Albert Camus und das Absurde

Wir, die sich dank ihrer Vernunft für aufgeklärt haltenden Menschen, sind uns der Tatsache bewusst geworden, dass unserem Leben kein Wert oder „Sinn“ immanent ist, es sei denn wir selbst geben ihm einen. Die Erkenntnisse aus den Prinzipien der Evolution lehren uns nur eines: „Alles geschieht – das ist die ganze Wahrheit!“ [Robert Musil in „Die Verwirrungen des Zöglings Törles“]. Doch mit dieser Erkenntnis unseres logischen Verstandes können wir nicht leben, ein solcherart sinnloses Leben schreit nach Selbstmord oder ruft auf zur Revolte, zur Auflehnung gegen die schicksalhafte Ergebenheit in die Logik unseres Verstandes.  Das unabwendbare Bedürfnis nach Gesellung (Affiliation – Definition dieses Begriffes durch Dietrich Dörner in den Blogbeiträgen „PSI oder Bauplan für eine Seele“ und „Was ist Moral?“), das sich im Verlauf unserer Evolution herausgebildet hat, weist uns den Weg aus unserem Dilemma und zwingt uns zur Sinnsuche durch das und in dem Leben mit der Gemeinschaft der auf sich selbst Zurückgeworfenen, ruft zum Aufrütteln der einsamen Masse aus deren Betäubung durch den nihilistisch begründeten Hedonismus bei de Sade bzw. durch die lieblose Logik des Verstandes bei Kant, deren beider Sinnfindung als logisch mögliche Folgerung aus den Ideen der Aufklärung betrachtet werden können.

In seinem Essay  „Der Mythos des Sisyphos“ schreibt Albert Camus:
„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien habe – kommt erst später. Das sind Spielereien; zunächst heißt es Antwort geben. Und wenn es wahr ist, dass – nach NIETZSCHE – ein Philosoph, der ernst genommen werden will, mit gutem Beispiel vorangehen müsse, dann begreift man die Wichtigkeit dieser Antwort, da ihr dann die endgültige Tat folgen muss. Für das Herz sind das unmittelbare Gewissheiten, man muß sie aber gründlich untersuchen, um sie dem Geiste deutlich zu machen. Wenn ich mich frage, weswegen diese Frage dringlicher als irgendeine andere ist, dann antworte ich: der Handlungen wegen, zu denen sie verpflichtet. Ich kenne niemanden, der für den ontologischen Beweis gestorben wäre. GALILEI, der eine schwerwiegende wissenschaftliche Wahrheit besaß, leugnete sie mit der größten Leichhtigkeit ab, als sie sein Leben gefährdete. In gewissem Sinne tat er recht daran. Diese Wahrheit war den Scheiterhaufen nicht wert. Ob die Erde sich um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde – das ist im Grunde gleichgültig. Um es genau zu sagen: das ist eine nichtige Frage. Dagegen sehe ich viele Leute sterben, weil sie das Leben nicht für lebenswert halten. Andere wieder lassen sich paradoxerweise, für die Ideen oder Illusionen umbringen, die ihnen einen Grund zum Leben bedeuten (was man einen Grund zum Leben nennt, das ist gleichzeitig ein ausgezeichneter Grund zum Sterben). Also schließe ich, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens die dringlichste aller Fragen ist. Wie sie beantworten?“
 
Weiter schreibt er an anderer Stelle in dem Essay:

