Kiskörös I

Ich muss gestehen, noch nie Ungarn besucht zu haben. Nun ja, ganz stimmt das nicht, 1972 bin ich mit dem Balt-Orient-Express durch Ungarn gereist, um mit Freunden Rumänien und seine Menschen, von Oradea zur Küste trampend, zu erleben. Jetzt nach dem Besuch des Erntedankfestes 2010 von Kiskörös und der Slowakischen Nationaltage vom 3. bis 5. September  als Mitglied des Heimatpflegevereins Gehaus e.V. muss ich ergänzen: zu meiner Schande muss ich gestehen, Ungarn bisher nie besucht zu haben.  Was ich dort an Gastfreundschaft erlebt habe, hat mich sehr beeindruckt – ich danke euch, liebe Kisköröser.  Ich hoffe, dass ich ein wenig meiner Dankbarkeit durch diesen Reisebericht ausdrücken kann. Die Bilder sind hauptsächlich für die Mitreisenden und die Bürger von Kiskörös als Erinnerung an schöne Tage gedacht, sie sind keine hochwertigen Kreationen mit künstlerischem Anspruch, trotzdem habe ich sehr gerne und in genussvollem Erinnern tagelange Mühen in die webgerechte Nachbearbeitung der Bilder investiert. Man kann diese, Vielen nicht nachvollziehbare Verbissenheit vor dem Monitor bis sich die Pupille rechteckig und 16:9 wie er, an ihn angepasst hat,  auch private Leidenschaft nennen – das klingt auf alle Fälle besser.

Der Leser, der zufällig auf dieses Weblog gestoßen ist,  fragt sich vielleicht, was veranlasst Gehauser nach Kiskörös zu fahren? Die Sache ist leicht erklärt, Gehaus ist Ortsteil von Stadtlengsfeld und Kiskörös ist seit 2000 dessen Partnerstadt in Ungarn. Folglich hat der Heimatpflegeverein Gehaus e.V. in den dortigen Vereinen der Donauschwaben und auch der Slowaken, die einst Kiskörös gründeten, Partner gesucht und gefunden. Es gibt in Kiskörös eine Minderheitenselbstverwaltung der Deutschen (Német Kisebbségi Önkormányzat), Titl Péter ist Vorsitzender der Deutschen Minderheitenselbstverwaltung der Stadt Kiskőrös und er hat unseren Aufenthalt mit bemerkenswertem Einsatz organisiert. Auch von der Slowakischen Minderheitsverwaltung (Szlovák Kisebbségi Önkormányzat) wurden wir am 5. September zu einem Essen in ihrem Vereinshaus  eingeladen, doch davon wird noch berichtet.

Warum siedelten die Deutschen und Slowaken in Ungarn? Es ist dies eine Folge der Türkenkriege. Als das heutige Ungarn Anfang des 16. Jahrhunderts vom Osmanischen Reich erobert wurde, wurde die Slowakei zum Kern des nunmehr deutlich kleineren Königreichs Ungarn,  das bis zum Ende des 17. Jahrhunderts als Königliches Ungarn (unter habsburgischer Herrschaft freilich)  bezeichnet wurde. Pressburg, die heutige slowakische Hauptstadt Bratislava, wurde (bis 1784/1848) zur Hauptstadt des Königlichen Ungarns. Nachdem das Osmanische Reich gegen 1700 von habsburgischen Truppen geschlagen wurde, wurden Tausende Slowaken systematisch in entvölkerten Teilen des gebietsmäßig wiederhergestellten Königreichs Ungarn angesiedelt. Die Slowaken bezeichnen diese Gebiete generell als Dolná zem (das „Untere Land“). Durch diese Umsiedlungen sind die bis heute bestehenden, noch im 19. Jahrhundert sehr beträchtlichen, slowakischen Sprachinseln in den heutigen Ländern Ungarn, Rumänien, Serbien und Kroatien entstanden. Die Ansiedlung der Ungarndeutschen erfolgte durch das Haus Habsburg aus dem gleichen Grund wie die der Slowaken: das einst türkische Ungarn war nach den Befreiungskriegen entvölkert. Wer in diese vor Blut starrende Zeit, heimgesucht von Unglück und Gewalt, Kriegen, Epidemien, Freiheitskämpfen und Pogromen, mehr als die historischen Tatsachen begreifend eindringen will, lese  von Lászlo Darvasí „Die Legende von den Tränengauklern“. Und jene Welt, über die diese fünf Tränengaukler weinen, trägt gleichfalls die Züge der heutigen.

