus Mozart delektieren. Ein Übriges: Musik erzählt keine Wahrheiten, sondern sie versucht lediglich dem Chaos der Gefühle eine Struktur – gleich dem Kristall, der aus der brodelnden Schmelze gezogen wird –  zu geben. Einen viel und gern zitierten Spruch Nietzsches aus „Also sprach Zarathustra“ abwandelnd, „verkünde“ ich:

Man muss noch Chaos in sich haben,
um eine Sinfonie (einen tanzenden Stern) gebären zu können.

Ich lasse also andere erzählen, zum Ersten:


Baur, Eva Gesine: Mozart – Genius und Eros.
Eine Biografie. C. H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66132-7.

Das Idol aller Tänzer, mit denen die Mozarts in Frankreich und Italien zu tun hatten, ist seit sechs Jahren in Wien engagiert: Jean Georges Noverre. Maria Theresia hat ihn als Choreograph, Tanzmeister, Zeremonienmeister höfischer Festlichkeiten und als privaten Tanzlehrer verpflichtet. Tanz gehört zum Lehrplan der Töchter und Söhne Maria Theresias.
Am 29. August sind die Mozarts abends bei Noverre zu Hause eingeladen. Die Noverres sind für die Mozarts interessant. Nicht nur, weil Noverre beste Beziehungen zu den höfischen Kreisen und zu den arrivierten Musik- und Theaterleuten hat, nicht nur, weil Noverres älteste Tochter Marie Victoire, seit fünf Jahren mit dem Wiener Kaufmann Joseph Jenamy verheiratet, eine hervorragende Pianistin ist. Noverres Reform des Balletts begeistert den Tänzer Wolfgang Mozart. Der fast vierzig Jahre Ältere denkt wie der Siebzehnjährige: Alles Gezierte, Künstliche und Übertriebene ist ihm ein Graus. Hört auf mit dem Getrippel und den Grimassen, heißt seine Forderung. Wie Wolfgang sucht er nach Ausdruck, der bewegt. Nach Schönheit, die natürlich wirkt, wie Winckelmann es formuliert hat. Noverres Sympathie gilt ausgerechnet dem Deutschen Tanz, der in vielen deutschen Ländern untersagt ist, weil er keinen starren Regeln unterliegt und eine enge Körperhaltung vorsieht. Der deutsche Tanz, sagt Noverre, ist einnehmend, weil alles von ihm Natur ist. Noverre hat die tanzenden Körper von dem befreit, was ihre Bewegungen behinderte. Er hat gefordert, alles zu verbrennen, was schwer, steif oder starr ist: die Masken, die Allongeperücken, die Prachtröcke der Tänzer. Wie Wolfgang und Winckelmann verlangt er aber auch, dass nichts außer Kontrolle gerät. Noverre lehnt die Übertreibung ebenso ab wie das Schematische. Leicht soll der Tanz daherkommen. Was daran schwer ist, darf das Publikum nicht bemerken. Wolfgang fühlt sich verstanden.
Die Streichquartette, die er in diesem Monat komponiert, federn tänzerisch. Doch was im September entsteht, scheint von anderer Hand zu stammen.
Leopold Mozart könnte zu dem Schluss kommen, ein Todesfall habe seinem Sohn zugesetzt. Anfang September war Franz Joseph Niderl, Hausarzt der Mozarts, aus Salzburg nach Wien gekommen, um sich hier operieren zu lassen. Leopold kennt ihn aus der Studienzeit, Wolfgang von Kindheit an. Am Tag seiner Ankunft hatten sich die Mozarts mit ihm getroffen. Drei Tage später war er tot.
Wie nah Wolfgang der Tod Niderls ging, lässt sich schwer beurteilen. Am 11. September 1773 hatte sein Vater von Niderls Tod berichtet, in einer Nachschrift zu Leopolds nächstem Brief blödelt Wolfgang bereits: «Der tod des D: niderl hat uns sehr betrübet, wir versichern dich, wir haben schier geweint, gebleert, gerehrt und trenzt.» Und in einem weiteren Postskriptum zu demselben Brief sendet er eines seiner Wortspielgedichte:

(an hς: von Hefner.
ich hoff wir werden sie noch in Salzburg antreffen, wohlfeüler freünd.
ich hoff sie werden gesund seÿn, und nicht mir seÿn spinfeünd,
sonst bin ich ihnen fliegenfeünd
oder gar wanzenfreünd
also ich rathe ihnen bessere verse zu machen, sonst kom
ich meiner lebtag zu salzburg nicht mehr in Dom,
dan ich bin gar Capax zu gehen nach Constant=
inopel die doch allen leüten ist bekandt
hernach sehen sie mich nicht mehr, und ich sie auch nicht, aber
wen die pferd hungrig sind, gieb man ihnen einen haber
onst werd ich toll Von nun an bist in Ewigkeit).

