Die blaue Wunderblume

Der blauen Wunderblume Heimat ist die deutsche Sage. Seit Jahrtausenden blüht sie dort, namenlos, geheimnisvoll, wunderverheißend! Wer sie findet, wird überreich belohnt. Sie entdeckt dem glücklichen Finder einen märchenhaften Schatz. Ich kenne eine blaue Blume, die einen Schatz von unermeßlichem Werte jedem verheißt. Ob das die blaue Wunderblume der Sage ist? Ich wage nicht, es zu behaupten! Denn dann müßte ich die Sage verdächtigen, daß sie uns auf den „Lein“ hätte locken wollen.
Flachs und Lein sind ein und dasselbe. Das heißt, Flachs ist das eine, Lein aber dasselbe in „Grün“. Lein nennt man die Pflanze, solange sie grün ist und keinen Bast angesetzt hat. Der Sprachgebrauch kümmert sich um diesen Unterschied verteufelt wenig. Er ist eben ein Tyrann, der sich an keine Gesetze bindet. So kommt es, daß man – richtiger – – Lein sagt, wenn man den Flachs meint, und umgekehrt. Ob die Sage deshalb den Namen verschwieg?
Der Lein alias Flachs ist sich seines edlen Wertes nur zu bewußt. Er ist ein äußerst anspruchsvoller, rücksichtsloser, widerhaariger Bursche. Nichts ist ihm gut genug, kein Acker, kein Wetter. Gefällt ihm Beides nicht, dann wird er zweiwüchsig, kurz und lang, im herrlichsten iambischen Rhythmus! Er verlangt Pflege und Wartung, wie keiner seiner Ackergenossen. Und wenn ihm der Sinn danach steht, dann fault er bei lebendigem Leibe, alle Mühe zu Schanden machend. Hinwiederum lohnt Niemand seinen Erzeuger so reich wie er!

Der Mensch rächt sich aber für diese Launenhaftigkeit gründlich! Hat der Lein ausgeblüht und steht er im Baste, dann kommt die Vergeltung. Der Bauer reißt und „rauft“ ihn mit Stumpf und Stiel aus dem Boden, drischt ihn erstmal ganz gehörig durch, damit er seinen Samen herausgibt. Dann wird er „geröstet“, nicht im Fegefeuer, die Qualen wären viel zu gering, nein, im eiskalten Wasser dann wird er „gedörrt“, bis er rappeldürr ist. Nun werden ihm die Glieder einzeln im Leibe „gebrecht“, bis sie kurz und klein sind. Damit noch nicht genug! Jetzt wird er von neuem geschlagen und „geschwingt“, um schließlich langsam zu Tode „gehechelt“ zu werden. Wahrlich, eine abscheuliche Pflanzenschinderei! Und eine Menschenquälerei obendrein! Und das nennt man „Veredlungs-Verfahren“!
Viel „menschlicher“ verfährt die Maschine mit dem Flachs! Der Bauer wird den Quälgeist los, also allen wird geholfen! Der Flachs wird vom Bauer bloß noch „gerauft“ und „geriffelt“, das tut der Bauer gern und gründlich, und an der Luft getrocknet. Dann ladet er ihn auf und fährt ihn zur nächsten Flachsbereitungsgesellschaft, die zahlt einen guten Preis und schmunzelnd und zufrieden fährt der „Flachskopf“ wieder heim.
Wir aber begleiten den Flachs auf seinem ferneren Lebenswege. Sehr einladend winken dem herannahenden Flachse zwei große Lagerhallen entgegen. Das ist doch ganz was Anderes als solche enge dunkle Bauernscheune! Beide Hallen sind fähig, 600 – 700.000 Kilo Strohflachs zu lagern. Man ist da unter seines gleichen! Hier lassen sich die ganz edlen, feinstengeligen Flächse nieder, dort liegt das grobstengelige Pack bei einander. Neue Bekanntschaften macht man da. Der Flachs aus der Provinz Hessen-Nassau begrüßt sich mit dem aus dem Großherzogtum Hessen, hier lernt der Waldeck-Pyrmontsche Flachs den aus dem Kreise Wetzlar kennen. Aber auch fremdes Geschirr drängt sich herein. Da ist der Schlesier zu nennen, der furchtbar stolz und eingebildet ist. Und dort, der verwitterte, dunkle Geselle kommt gar aus Rußlands besetztem Gebiete her.

