Ferruccio Busoni: Kammerfantasie über Bizet’s Carmen, BV 284

(Sonatina Nummer 6)

Busoni veröffentlichte insgesamt sechs Sonatinen für Klavier. Die ersten fünf komponierte er zwischen 1910 und 1918. Sie sind Schlüsselwerke seines Bemühens, eine neue, faustische Musiksprache zu schaffen, was übrigens auch den Absichten, die damals Arnold Schönberg verfolgte, ähnelte. Diese Reihe nun 1920 mit einer altmodischen Liszt-Opernphantasie, der „Sonatina super Carmen“ abzuschließen, haben daher viele Kritiker und Interpreten als unpassend empfunden. Aber vor der Kulisse seiner aufgewühlten Zeit, die von heftigen politischen Umbrüchen durchzogen war, die sich wiederum in schnell wechselnden ästhetischen Gegenströmungen widerspiegelten, erscheint sie als musikalisches Manifest, als Bestätigung der anti-wagnerischen Bewunderung Nietzsches für Bizets Carmen und als Verwirklichung von Nietzsches Appells zur „Mediterranisierung der Musik“.

Der gebürtige Italiener war zu Recht stolz auf seine Herkunft, lebte aber 30 Jahre in Berlin und schrieb seine Bühnenwerke und Lieder in deutscher Sprache. In dem zur Zeit des ersten Weltkriegs verbittert chauvinistischen Milieu Deutschlands konnte er nur als Außenseiter empfunden zu werden. Während eines Spaziergangs durch New York im Jahr 1915, als der jubelnd begonnene Erste Weltkrieg entsetzlich zu werden begann, beschwor die Nachricht, dass er während einer Aufführung von Carmen an der Metropolitan Opera mit Saint-Saëns plauderte, in Berlin einen Skandal herauf. Sein Kosmopolitismus konnte nur als Illoyalität gegenüber Deutschland verstanden werden. An seinen „Jünger“ Egon Petri schrieb er: „Der Deutsche ist der an Heimweh am stärksten Leidende: Er liebt es, Gedichte darüber zu machen. Die Kunst ist überall zu Hause. Der Deutsche ist bürgerlich, die Kunst aber ist aristokratisch.“ Einen Besuch in Paris im März 1920 beschrieb er als „wie eine Heimkehr für mich … um wieder zum Leben im großen Stil zu finden ….“ Und in dieser Empfindung komponierte er im selben Monat die „Sonatina super Carmen“.

Diese letzte Sonatina, Nr. 6, trägt den Titel Kammer-Fantasie über Carmen (1920) und ist eine kurze Paraphrase, der der Chor des vierten Aktes der Oper, die Blumenarie (mit Carmens Schicksalsmotiv, das sich durch eine übermäßige Sekunde auszeichnet und als Überleitung fungiert), die Habanera und das Vorspiel zum ersten Akt zugrunde liegen; die Coda (mit Andante visionario bezeichnet) basiert auf dem Schicksalsmotiv. Trotz seiner Virtuosität ist dieses reizvolle Werk nicht so umfangreich wie viele andere Opern-Paraphrasen, z.B. wie jene von Franz Liszt.

Die besten von Liszts Opernfantasien greifen einige prägnante Momente auf und verarbeiten sie in einer groß angelegten pianistischen Skizze mit Konzentration af die dramatisch wesentlichen Momente. Indem er vier Höhepunkte aus Bellinis Oper auswählte und mit immer größerer musikalischer Eloquenz zu einem überwältigenden Abschluss führte, wurde Liszts Norma-Fantasie (deren überzeugender Interpret Busoni war) zum Archetyp und aussagekräftigsten Beispiel dieser Kunst.

Busoni folgt diesem Modell; aber wo Liszt überbordend, extravagant und pompös ist, ist Busonis Ausdruck luftig, konzentriert und umschreibend. Funkelnde Oktaven und Terzen lassen die Eröffnung des vierten Aktes – die Menge, die Verkäufer, die Vorfreude – in Don Josés „Blumenlied“ übergehen, das im mittleren Register des Klaviers zu hören ist, mit funkelnden Arpeggien über die gesamte Tastatur und raffiniert mit dem Schicksalmotiv kombiniert, das vor Carmens spöttischen Habañera zu einem Gemurmel verebbt. Beginnend dolce vagamente, intensiviert sich der Tanz zu einer wirbelnden Verführung, bevor er sich plötzlich im Auftritt der Toreros auflöst, brillant mit erstaunlicher Ökonomie beschworen. Auch dies löst sich auf – zu einem andante visionario, aus dem nun das Schicksalmotiv, merkwürdig gedämpft, drohend, faustisch ertönt.

Mehr über den Menschen Busoni in einem Artikel des „Spiegel“ vom 27.11.1967:

BUSONI – Sklave der Triebe

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