Das spricht nicht gegen Betroffenheit. Es ist kennzeichnend für Wolfgang Mozarts Umgang mit Trauer. Bei den Streichquartetten handelt es sich um die sechs sogenannten Wiener KV 168 – KV 173. Zur Unterscheidung von der späteren g-Moll-Sinfonie KV 550 Nr. 40 wird die frühe auch kleine g-Moll-Sinfonie KV 183 genannt. Deren Unterdrückung rechtfertigte Leopold fünf Jahre später vor Wolfgang. Am 27. September 1778 schrieb er seinem Sohn dazu: «was dir keine Ehre macht, ist besser wenns nicht bekannt wird, desswegen habe von deinen Sinfonien nichts hergegeben, weil ich vorauswusste, daß du mit reiffern Jahren, wo die Einsicht wächst, frohe seyn wirst, daß sie niemand hat, wenn du gleich damals, als Du sie schriebst, damit zufrieden warest». Andere Jugend-Sinfonien, die den Regeln entsprachen, hielt Leopold Mozart jedoch nicht unter Verschluss.

Das letzte der Quartette, das Wolfgang schreibt, endet in einer chromatischen Fuge in d-Moll, die düster und radikal mit allem bricht, was er für diese Besetzung zuvor geschaffen hat.
Doch das Tragische ist mehr als eine Episode. Am 5. Oktober 1773, neun Tage nachdem Vater und Sohn ohne etwas erreicht zu haben nach Salzburg zurückgekehrt sind, beendet Wolfgang seine 25. Sinfonie. Seine erste in einer Moll-Tonart. Gekleidet ist dieses Werk in g-Moll, wie es sich für das 18. Jahrhundert gehört. Aber in dem Gewand aus vertrauten Formen steckt ein Dämon. Der hält sich an nichts und ist nicht zu halten. Schon zu Beginn. Vier Töne werden jeweils einen ganzen Takt unisono und forte gespielt. Synkopen bedrängen, Dissonanzen beunruhigen, Tremolo-Passagen beben. Der Dämon sprengt alle Formen und lebt seine Exzesse aus. Das Dunkle erobert sich seinen Raum.
Leopold Mozart beschließt: Solche Hervorbringungen seines Sohnes darf die Welt nicht zu Gehör bekommen. Sie sind ihm unheimlich. Er verteidigt die Regeln des alten Jahrhunderts vor seinem Sohn. Doch Wolfgang lässt sich nicht hindern, sie zu durchbrechen.
Leopold denkt ans Gutankommen und Durchkommen. Der Umzug ins Tanzmeisterhaus am Hannibalplatz auf der anderen Seite der Salzach mit seinen acht Zimmern im ersten Stock, einem Garten und dem ehemaligen Tanzsaal unten eröffnet ihm neue Möglichkeiten. Der Saal wird zur Verkaufsausstellung genutzt. Mit Klavieren, die Leopold in Kommission verkauft, ist Zusatzgewinn einzufahren.


zum Zweiten:

Ortheil, Hanns-Josef: Das Glück der Musik – Vom Vergnügen, Mozart zu hören.
Luchterhand, München 2006 (Sammlung Luchterhand), ISBN 3-630-62082-5