Sisyphos ist der Held des Absurden. Dank seiner Leidenschaften und dank seiner Qual. Seine Verachtung der Götter, sein Haß gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter aufgewogen, bei der sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustande bringt. Damit werden die Leidenschaften dieser Erde bezahlt. Über Sisyphos in der Unterwelt wird uns nichts weiter berichtet. Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden. So sehen wir nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloß legt, wie ein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganz menschliche Selbstsicherheit zweier erdbeschmutzter Hände. Schließlich ist nach dieser langen Anstrengung (gemessen an einem Raum, der keinen Himmel, und an einer Zeit, die keine Tiefe kennt) das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphos, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muß. Er geht in die Ebene hinunter.
Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels. Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewußt ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Arbeiter bewußt wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann
….
Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Ich aber glaube nicht an die Deutung von Camus, daß Sisyphos ein glücklicher Mensch werden könnte. Dieser Held des Absurden kennt kein Bedürfnis nach Bindung an oder Eingliederung in eine Gemeinschaft, der Mensch aber ist ein soziales Wesen und das „Bedürfnis nach Gesellung“  muß als Grundbedürfnis betrachtet werden, ohne dieses und mit der Fähigkeit, sich symbolhaft mit den Augen der Anderen seiner Art sehen zu können, hätte der Mensch kein Bewußtsein seiner Selbst evolutionär entwickeln, nicht über sich selbst reflektieren können. Er handelt tatsächlich, vom Standpunkt der Logik des rationalen Verstandes her betrachtet, absurd. Wenn ihn nichts anders an das Leben bindet, als nur der Wille, den Göttern, an deren Existenz er nicht glaubt, zu beweisen, daß er sein Schicksal durch Verachtung überwinden könne, ist das in höchstem Maße absurd und eine solche Begründung seines Handelns ist ein Paradoxon, das seinem wachen Verstand früher oder später bewußt werden muß. Nein, absurdes Handeln bewahrt nicht auf Dauer vor der Konsequenz des Selbstmordes.
Albert Camus hat das später selbst erkannt und in „L’homme révolté“ andere Wege der Menschheit analysiert, dem logisch Absurden des Daseins einen Sinn entgegenzusetzen, für den es sich zu leben lohnt. Aber zunächst rechnet auch er mit dem absurden Handeln seines Helden ab [Zitate aus Abert Camus: Der Mensch in der Revolte. [L’homme révolté], rororo 22193. 28. Auflage 2011]:
Seite 15/16:

Wenn man aus dem Gefühl des Absurden zunächst eine Regel für das Handeln abzuleiten beabsichtigt, macht es den Mord zum mindesten indifferent und infolgedessen möglich. Wenn man an nichts glaubt, wenn nichts einen Sinn hat und wenn wir keinen Wert bejahen können, ist alles möglich und nichts von Wichtigkeit. Ohne Für und Wider hat der Mörder weder unrecht noch recht. Man kann die Verbrennungsöfen schüren, so wie man sich der Pflege Leprakranker widmet. Bosheit und Tugend sind Zufall oder Laune.

Seite 17:

Aber die Logik kann nicht auf ihre Kosten kommen bei einer Handlung, die es ihr deutlich macht, daß der Mord abwechselnd möglich und unmöglich ist. Denn nachdem sie den Akt des Tötens zum mindesten als indifferent hingestellt hat, verurteilt die absurde Analyse ihn am Schluß in ihrer wichtigsten Konsequenz. Der letzte Schluß der absurden Argumentation ist in der Tat die Verwerfung des Selbstmordes und die Erhaltung jener hoffnungslosen Kluft zwischen der Frage des Menschen und dem Schweigen der Welt. [sh. der „Mythos des Sisyphos“]. Der Selbstmord käme der Schließung dieser Kluft gleich, und die absurde Überlegung ist der Ansicht, dem nur zustimmen zu können, wenn sie ihre eigenen Prämissen verleugnet. Eine solche Schlußfolgerung wäre, von ihr aus gesehen, Flucht oder Selbstbefreiung. Aber es ist klar, daß im gleichen Zug diese Überlegung das Leben als das einzig notwendige Gut anerkennt, weil gerade es diese Kluft erzeugt, andernfalls der Spieleinsatz des Absurden keine Deckung hätte. Um sagen zu können, daß das Leben absurd ist, muß das Bewußtsein Leben haben. Wie, ohne erhebliche Konzession an den Hang zum Komfort, den Gewinn solcher Überlegung ausschließlich für sich behalten? Vom Augenblick an, da dieses Gut als solches anerkannt ist, gehört es allen. Man kann nicht dem Mord eine Logik zugestehen, wenn man sie dem Selbstmord verweigert. Ein Geist, der von der Idee des Absurden durchdrungen, läßt zweifelsohne den Mord aus Schicksalsbestimmung gelten, doch nicht den überlegten Mord. Angesichts der Kluft sind Mord und Selbstmord ein und dasselbe, beide muß man zusammen bejahen oder verwerfen.

