Warum würfeln wir nicht?

Folgender Text ist die Schlusspassage eines Redemanuskriptes von W. Singer auf den Frankfurter Positionen 2003: „Warum nicht würfeln?“ – Gestaltungsmöglichkeiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Dort wurden neue Theatertexte, Kompositionen, Werke der Bildenden Kunst vorgestellt sowie eine Vortragsserie geboten. Wer meinen gestrigen Blogeintrag gelesen hat, der wird sich vielleicht fragen, warum wir angeblich einen so geringen Einfluss auf unsere Zukunft haben, warum der Zufall eine so große Rolle auf den Erfolg unseres Handelns hat. Es ist ja nicht so, dass unsere Art zu fragen gar keinen Einfluss auf die Antworten im Spiel der zwanzig Fragen mit offenem Ausgang hätte, nur zuweilen kommt es eben anders als erwartet – es gibt chaotische Zeiten und Zeiten relativer Stabilität (Inseln  quasistabiler Ordnung). Doch wie lange letztere dauern werden und wann zum Beispiel die nächsten Banken- oder Wirtschaftskrisen, politische Krisen oder Umweltkatastrophen über uns kommen, das wissen wir fast nie, schon alleine deshalb, weil dynamische komplexe Systeme zur „Edge of Chaos“ streben, weil sie dort am effizientesten arbeiten. Und so fragt Wolf Singer nicht ohne Grund, wenn es um unseren persönlichen und kollektiven Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft geht:

Warum würfeln wir nicht?

[von Prof. Wolf Singer, Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt am Main]
Das wiederholte Scheitern von Systemen, die von weit in die Zukunft weisenden Visionen getragen wurden, hat unseren Glauben an die Realisierbarkeit von Utopien nachhaltig erschüttert. Zweifel an der Machbarkeit von Zukunft greifen um sich. Die Erkenntnis, daß große Entwürfe und Fünf-Jahres-Pläne die Tendenz haben, an der sich ändernden Wirklichkeit zu scheitern, ist nicht neu – neu hingegen ist, daß es rationale Erklärungen für die Notwendigkeit des Scheiterns gibt. Die relevanten Variablen sind zum einen die Struktur und Dynamik lebensweltlicher Prozesse und zum anderen die kognitiven Fähigkeiten der Entscheidenden und Handelnden, die versuchen, diese Prozesse zu steuern.
Die Systeme, die es zu steuern gilt, zeichnen sich allesamt dadurch aus, daß sie aus einer sehr großen Zahl untereinander vernetzter Agenten bestehen, deren Einzelaktionen in ihrer Gesamtheit die Entwicklungstrajektorien der Systeme bestimmen. Somit kann der Beitrag der einzelnen Aktionen zur Entwicklungsdynamik des Gesamtsystems nur dann beurteilt werden, wenn der Gesamtkontext jeweils mitberücksichtigt wird. Das hierfür erforderliche Wissen über die Interaktionsstrukturen und die Motive und Handlungen der einzelnen Agenten ist aber wegen der Komplexität von Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen in der Regel nicht verfügbar. Doch selbst wenn dieses Wissen erlangt und nutzbar gemacht werden könnte, ließen sich daraus keine Maximen für Eingriffe ableiten, die langfristige Ziele verfolgen. Der Grund ist, daß lebensweltliche Systeme nicht-lineare Eigenschaften besitzen. Für solche Systeme läßt sich nicht prognostizieren, welches die langfristigen Konsequenzen von Eingriffen sein werden. Für nicht-lineare dynamische Systeme läßt sich im Prinzip nicht angeben, wie bestimmte Eingriffe sich auf die längerfristige Entwicklungstrajektorie des Gesamtsystems auswirken werden. Es verhält sich hier ähnlich wie mit der Evolution des Lebens auf der Erde. Es ist im Nachhinein möglich, anzugeben, wie sie sich vollzogen hat und welchen Einfluß bestimmte Mutationen auf die Entwicklung des Gesamtsystems hatten. Als sich die einzelnen Mutationen jedoch ereigneten war im Prinzip nicht vorauszusehen, wie sich diese auswirken würden. Komplexe Systeme mit nichtlinearer Dynamik lassen sich also nicht zielgerichtet steuern, weshalb es in der Regel anders kommt als erwartet.
Mit der zweiten Variablen, dem entscheidenden und handelnden Menschen, steht es nicht viel besser. Unsere kognitiven Fähigkeiten sind naturgemäß beschränkt und diese Beschränkung gilt für alle Menschen im gleichem Maße. Weder die Lenker noch die Gelenkten sind in der Lage, das im Prinzip verfügbare Wissen in ihren Gehirnen zu speichern. Somit basieren selbst scheinbar rationale und vernünftige Entscheidungen immer nur auf den wenigen Variablen, auf die sich gerade die Aufmerksamkeit richtet. Hinzu kommt, daß vieles von dem, was menschliches Erfahrungswissen ausmacht, unbewußt bleibt und sich lediglich in Neigungen und Abneigungen auszudrücken weiß und somit keinen Eingang in rationale Argumentations- und Abwägungsprozesse findet. Dieses Problem kann durch Verlagerung von Entscheidungsprozessen in multidisziplinäre Gremien reduziert, aber nicht grundsätzlich behoben, werden. Daraus folgt, daß die Entscheidungs- und Planungskompetenz der Lenker in unserer Gesellschaft sich nicht wesentlich von der der Gelenkten unterscheiden kann. Daß wir dennoch bereit sind, den Lenkern unserer Systeme die Meta-Intelligenz zuzugestehen, die allein Rechtfertigung für die ihnen anvertraute Verfügungsgewalt und Macht rechtfertigen würde, spiegelt unsere illusionäre Hoffnung wider, daß Zukunft letztendlich doch plan- und machbar sei.