9. Juli 2005. Salzburg (Symphonien G-Moll, KV 183; A-Dur, KV 201).
Für drei Stunden bin ich auf Durchreise in Salzburg, rasch nehme ich mir ein Taxi und fahre vom Bahnhof hinüber zum Makart-Platz, um mich, so lange es irgend geht, im Tanzmeister-Haus aufzuhalten. In meiner Kindheit waren all diese Räume noch nicht wieder hergerichtet, an der Stelle des durch einen Bombenangriff zerstörten Wohnhauses der Familie Mozart nach ihrem Umzug stand vielmehr ein modernes, vierstöckiges Bürohaus, das erst in den neunziger Jahren abgerissen und durch den heutigen, die alten Wohnverhältnisse rekonstruierenden Bau ersetzt wurde. Ich gehe hinauf in den ersten Stock und betrete den hellen, großen Tanzmeistersaal mit seinen Vitrinen, alten Instrumenten und Bölzlscheiben, und ich schaue hinaus auf den weiten, freien Platz draußen, dessen Nähe die neue Orientierung der Familie Mozart nach ihrem Umzug markiert. Die Wohnung in der Getreidegasse 9 erscheint von hier aus nämlich wie ein dunkler Fuchsbau, eingebettet in die verwinkelten Bezirke der Altstadt, die vom gewaltigen Bau der Residenz und vom nahen Dom dominiert wurde. Residenz und Dom, kaum einen Steinwurf entfernt, waren der sichtbarste und gewichtigste Bezugspunkt aller Arbeit und Dienste, sie ließen die Ansprüche des Fürsterzbischofs und damit des Dienstherrn immer gegenwärtig sein, verließ man das Haus in der Getreidegasse, befand man sich in seinem Terrain, man duckte sich unter der Größe der nahen Gebäude-Riesen, man schlich an ihnen entlang, bei jedem Schritt war einem bewußt, daß man sich in seinem Hoheitsbereich aufhielt. Für Mozart, der seinem Kindheitsvirtuosentum entwachsen und von drei italienischen Reisen zurückgekehrt war, muß diese Empfindung wie eine Zumutung gewirkt haben, führten ihm die nahen fürsterzbischöflichen Gebäude doch deutlich vor Augen, wie eng sein Leben und Komponieren an den Hof gebunden waren. Hier, im Tanzmeisterhaus aber, befand man sich auf der anderen Seite des Flusses, in der helleren Neustadt mit ihren weiten Plätzen und den breiten Straßen. Der große Saal, in dem die Familie von nun an ihre Gäste empfing, antwortete auf die Prunksäle der Residenz, er war ihr selbstbewußter Widerpart und machte allen Besuchern klar, daß die Familie sich nicht mehr unter den Fittichen eines Dienstherrn verkroch, sondern sich selbstbewußt und entschieden in einem eigenen Ambiente behaupten wollte.
Zwei der nach der Rückkehr aus Italien komponierten Symphonien wirken heute wie markante Darstellungen dieses Selbstbewußtseins: die Symphonie in G-Moll (KV 183) und die in A-Dur (KV 201). Anders als die in Italien entstandenen Symphonien haben diese nicht nur drei, sondern vier Sätze, die sich zudem noch eng aufeinander beziehen. Die Symphonie in G-Moll ist Mozarts erste Symphonie in einer Moll-Tonart und läßt sich mit ihrer auffahrenden und auftrumpfenden Gestik nicht mehr nur als orchestrales Präsentationsstück eines Komponisten, der sein Können unter Beweis stellen möchte, verstehen, sondern als eine ins Dramatische zielende Darstellung von Expressionen und Gefühlsbewegungen. Die hellere und geschmeidige A-Dur-Symphonie kehrt diese Expressionen ins Gesellige, es ist die Symphonie eines Künstlers, der die ihm anvertrauten Gruppen und Scharen durch die Weite einer Landschaft führt. Der große Stil beider Symphonien setzt sich über die früheren, vor allem von höfischen Anforderungen diktierten Symphonien-Gebilde hinweg, Mozart geht es jetzt darum, sich diese neue Form so zu erschließen, daß ihre verschiedenen Sätze zu Bildern eines Gesamtzustandes werden. Die Symphonie als Erzählung oder als Drama im Kleinen – in diesem Sinn eignet er sich nun die Künstlichkeit der Form an. Der Blick hinaus aus den Fenstern, die Musik der beiden Symphonien im Ohr, und dabei das nicht zu verdrängende Empfinden, daß diese Stücke einen Anspruch und eine Weite markieren, die sich auch mit dieser großen Wohnung und ihrem festlichen Empfangssaal nicht mehr lange werden vereinbaren lassen … Draußen gleitet der Verkehr still vorbei, doch die Musik wirkt, als durchschritte sie ungeduldig (G-Moll) oder emphatisch (A-Dur) die kleinen Wege und Drehungen, die hier noch zurückgelegt werden. Von hier aus wirken die Residenz und der Dom wie Kulissenbilder, die weit hinübergerückt sind unter die über der Stadt thronende Festung und die begrenzenden Abhänge zu ihren Seiten.


 

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