Eingespielt mit Samples „Vienna Grand“ eines Bösendorfer Konzertflügel der Firma Galaxy Instruments.
Hanns Dennerlein: Die c-moll-Sonate
In straffem Unisono, ganz nach Art der Mannheimer Sonaten, beginnt das Allegro. In der c-moll-Tonart der wilden Leidenschaft der Verzweiflung, der Wut (Lüthy), macht sich in der aufwärts steilenden Brechung des akkord lichen Kopfmotivs eine ungeheuere Erregung Luft, die auch das antwortende p-Motiv mit dem verwirrten Mordent und der ratlosen fallenden Septime erfüllt.
Analyse des ersten Satzes
Aus der Tiefe der Unterdominante wiederholt sich die akkordliche Eruption. Um einen Ton herabgestimmt erfolgt die Antwort. Stoßartig setzt (Takt 9) wie ein Bläserton das Unisono-g der Dominante ein. Volle 5 Takte lang hält es der Baß durch, indes die chromatische Mittel- bzw. Oberstimme der Klage Ausdruck gibt, was eine erneute Eruption zur Folge hat, deren gezackte Rhythmen bis zum f'“ emporreichen, und schließlich die oktaverhöhte Bestätigung des Kopfmotivs herbeiführen. Mit einer gewaltsamen Transposition in das B-dur des Basses (Takt 21) gewinnt der erregte Komponist die Fassung, ja bringt es über sich, ein freundliches Es-dur-Zwischenthema zu intonieren, das sogar, um das Thema II einzuführen, nach В-dur hinaufmoduliert. Dieses zweite Thema steht ebenfalls im lieblichen Es-dur, der Tonart der Liebe bei Mozart, derselben Tonart, der übrigens auch die Non so d’onde viene-Arie der Mannheimer Tage angehörte (Lüthy, Schubart). Handelt es sich bei dem lieblichen Zwiegspräch wechselnder Diskant- und Baßphrasen um denselben Gegenstand der Erregung? Alles scheint gut zu werden. Ein hoffnungsfroher Abgesang ergeht sich in schwelgendem Optimisums. Das Ende der Exposition wagt sogar das Kopfthema in Es-dur zu bringen. Aber auch der enggeführte Baß kann nicht verhindern, daß die Septimenfrage bleibt. — Zwar setzt die Durchführung mit dem C-dur-Zitat des Kopfthemas ein. Allein es ist ein trügerisches С-dur, nichts anderes als die Parallele zur c-moll-Tonika. Alsbald wird es um eine Stufe tiefer gerückt und zum verminderten Septakkord verschoben, der zum f-moll des früheren Zwischenthemas hinüberleitet. So enthält die erste Durchführungsphase in anderer Harmonik genau das Material der Expositionstakte 19/26. Die zweite Phase der erstaunlich knappen Durchführung ist ausgefüllt von einer Sequenzenkette des Kopfmotivs, das in ständig neuer harmonischer Beleuchtung sechsmal aufschäumt, schließlich ermattend absinkt, worauf die Durchführung pp auf dem ausgehaltenen tiefen Dominantseptimenakkord verhallt.
Nach solcher Ballung und Erschöpfung ist in der Reprise nicht mehr Raum für Hoffnungsfreude. Das Hauptthema erfährt bei seinem Auslauf (Reprisentakt 19) durch den enggeführten Baß eine fühlbare Verschärfung. Das frühere Zwischenthema in Es wird durch eine kurze Ausweichung nach Des-dur ersetzt, welche sofort weitermoduliert nach der Dominante von c-moll. In dieses wird das zweite Thema hinabgezogen. Der Abgesang wird zur schmerzlichen Klage, die sich mit wachsender Erregung paart, so daß eine eigens angefügte Koda noch einmal dem eruptiven, nun gar kanonisch geführten Hauptthema Raum gibt. Diese Koda mit ihrem elementaren Leidenschaftsausbruch und ihrem erschöpften pp-Ausklang gehört zum Erschütterndsten, was Mozart je geschrieben.
