Der Zufall bei Niklas Luhmann
Nachdem ich nun meine Interpretation des Zufalls zum Besten gegeben habe, will ich auch Herrn Niklas Luhmann die Chance geben, sich dazu zu äußern.
»Die Bedeutung von Zufall in der Evolutionstheorie könnte so verstanden werden, als ob die Theorie auf ein Postulat der Unkenntnis gegründet sei — Unkenntnis bezogen auf die mikrophysikalischen, chemischen, biochemischen, neurophysiologischen, psychologischen Prozesse, die dann letztlich doch determinieren, was geschieht.[1] Damit würde das Problem jedoch auf eine erkenntnistheoretische Fassung und auf ein Paradox (Wissen gründet auf Nichtwissen) reduziert werden. Aber dies ist nur ein Sonderfall eines viel allgemeineren Gesetzes, daß nämlich Systeme immer begrenzte (reduzierte und gesteigerte) Resonanzfähigkeit aufweisen und füreinander, wenn man so formulieren darf, nur über „windows“ (Fenster) zugänglich sind. In anderen Begriffen könnte man auch sagen, daß alle Systeme Messungen durchführen müssen, um Informationen zu erzeugen, nach denen sie sich richten können. Deshalb ersetzt ein System Vollkenntnis der Umwelt durch Einstellung auf etwas, was für es Zufall ist. Nur dadurch ist Evolution möglich.
Im Unterschied zu älteren Annahmen dient der Begriff also nicht der Negation von Kausalität, er besagt nicht: Ursachelosigkeit des Vorkommens. „Zufall“ ist also auch nicht eine kausale Verlegenheitskonstruktion, etwa die Ursache, die man (gleichsam zur Vervollständigung des Kausalschemas der Welterklärung) noch benennen kann, wenn man keine Ursache benennen kann. Wir geben dem Zufallsbegriff keinerlei kausaltheoretische Bedeutung. In äußerster Abstraktion kann von Zufall als einem differenztheoretischen Grenzbegriff gesprochen werden. Zufall heißt dann, daß die Bestimmung der einen Seite einer Unterscheidung nichts besagt für die Bestimmung der anderen Seite. So versteht Hegel den Begriff Zufall und entsprechend den Gegenbegriff Notwendigkeit. Uns genügt eine engere Fassung, bezogen auf die Unterscheidung von System und Umwelt. Wir verstehen unter „Zufall“ eine Form des Zusammenhangs von System und Umwelt, die sich der Synchronisation (also auch der Kontrolle, der „Systematisierung“) durch das System entzieht.[2] Kein System kann alle Kausalitäten beachten. Deren Komplexität muß reduziert werden. Bestimmte Kausalzusammenhänge werden beobachtet, erwartet, vorbeugend eingeleitet oder abgewendet, normalisiert — und andere werden dem Zufall überlassen. Die „Irregularität“ von Zufall ist, mit anderen Worten, kein Weltphänomen und folglich ist es auch nicht sinnvoll, sie in die Diskussion über Determinismus/Indeterminismus einzubringen. Sie setzt eine Systemreferenz voraus, denn nur so kann ein Beobachter sagen, für wen etwas Zufall ist.
Diese eher negative Charakterisierung ergänzen wir durch eine positive:
Zufall ist die Fähigkeit eines Systems, Ereignisse zu benutzen, die nicht durch das System selbst (also nicht im Netzwerk der eigenen Autopoiesis) produziert und koordiniert werden können.
So gesehen sind Zufälle Gefahren, Chancen, Gelegenheiten. „Zufall benutzen“ soll heißen: ihm mit Mitteln systemeigener Operationen strukturierende Effekte abzugewinnen. Die Effekte können, gemessen an vorhandenen Strukturen, sowohl konstruktiv als auch destruktiv sein (sofern dies sich langfristig gesehen überhaupt unterscheiden lässt). In jedem Fall erweitert die Beobachtung von Zufällen die Informationsverarbeitungskapazität des Systems und korrigiert damit, im Ausmaß des Möglichen, die Engigkeit der eigenen Strukturbildungen, ohne die Orientierungsvorteile dieser Engführung preiszugeben.
Mit diesen Festlegungen ist freilich noch nicht gesagt, wie dies geschieht. Darüber gibt es in der Systemtheorie sehr allgemeine Vorstellungen. Das „order from noise“ Prinzip ist eine von ihnen[3], die Vorstellung, daß strukturelle Kopplungen Irritationen kanalisieren, ist eine andere. Die Systemtheorie ist damit vorbereitet, Evolutionstheorie zu empfangen. Aber das erklärt natürlich noch nicht, wie Evolution möglich ist.«
[1] In diesem Sinne diskutiert Michael Conrad, Rationality in the Light of Evolution, in: Ilya Prigogine / Michèle Sanglier (Hrsg.), Laws of Nature and Human Conduct, Brüssel 1987, S. 111-211, ein „postulate of ignorance“.
[2] Eine ähnliche Funktion hat in einer ganz anders ausgerichteten Theorie des sozialen Wandels, nämlich bei Bernhard Giesen, Code und Situation: Das selektionstheoretische Programm einer Analyse sozialen Wandels — illustriert an der Genese des deutschen Nationalbewußtseins, in: Hans-Peter Müller / Michael Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel: Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt 1995, S. 228-266, der Begriff der Entkopplung.
[3] Vgl. Heinz von Foerster, On Self-Organizing Systems and Their Environments, in: Marshall C. Yovits / Scott Cameron (Hrsg.), Self-Organizing Systems: Proceedings of an Interdisciplinary Conference, Oxford 1960, S. 31-48; Henri Atlan, Entre le cristal et la fumée, Paris 1979.
aus:
Niklas Luhmann
Die Gesellschaft der Gesellschaft
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