Seite 19/20:

Wenn man dem Selbstmord seine Gründe abspricht, ist es gleicherweise unmöglich, dem Mord solche zuzusprechen. Es gibt keinen halben Nihilisten. Die absurde Überlegung kann nicht das Leben dessen bewahren, der spricht, und zugleich die Opferung der andern dulden. Vom Augenblick an, da man die Unmöglichkeit der absoluten Verneinung anerkennt, und Leben auf irgendeine Weise kommt dieser Anerkennung gleich, ist das Erste, was sich nicht leugnen läßt, das Leben des andern. So raubt der gleiche Begriff, der uns glauben ließ, der Mord sei gleichgültig, ihm seine Rechtfertigungen; wir fallen in die Illegitimität zurück, aus der wir uns zu befreien suchten. Praktisch überzeugt uns dieser Gedanke zu gleicher Zeit, daß man töten kann und daß man es nicht kann. Er läßt uns im Widerspruch zurück, ohne etwas, das den Mord verhindern oder legitimieren könnte, uns, die Bedrohenden und Bedrohten, preisgegeben einer Epoche voll nihilistischen Fiebers und dennoch voller Einsamkeit bewaffnet und dennoch beklommen….Aber dieser wesentliche Widerspruch kann nicht verfehlen, sich mit einem Haufen anderer einzustellen, sobald man danach trachtet, im Absurden zu verharren, damit dessen wahren Charakter verkennend, der nichts anderes ist als ein gelebter Durchgang, ein Ausgangspunkt, die Entsprechung, auf dem Feld der Existenz, von Descartes‘ methodischem Zweifel. Das Absurde in sich selbst ist Widerspruch.Es ist ein Widerspruch seinem Inhalt nach, denn es schließt die Werturteile aus und will dennoch das Leben aufrechterhalten, wo doch Leben an sich schon ein Werturteil ist. Atmen heißt urteilen. Es ist vielleicht falsch zu sagen, das Leben sei eine unaufhörliche Wahl. Aber es ist richtig, daß man sich kein Leben vorstellen kann, das jeglicher Wahl beraubt ist. Von diesem einfachen Gesichtspunkt aus erscheint der absurde Standpunkt beim Handeln unvorstellbar. Er ist unvorstellbar auch in seinem Ausdruck. Jede Philosophie der Nicht-Bedeutung ruht auf dem Widerspruch gerade der Tatsache, die sie ausspricht. Sie verleiht damit ein Minimum von Zusammenhang dem Unzusammenhängenden, sie bringt Konsequenz in das, was, ihrer Überzeugung gemäß, keine hat. Reden renkt wieder ein. Die einzige widerspruchslose Haltung, gründend auf der Bedeutungsleugnung, wäre das Schweigen, wenn es nicht seinerseits etwas bedeutete. Die vollkommene Absurdheit versucht stumm zu sein. Wenn sie spricht, so deshalb, weil sie sich darin gefällt oder, wie wir sehen werden, weil sie sich für provisorisch hält. Diese Selbstachtung, diese Selbstgefälligkeit erhellt die tiefe Doppeldeutigkeit des absurden Standpunkts. In gewisser Weise läßt das Absurde den Menschen, den es in seiner Einsamkeit auszudrücken strebte, vor einem Spiegel leben. Die ursprüngliche Zerrissenheit läuft dann Gefahr, komfortabel zu werden. Die Wunde, die man so angelegentlich kratzt, wird schließlich lustvoll.