Das Es-dur-Adagio nennt Abert eine Elegie aus Sehnsucht und stillem Leid, St. Foix den Gesang einer verwundeten Seele. Es ist ein Satz der Ruhe, wohl auch der Ergebung, wie ihn auch die a-moll-Sonate von 1778 kennt. Auch im Grundriß der Anlage stimmen die Mittelsätze beider Mollsonaten auffallend überein, sowohl in der Verschmelzung der dreiteiligen Liedform mit der Sonatenform wie nicht minder in der Anwendung des seit der Cannabich-Sonate geübten Dekors des „Mannheimer goüt“. Die Verschmelzung ist hier noch einen Grad weiter vorgeschritten, der thematische Bau komplizierter:
Analyse des zweiten Satzes
Ein asymmetrisches, breitströmendes gesangreiches Thema (2 + 1 Takt) wird in reicher Auszierung wiederholt (2 + 1 + 1 Takt). Ein zweites Thema in der Dominante, welches aus dem ersten Thema erblüht, spinnt es auflockernd wie eine Geigenkantilene weiter. Ein veritabler Abgesang bekräftigt wie in einem reinen Sonatensatz die Dominanthöhe. — Da führt eine sf-Geschwindmodulation zur reich doublierten Es-dur-Wiederkehr des Themas: Die dynamische Form des Sonatensatzes muß sich der ruhevollen Statik der Liedform beugen. Deshalb hat der folgende Mittelteil mehr vom Charakter einer Variationenzentrale als dem einer sonatischen Durchführung. Ein neues, dem Es-dur-Thema grundrißverwandtes Motiv, ein Urbild des Adagiothemas in Beethovens Pathetique, wird kantilenenhaft weitergeführt und mit kadenzmäßigen Geigenpassagen bedacht. Hierauf erscheint es nach Ges-dur gewendet, nimmt drängenden Charakter an, der in mehr klaviermäßigen Akkordbrechungen auskadenziert und durch die Wiederkehr des Es-dur-Themas abgeschlossen wird. Das zweite Thema, das diesem Teil Repriseneigenschaft geben würde, fehlt. Statt dessen wuchert um das Es-dur-Thema üppigster Mannheimer Dekor. Eine Art Abgesang schließt sich an, der Raum läßt für eine breit ausladende Kadenz. Ein geigenmäßiger Epilog beendet den gesangreichen Satz pp in den Tiefen.
Der Schlußsatz Molto allegro in с nimmt mit seiner Umkehrung des Hauptthemas den Unfrieden des ersten Satzes wieder auf. Die synkopisch verschobene Melodie steht in Kontrast zu dem rhythmisch bestimmten Baßgang. Dadurch kommt die Unrast und die innere Erregung zu zwingendem Ausdruck. Schicksalhaft bekräftigt der f-Nachsatz die Endgültigkeit einer gefallenen Entscheidung.
Analyse des Schlusssatzes
Sein Rhythmus ist offensichtlich dem Kopfthema des ersten Satzes entsprossen und der Auslauf in den Dominantseptimenakkord macht die Beziehung noch deutlicher. Folgerichtig entspricht die Antwort (nach der nicht als Takt zu zählenden Fermate) jener in Takt 3/4 des ersten Satzes. Nur tritt im Schlußsatz an Stelle der Septimenfrage der entschiedene с-moll-Abschluß. Eine Wiederholung unterstreicht die Endgültigkeit des Geschehnisses. Ein kräftiger Septimenakkord auf В (der Septe von с-moll) lenkt nach der Paralleltonart Es-dur. Nachdem ein Vortakt die neue Tonart befestigt hat, setzt der Gesang des zweiten Themas ein. Es ist dem Zwischenthema des ersten Satzes motivverwandt und Ausdruck der Gelassenheit, welche die Folge klarer, wenn auch bitterer Entscheidungen ist. Nicht weniger als sechs Bestätigungen bekräftigen den daraus hervorgehenden В-dur-Halbschluß. Der Baß erreicht dabei das tiefe G. In Takt 67 stellt sich noch einmal ein kurzer Schatten des synkopierten Anfangsmotivs ein. Dann nimmt der bewegte Es-dur-Abgesang fast wörtlich die zuversichtliche Weise seines Bruders aus dem ersten Satz auf. Ein dreifach gesteigerter Epilog schließt diese streng sonatenmäßige Exposition ab.
Ihr folgt keine ebensolche Durchführung, sondern genau wie im Finale der a-moll-Sonate eine strophische, d.h. rondomäßige Behandlung. Sechs Überleitungstakte bringen die unveränderte zweite Strophe des Synkopenthemas samt Nachsatz. Eine neue Dominantseptimenmodulation vermittelt eine Art Zentralintermedium, erst in f-moll, dann in g-moll. Bei genauerem Hinsehen erweist es sich als eine rezitativisch seufzende Umformung des eben noch so gelassenen Themas II in Es. Endlidi erscheint das zweite Thema selbst, aber ganz reprisenmäßig in der c-moll-Tonika, ebenso der Abgesang, der nun ganz ins Pessimistische gewendet ist. Zehn Übergangstakte, bereits von den Synkopen des Eingangsmotivs erfüllt, bringen das Synkopenthema als dritte Strophe herbei. Seine Wiederholung wird in Phil. Emanuel Bachscher Rhetorik rezitativisch zerteilt. Nach dieser Stauung eilt der Satz seinem Ende zu. Vom zweiten Thema klingt nur seine Reminiszenz aus der f-moll-Zentrale an. Hierauf erscheint sofort (in с-moll) der Epilog, der in eine wundersam absteigende Koda ausmündet, in deren Schlußtakten nochmals das Motiv des Septimensprungs und des Mordents bedeutsam anklingen. Mit sechsfacher Bekräftigung schließt das Werk.