Und damit beginnen diese fünf Tränengaukler mit den Worten von Darvasì ihren Bericht über jene Zeit:

Wir sehen ein verblichenes Männergesicht, die Zeit bestreut es mit Silberstaub. Sie tut uns den Gefallen und beläßt es gnädig bei dieser Komposition. Denn wir starren es lange an, stark blinzelnd, und unsere Wimpern zittern. Der Schlaf in unseren Augen verwandelt sich in schimmernden Staub, er rieselt silbrig, wo immer wir hinkommen. Wir kommen ja viel herum. Nebelschwaden, Wachposten, Sümpfe voller Blutegel, der Körper eines Mädchens halten uns nicht auf. Wir spielen mit dem Fleisch, wir bringen die Seele zum Lachen. Die Sprache der Menschen vermeinen wir zu verstehen. Zum Fenster ihres Herzens sehen wir herein. Wir sind viele, so viele wie nötig. Unsere Sehnsüchte sind aber bescheiden. Daß es sein werde, wie es noch niemals war – mehr wollen wir nicht. Dennoch verleihen wir unserer Phantasie keine Flügel. Wir lassen ihr nur freien Lauf, wie dem Herzschlag. Schmerzen soll, was schmerzen darf. Das Erzählen schmerzt nicht. Nur spüren wir, während die Worte blühen, den bitteren Honig der Schwermut auf unserer Zunge. Dieses Gefühl ähnelt durchaus der unbeherrschten Natur des Wetters. Es regnet, es regnet nicht. Die Blätter rauschen, sie rauschen nicht. Der Himmel strahlt, er strahlt nicht. Nur die Bäume, die Gräser verraten den Wind. Doch warum Traurigkeit hochsteigt, wissen wir nicht. Wir reisen in der Einöde von Worten und Sätzen. Und nicht der Weg und auch nicht unsere Laune wird dieser Reise ein Ende setzen. Vielleicht wird es nur eine winzige Träne sein.

Und das wird dann auch gerade genug sein.

Nun noch einige Informationen über Kiskörös (es gibt leider keinen Eintrag zu Kiskörös im deutschen Wikipedia):

Kiskörös ist bezgl. der Einwohnerzahl die sechstgrößte Stadt der Verwaltungseinheit (Komitat) Bács-Kiskun. Es liegt im Zentrum des Komitats, 22 km östlich der Donau und 110 km südlich von Budapest. 2 bis 3 km nördlich der Stadt befindet sich das Naturschutzgebiet (seit 1974) ‚Szücsi Wald‘, es ist ein Teil des ‚Kiskunság Nationalparks‘. Hier gibt es 300 geschützte Pflanzenarten, auch eine besondere Art von Orchidee, die im April blüht. Außerdem leben hier 98 eingetragene, geschützte Vogelarten. Viele von ihnen sind Singvögel, die mit Raubvögeln wie Turmfalken, Sperber und Baumfalken koexistieren.

Kiskörös ist seit der späten Eisenzeit besiedelt. Die ersten schriftlichen Dokumente, die Kiskörös erwähnen, gehen auf das Jahr 1398 zurück. 1433 erhielt Köskörös den Status einer unabhängigen Stadt. Das friedliche Leben und die Existenz als Stadt ging im 16. Jahrhundert zu Ende, als nun die türkische Armee das Gebiet besetzte. Viele ihrer Einwohner verloren während deren Besatzung ihr Leben. Die Wiedergeburt von Kiskõrös ist der Wattay-Familie zu verdanken. Für ihren Beitrag im Kampf gegen die Türken schenkte Leopold I. der Familie das Kisköröser Land und die umgebenden Gebiete. Am 19. Mai 1718 siedelten sich 700 slowakische Bauern neu in Kiskörös an. Kiskörös erreichte dann bis 1785 etwa 5.000 Einwohner. Am 1. Januar 1823 wurde Sándor Petöfi in Kiskörös geboren. Nach dem 2. Weltkrieg erzielte  die Stadt den größten Teil des Einkommens aus der Landwirtschaft (Wein und Fruchtproduktion).

Die Infrastruktur von Kiskörös begann sich in den 1970er Jahren schnell zu entwickeln, Schulen und Einrichtungen zur Gesundheits- und Sozialfürsorge wurden gebaut. Seit 1973 ist Kiskõrös wieder eine Stadt. (aus einem englischen Wikipedia-Artikel).

Und das soll dann auch für heute gerade genug sein.



 

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