Über den Begriff „Nation“

Clans und Stammesverbände gibt es, seitdem die Erde von Menschen bewohnt ist; Nationen gibt es erst seit ungefähr zweihundert Jahren. Der Unterschied ist nicht schwer zu sehen. Ethnien entstehen quasi naturwüchsig, »von selbst«; Na­tionen sind bewußt geschaffene, oft ganz künst­liche Gebilde, die ohne eine spezifische Ideolo­gie nicht auskommen. Diese ideologische Grundlage, samt den dazugehörigen Ritualen und Emblemen (Flaggen, Hymnen), ist erst im neunzehnten Jahrhundert entstanden. Sie hat sich, von Europa und Nordamerika aus, auf der ganzen Welt ausgebreitet.

Ein Land, das es zur Nation bringen will, braucht ein wohlcodiertes Selbstverständnis, ein System von eigenen Institutionen (Armee, Zoll, Polizei, Diplomatie) und vielfältige juristische Mittel zur Abgrenzung nach außen (Souveräni­tät, Staatsangehörigkeit, Paßwesen usw.). Vielen, aber nicht allen Nationen ist es gelungen, ältere Formen der Identifikation auf sich zu übertragen. Das ist eine psychologisch diffizile Operation. Mächtige Gefühle, von denen früher kleinere Verbände beseelt waren, sollen auf diese Weise zugunsten der modernen Staatenbildung mobilisiert werden. Dabei geht es selten ohne Geschichtslegenden ab. Beweise für die glor­reiche Vergangenheit der eigenen Ethnie wer­den notfalls gefälscht, ehrwürdige Traditionen schlichtweg erfunden. Die abstrakte Idee der Nation konnte aber nur dort ein selbstverständ­liches Leben gewinnen, wo der Staat sich orga­nisch aus älteren Zuständen entwickeln durfte.
Je artifizieller seine Entstehung, desto prekärer und hysterischer das Nationalgefühl. Das gilt für die »verspäteten Nationen« Europas, für die neuen Staaten, die aus dem Kolonialsystem her­vorgegangen sind, aber auch für Zwangsunio­nen wie die UdSSR und Jugoslawien, die zum Zerfall oder zum Bürgerkrieg tendieren. Natürlich gibt es nirgends auf der Welt Natio­nen mit einer kompakten, ethnisch absolut ho­mogenen Bevölkerung. Dem Nationalgefühl, das sich in den meisten Staaten herausgebildet hat, ist diese Tatsache von Grund auf zuwider. Infolgedessen fällt es dem »Staatsvolk« dort in aller Regel schwer, sich mit der Existenz von Minderheiten abzufinden, und jede Einwande­rungsbewegung gilt dort als politisches Pro­blem. Die wichtigsten Ausnahmen von diesem Schema sind jene modernen Staaten, die ihre Existenz Migrationen großen Umfangs verdan­ken; vor allem die USA, Canada und Australien. Ihr Gründungsmythos ist die tabula rasa. Die Kehrseite dieser Medaille ist die Ausrottung der Urbevölkerung, deren Resten erst in jüng­ster Zeit wesentliche Minderheitenrechte einge­räumt worden sind.
Fast alle anderen Nationen rechtfertigen ihre Existenz durch eine wohlzementierte Selbstzu­schreibung. Die Unterscheidung zwischen »ei­genen« und »fremden« Leuten kommt ihnen ganz natürlich vor, auch wenn sie historisch äu­ßerst fragwürdig ist. Wer an ihr festhalten will, müßte eigentlich, seiner eigenen Logik folgend, behaupten, er sei schon immer dagewesen — eine These, die nur allzuleicht zu widerlegen ist. In­sofern setzt eine ordentliche Nationalgeschichte die Fähigkeit voraus, zu vergessen, was ihr nicht in den Kram paßt.
Verleugnet wird aber nicht nur die eigene bunt­scheckige Herkunft. Wanderungsbewegungen großen Stils führen immer zu Verteilungskämpfen. Diese unvermeidlichen Konflikte deutet das nationale Empfinden mit Vorliebe um, so als hätte der Streit mehr mit imaginären als mit ma­teriellen Ressourcen zu tun. Gekämpft wird dann um die Differenz zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen, ein Feld, das der Dema­gogie ideale Entfaltungsmöglichkeiten bietet.
Siebte Markierung aus
Hans Magnus Enzensberger
Die große Wanderung, 33 Markierungen
Suhrkamp 1992

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