So ergeben sich zwei Schlußfolgerungen: Erstens, es kann Niemanden auf dieser Erde geben, der es wesentlich besser wissen könnte als wir selbst, und zweitens, selbst wenn es diese Meta-Intelligenz gäbe, wäre sie aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage, zukünftige Entwicklungen so zu beeinflussen, daß diese sich langfristig auf ein bestimmtes Ziel hin bewegen.

Daraus folgt, daß wir uns als Agenten begreifen sollten, die nach wie vor in einem evolutionären Prozeß eingebunden sind, den wir durch unsere Taten befördern, den wir aber nicht wirklich lenken können. Wenn dem so ist, dann täten wir gut daran, uns entsprechend zu verhalten. Ein erster Schritt wäre das Eingeständnis, daß keiner es viel besser wissen kann als andere, und dies hätte Auswirkungen auf die Machtverteilung. Mit diesem Eingeständnis einher ginge der Verzicht auf große Versprechen und die mit ihnen motivierten tiefgreifenden Eingriffe in die Systemdynamik. Weil sich evolutionäre Systeme nur nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum entfalten, müssen die Versuche aus kleinen Schritten bestehen, damit sich Irrtümer nicht zu fatal auswirken können. Auch müßte das Eingeständnis von Irrtum zur Tugend werden, da dieser konstitutiv und nicht zu vermeiden ist. Kleine, von Pragmasie geleitete, an vielen Stellen vorgenommene Verbesserungsversuche sollten sich allemal positiver auf langfristige Entwicklungen auswirken als scheinbar rational abgeleitete große Würfe. Die Dekonstruktion zentralistisch organisierter Lenkungsinstrumente und die Stärkung distributiv organisierter Entscheidungssysteme wären die Folge. Demut als Utopie.
Demut als Utopie
Warum wir trotz aller Ungewissheit nicht würfeln sollten, beantwortet uns die Spielregel des Wheelerschen Spieles: Jeder musste … bei seiner Antwort wenigstens ein Beispiel für einen Begriff im Kopf haben, das mit allen bisherigen Antworten im Einklang ist. Das bisher Geschehene bzw. Gedachte zu kennen und zu berücksichtigen, ist notwendige Bedingung, um die nächste Frage stellen zu können. Dass diese Frage zufällige Folge des momentanen  Zustandes des Fragenden ist, bringt zwar den Zufall ins Spiel, aber es ist ein durch das bisher geschehene  gewichteter Zufall, gewichtet auch durch die momentanen Bevorzugungen, Hoffnungen, Absichten des Fragenden.