Nun wird sortiert nach der Güte, d. h. nach der Feinheit, Farbe und Länge. Der Schlesier allein erreicht das Gardemaß, er mißt über 1 Meter Länge! Da müssen sich die kurzbeinigen Hessen ducken. Der Flachs kann sich aber nicht lange des schönen Aufenthaltes in den Lagerhallen erfreuen. Zeit ist Geld. Bald wird er auf Feldbahnwagen gepackt und in das Rösthaus gefahren. Vor dem Rösten hatte der Flachs früher eine ganz berechtigte Wasserscheu. In den kalten Bächen zu liegen, war wirklich kein Vergnügen! Jetzt ist das eine Wonne! Im Rösthaus angekommen, wird der Flachs in große Holzgestelle von kastenartiger Form schön aufrecht, Bündel an Bündel, aufgestellt, damit ihn das Wasser gut um- und durchspülen kann. Ist solch ein Kasten, der 7 Zentner Flachs fassen kann, vollgepackt, so wird er mittels einer Laufkatze in ein wundervoll lauwarmes Wasserbad von 22 – 28 Grad Celsius versenkt. Sieben Tage lang faulenzt und fault der Flachs in dem Wasserbade. Frisches Wasser läuft ständig zu und ab. In den Wasserkästen macht der Flachs eine abwechslungsreiche Reise. Die Kästen marschieren automatisch durch das ganze Kanalsystem hindurch, dieser Wechsel in der Umgebung macht die Sache kurzweiliger, sodaß die sieben Tage wie im Fluge vergehen. Ehe es sich der Flache versieht, ist er am Ausgangskanal angelangt.
Jetzt macht der ganze Kasten eine richtige Lustreise. Die Laufkatze holt ihn aus dem Wasserbade heraus und hebt ihn in den ersten Stock empor. Oben angekommen geht es auf die Förderwagen, die den Flachs an die Hortenwagen heranbringen. Der Flache atmet aus, der Bündelverschluß wird gelöst, und von zarter Frauenhand wird er auf die Etagen des Hortenwagens auseinander gebreitet. Das gefällt dem Flachs! Kaum aber hat er sich an die neue Lage etwas gewöhnt, da geht die Reise schon wieder los! Man schiebt ihn auf dem Hortenwagen in ein großes dunkles Loch, das sich gleich hinter ihm hermetisch wieder verschließt. Jetzt muß er schwitzen, die Temperatur ist anfangs 45 Grad C., aber je weiter die Reise in den Trockenkanal hineingeht, desto heißer und trockener wird die Luft. 80 Grad C.! Der Flachs hat keinen nassen Faden mehr am Leibe! Er ist rappeldürr gedörrt! Wie eine Erlösung erscheint es ihm da, als nach zweieinhalbstündigem Schwitzbade die Pforten sich öffnen. Mißtrauisch wischt er sich den Schweiß aus den Augen. Vor ihm steht eine Maschine, die macht einen Höllenspektakel. Armer Flache! Das ist die ,,Knickmaschine«,. die dir sämtliche Knochen im Leibe zermalmen wird. Ahnungslos fühlt sich der Flachs beim Schopf gepackt, er nähert sich dem Rachen der Maschine und verschwindet darin. Anfangs geht die Sache noch. Er wird durch die glatten Einführungswalzen zwar gepreßt, daß ihm Hören und Sehen vergeht: dann aber kommt er zwischen die Messerwalzen, die zermalmen alles Feste an und in ihm, er wird immer schlanker und dünner! Zwischen 13 Paar Messerwalzen muß er hindurch. Er erkennt sich kaum wieder, als er ans Tageslicht zurückkehrt. Ehe er aber über seine Umwandlung sich ganz im klaren ist, reißt man ihn aus der Maschine heraus und legt ihn unter die Bündelpresse. Hier wird er in 10 Kilo Ballen gepreßt und nun ist er reisefertig: Er nimmt gerührt Abschied von der Flachsbereitungsgesellschaft und dankt für die menschenwürdige Behandlung. Veredelt zieht er von dannen und wandert zu den Spinnereien, die ihn zu kostbarem Leinen weiterverarbeiten!

(von W. A. Balthasar, Fulda).



 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

vier + zehn =