Bach/Busoni – Chaconne d-moll BWV 1004

Das starke Stück. Bach – Chaconne aus der Partita BWV 1004.

Im Juli 1720 kehrt Bach von einer dreimonatigen Dienstreise zurück. Als er sein Haus betritt, empfängt ihn die Nachricht, dass seine Frau vor einer Woche gestorben ist. Man zeigt ihm das Grab. Wenig später komponiert er die Partita für Violine Solo in d-Moll. Haben diese biographischen Fakten etwas miteinander zu tun? Vor einigen Jahren entdeckte die Musikwissenschaftlerin Helga Thoene, daß in der Chaconne Choräle versteckt sind, die um das Thema Tod und Auferstehung kreisen.
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Bach gegen seine Liebhaber verteidigt

 
Den Untertitel dieses Blogbeitrages habe ich dem Essay „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“ von Theodor W. Adorno entlehnt. In ihm vertritt Adorno die Meinung, dass die Religion von der historischen Aufführungspraxis und ihrer angeblich authentischeren Werktreue nicht mehr als werbewirksamer Kulissenzauber ist. Ich teile seine Meinung. Im letzten Abschnitt 5 seines Essays schreibt er:
Danach aber wäre nicht nur die Erkenntnis der Bachischen Musik in Gegensatz gerückt zur herrschenden Meinung, sondern es wäre das unmittelbare Verhältnis zu ihr berührt. Es bestimmt sich wesentlich durch die Aufführungspraxis. Die hat aber heute, unterm Unstern des Historismus, einen sektiererischen Gestus angenommen. Er löst ein zelotenhaftes Interesse aus, das dem Werke selbst entzogen wird. Man kann sich zuweilen des Verdachts nicht erwehren, als käme es den heutigen Liebhabern Bachs einzig darauf an, daß nur ja keine unauthentische Dynamik, keine Modifizierungen der Tempi, keine zu großen Chöre und Orchester geduldet würden, und als warteten sie mit potentieller Wut auf jede humanere Regung, die in der Wiedergabe laut wird.
Mir drängt sich der Eindruck auf, dass das andächtige Weihwedeln mit historischen Instrumenten eher die Lust auf den exotischen Klang anspricht, als dass es uns das Denken und Fühlen Bachs und seiner Epoche näherbringt. Der Sinn dieser Musik verbirgt sich aber nicht in Äußerlichkeiten, sondern in seiner musikalischen Struktur, die nur kreativ, durch Übersetzung in unsere moderne musikalische Sprache dem musikalisch interessierten Laien verständlich gemacht werden kann – so wie auch in der Literatur nur eine dem Inhalt adäquate und nicht rein wörtliche Übersetzung dem Leser, der die Sprache des Originals nicht beherrscht und auch die Denkweise der fremden Kultur nicht selbst erfahren hat, das vom Schriftsteller gemeinte näher bringen kann.
Adorno schreibt einige Absätze weiter:
Der ganze Reichtum des musikalischen Gefüges, in dessen Integration seine Kraft eigentlich besteht, muß von der Aufführung zur Evidenz erhoben werden, anstatt daß man der Fülle ein starres, in sich unbewegtes Einerlei entgegensetzt, den nichtigen Schein einer Einheit, die das Mannigfaltige, das sie bewältigen soll, ignoriert. Die Reflexion auf den Stil darf nicht den konkreten musikalischen Inhalt verdrängen und sich selbstzufrieden bei der Pose transzendenten Seins bescheiden. Sie muß der unter der klanglichen Oberfläche verborgenen, kompositorischen Struktur der Musik folgen. Mechanisch zirpende Continuo-Instrumente, bettelhafte Schulchöre dienen nicht der heiligen Nüchternheit, sondern der hämischen Versagung, und daß etwa schrille und hüstelnde Barockorgeln die langen Wellen der lapidaren großen Fugen aufzufangen vermöchten, ist purer Aberglaube. […]Freilich zeichnet die Möglichkeit sich ab, daß der Widerspruch zwischen Bachs kompositorischer Substanz und den Mitteln von deren klanglicher Realisierung, den zu seiner Zeit verfügbaren sowohl wie den von der Tradition angesammelten, nicht länger sich schlichten läßt. Im Licht dieser Möglichkeit gewinnt die vielberufene klangliche »Abstraktheit« des Musikalischen Opfers und der Kunst der Fuge als der Werke, in denen die Wahl der Instrumente offenbleibt, einen neuen Horizont. Denkbar, daß in ihnen der Widerspruch von Musik und Klangmaterial – zumal die Unangemessenheit des Orgelklangs überhaupt an die unendlich gegliederte Struktur – damals schon durchschlug. Dann hätte Bach den Klang ausgespart und seine reifsten Instrumentalwerke wartend auf den Klang, der ihnen selber gliche, hinterlassen. Bei diesen Stücken kann es am letzten sein Bewenden damit haben, daß kompositionsfremde Philologen die Stimmen ausschreiben und durchlaufenden Instrumenten oder Gruppen anvertrauen. Gefordert wäre, sie umzudenken für ein Orchester, das weder schmückt noch spart, sondern als Moment der integralen Komposition fungiert. Für die ganze Kunst der Fuge ward das bislang einzig von Fritz Stiedry angestrebt, dessen Bearbeitung es nicht über die eine New Yorker Aufführung hinausbrachte. Gerechtigkeit widerfährt Bach nicht durch die Usurpation stilkundiger Sachverständiger, sondern einzig vom fortgeschrittensten Stande des Komponierens her, der mit dem Stand des sich entfaltenden Werks von Bach konvergiert.
Adorno verweist dann auf die gelungenen Adaptionen Bach’scher Werke durch Arnold Schönberg und Anton Webern:
 
 
 
 
Die wenigen Instrumentationen, die Schönberg und Anton von Webern beistellten, insbesondere die der großen Tripelfuge in Es-Dur und der sechsstimmigen Ricercata, in denen jeder Zug der Komposition in ein farbliches Korrelat übersetzt, die Oberfläche des Liniengeflechts in die kleinsten Motivzusammenhänge aufgelöst und diese dann durch die konstruktive Gesamtdisposition des Orchesters wieder vereint sind – diese Instrumentationen sind Modelle einer Stellung des Bewußtseins zu Bach, die dem Stande von dessen Wahrheit entspräche. Vielleicht ist der überlieferte Bach in der Tat uninterpretierbar geworden. Dann fällt sein Erbe dem Komponieren zu, das ihm die Treue hält, indem es sie bricht, und seinen Gehalt beim Namen ruft, indem es ihn aus sich heraus nochmals erzeugt.
 
Ich hoffe, meine virtuelle, rein kopflastige MIDI-Interpretation der Klavierfassung Busonis der großartigen Chaconne Bachs für Violine solo kann damit einigermaßen mithalten. 😉


 

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