Edge of Chaos heißt für das System: Gehe an Deine Grenzen und bleibe dort. Entwickle Strukturen, die gerade noch beherrschbar sind. Nimm in Kauf, dass damit Störungen, Unfälle, ja Katastrophen verbunden sind, unter Umständen beliebig große!

Das Streben zum Chaosrand treffen wir auf Schritt und Tritt. Nehmen wir einen Leistungssportler. Nur mit vollem Einsatz kann er sich gegen andere Sportler durchsetzen. Er wird trainieren, an seine Grenzen gehen, alle erlaubten Mittel ausschöpfen – und er könnte versucht sein, auch unerlaubte zu nutzen. Damit setzt er sich allerdings einem hohen Risiko aus. Das Überschreiten der körperlichen Grenzen führt zu Verletzungen, der Einsatz unzulässiger Mittel kann zur Disqualifikation führen. Für den Einzelnen ist das eine Katastrophe – und die Gefahr, in eine solche zu laufen wird ihn tendenziell zurückhalten, gar zu weit zu gehen. Im System aller Sportler werden sich aber immer Vertreter finden (und es finden sich immer wieder welche!), die versuchen, den kritischen Punkt zu erreichen. Und damit treiben sie das System Sport auch immer wieder an diesen Punkt.
Wir beobachten es in der Wirtschaft. Schon Karl Marx zitierte einen zeitgenössischen Ökonomen mit den Worten: „Das Kapital hat einen Horror vor der Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.“ [T J Dunning: Trades’ Unions and strikes: their philosophy and intention. London 1860, zitiert nach: K Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23]
Und im Bereich der Technik? Edge of chaos heißt hier: gehe an den technologischen, an den material-technischen Limit. Gehe an die Grenze, mach das gerade noch Machbare. Nur dort kannst du der Beste sein. Wie dicht man an den kritischen Punkt gehen muss oder darf, hängt von der Situation ab. In der Weltraumforschung, in der Formel 1, bei Versuchen, ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen, sicher ganz dicht.
Im Alltag ist ein gehöriger Abstand zum Chaosrand aber unbedingt empfehlenswerter.

Wichtig
Systeme tendieren dazu ihre Grenzen auszutesten. Sie nähern sich dadurch einem kritischen Punkt mit maximaler Komplexität. Das Überschreiten dieses Punktes bringt chaotisches Verhalten mit sich. Der optimale Zustand eines Systems liegt kurz vor dem kritischen Punkt. Das hatten wir bereits in den Kap. 2 und Kap. 4 gesehen. Dort waren es das Kettenreaktionsspiel und das Aufhäufen von Sand. Beide Male lag die optimale Vorgehensweise dicht vor dem kritischen Punkt, an dem das Systemverhalten von Stabilität in Instabilität umschlug.
Herbert Grönemeyer hat Reiz und Gefahr des Chaosrands schon 1991 erkannt. Praktisch zeitgleich mit dem Aufkommen der Idee vom edge of chaos sang er in seinem Song Haarscharf [H Grönemeyer: Haarscharf, Album Luxus, 1991]:

Haarschaaaaarf am Abgrund
So gerade noch den Absprung
Im letzten Moment von der Klinge

Es ist kaum anzunehmen, dass Grönemeyer von Kauffman oder gar Kauffman von Grönemeyer abgeschrieben hat. Es war der Zeitgeist, der sich hier Bahn brach und zusammen mit der Komplexität auch deren Kehrseite – das Chaos – ins Bewusstsein rückte.

aus Frank-Michael Dittes: Komplexität – Warum die Bahn nie pünktlich ist
Springer Berlin Heidelberg Dordrecht London New York, 2012


 

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