Seite 22:

Das Absurde hat, wie der methodische Zweifel, Tabula rasa gemacht. Es läßt uns in der Sackgasse zurück. Doch wie der Zweifel kann es, indem es zu sich zurückkehrt, einer neuen Forschung die Richtung weisen. Die Überlegung setzt sich dann in der gleichen Weise fort. Ich rufe, daß ich an nichts glaube und daß alles absurd ist, aber ich kann an meinem Ausruf nicht zweifeln, und zum mindesten muß ich an meinen Protest glauben. Die erste und einzige Gewißheit, die mir so im Innern der absurden Erfahrung gegeben ist, ist die Revolte. Bar alles sicheren Wissens, gedrängt, zu töten oder einem Totschlag beizustimmen, besitze ich nur diese Gewißheit, die sich noch verstärkt durch die Zerrissenheit, in der ich lebe. Die Revolte keimt auf beim Anblick der Unvernunft, vor einem ungerechten und unverständlichen Leben. Aber ihre blinde Wucht fordert die Ordnung inmitten des Chaos und die Einheit inmitten dessen, was flieht und verschwindet. Sie schreit, sie fordert, sie verlangt, daß der Skandal aufhöre und daß zu fester Form zusammentrete, was bisher ohne Unterlaß ins Wasser geschrieben wurde. Ihr Ziel ist, umzuformen. Doch umformen heißt handeln, und handeln heißt morgen töten, während man doch nicht weiß, ob der Mord gestattet ist. Sie erzeugt gerade die Handlungen, die zu legitimieren man von ihr verlangt. So muß die Revolte ihre Gründe in sich selbst finden, da sie sie nirgendwo anders finden kann. Sie muß einer Selbstuntersuchung zustimmen, um zu lernen, wie ihren Weg zu gehen.

 Siehe dazu auch den Blogbeitrag Camus über die Aufklärung.
Seite 23:

Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich weigert zu sein, was es ist. Die Frage ist, ob diese Weigerung ihn nur zur Vernichtung der andern und seiner selbst führen kann, ob jede Revolte mit der Rechtfertigung des allgemeinen Totschlags enden muß, oder ob sie im Gegenteil, ohne Anspruch auf eine unmögliche Schuldlosigkeit, das Prinzip einer angemessenen Schuld entdecken kann.

Was also tun, wie könnte eine kohärente Antwort auf diese Frage von Camus lauten, nun, da Gott tot ist (Nietzsche), wir uns vom Aberglauben der Fremdbestimmung, aber auch der Sinngebung durch Götter oder andere höhere Wesen, in der Epoche der Aufklärung durch die Logik wissenschaftlichen Denkens befreit hatten, stehen wir vor der noch immer unbeantworteten Frage: Was ist dann der Sinn des Lebens, wozu sind wir auf der Welt?

Versuch einer Antwort im Beitrag Richard Rorty und der Pragmatismus

2 Kommentare

  • Heidemarie Fehlhaber

    Jedes Leben ist Selbstzweck und bedarf keiner Begründung.

    • Leben bedarf keiner moralischen Begründung, sowenig wie das Wetter oder andere physikalisch-chemischen Prozesse – das leuchtet als trivial ein. Aber sobald ein Lebewesen wie der Mensch sich seiner selbst als soziales Wesen bewusst wird, drängt es ihn, seine präsozialen, egoistischen Triebwünsche gegenüber den Mitmenschen rational zu rechtfertigen, also moralisch zu begründen. Dem Bewusstsein fällt die Aufgabe eines Advokaten zu, der ein Alibi zu konstruieren hat, das zwar viel erklärt, aber deren eigentlichen trivialen Grund kaschiert -so jedenfalls meint Mitscherlich.

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