„Mozarts Pathetique“ darf man diese c-moll-Sonate nennen. Die Durchschlagskraft ihrer Ecksätze steht hinter Beethovens gleichnamigem Werk nicht im geringsten zurück. Mozart schreibt hier wirklich großen, und soweit es ihm gegeben ist, heroischen Stil. Dieser Stil ist von einer unerhörten Prägnanz. Alle Themen sind im Kerne 2taktig und sämtlich, auch in den Kontrastthemen und über die Sätze hinweg, miteinander verwandt. Ein und derselbe Pulsschlag der Grunderregung ist in allen wesentlichen Themen unter der umkleidenden Melodieverbrämung festzustellen.
Dabei ist das Hauptthema selbst zweipolig, d. h. dialektisch nach Mannheimer Art. Die Art der Diktion ist nächstverwandt jener der grandiosen a-moll-Sonate des Pariser Jahres 1778. Zwischen beiden Sonaten bestehen überraschende Ähnlichkeiten der Anlage wie der Ausdrucksmittel. Hier wie dort der gleiche Wechsel von hell und dunkel, die gleiche Unterbrechung der leidenschaftlichen Sätze durch einen ruhevollen Mittelkörper, dieselbe pessimistische Verdüsterung, die nämliche Geradtaktigkeit der Themen, die nämliche Formbehandlung in Eingangssatz, Mittelsatz und Finale. Angesichts all dieser Stilkriterien, zu denen noch der „Raketen“-Charakter des c-moll-Themas und die für 1784 kaum wahrscheinliche Auszierung des Adagiosatzes in reinstem Mannheimer Dekor kommt, erheben sich schwerwiegende Bedenken, ob die c-moll-Sonate tatsächlich, wie Mozarts Eigenverzeichnis glauben machen will, 1784 in Wien entstanden ist. Stilistisch ist die c-moll-Sonate eine Schwestersonate des Pariser Werks in a-moll. Als solches wird sie von allen unvoreingenommenen Spielern empfunden. Es ist unwahrscheinlich, daß Mozart nach durchlaufener Stilrevision 1784, inmitten eines zehnjährigen Sonatenleerraums, sich noch einmal der Parisisch-Mannheimischen Schreibweise von 1778 bedient hat. Inmitten der Kompositionen von 1784 wirkt die c-moll-Sonate wie ein Anachronismus. Es ist so gut wie sicher, daß die c-moll-Sonate am Ende der großen Westreise 1778/79 entstanden ist und daß das bisher als verbindlich angesehene Datum 14. 10. 1784 in Mozarts Eigenverzeichnis nur ein solches der Überarbeitung und der Reinschrift bedeutet. Ein solcher Fall steht nicht vereinzelt. Auch c-moll- Fuge KV 546 und с-moll-Quintett KV 406 reichen in eine erheblich frühere Entstehungszeit hinauf.
Die neue Zeitansetzung der c-moll-Sonate ergibt wertvolle weitere Erkenntnisse. Die Sonate erscheint in neuem Lichte durch den Zusammenhang mit ihren persönlichen Vorgängerinnen der Pariser Zeit, den Sonaten in a-moll, A-dur und В-dur. Sie ist das tragische Schlußglied jener Schicksalsreise und rundet als sechstes Werk den Zyklus der Reisesonaten. Daß seelisch die Voraussetzungen für die Komposition eines solchen Werkes mit einem von zwei с-moll-Ecksätzen gerahmten Es-dur-Mittelsatz gegeben waren, wurde bereits hier dargetan. Am 29.12.1778 schrieb er dem Vater „Heute kann ich nichts als weinen — ich habe gar ein zu empfindsames Herz“.
Es dürfte so gut wie außer Frage stehen, daß, sobald die Tränen sanfter flössen, Mozart seine Empfindungen dem Klavier anvertraute. Mit seinen starken Mannheimer Reminiszenzen dürfte das Es-dur-Adagio nicht weniger „Porträtcharakter“ tragen als der Mittelsatz der Cannabich-Sonate.
Für die Vorwiener Entstehung der c-moll-Sonate spricht auch die fermatenreiche Notationsweise des Schlußsatzes. […]
Schließlich sei für die Wiedergabe auf die originale Tempobezeichnung aufmerksam gemacht. Mozart hat den ersten Satz nicht Allegro molto, wie man meist in den Ausgaben findet, sondern nur Allegro überschrieben, den dritten nicht Allegro assai (höchste Geschwindigkeit), sondern nur Allegro molto. Das sollte vor Übersteigerung des Tempos bewahren.
War die c-moll-Sonate tatsächlich 1778/79 unter dem Eindruck von Aloysias Absage entstanden, so ist Mozarts Wiederbeschäftigung damit im Jahre 1784 recht wohl verständlich und nicht nur durch das Bedürfnis eines Patengeschenks motiviert. In Wien führte ihn das Schicksal erneut mit der wenig glücklich verheirateten Aloysia, deren Schwägerin er geworden war, zusammen. Im Brief vom 16. 5.1781 gesteht Wolfgang Mozart dem Vater
„ein glück für mich, daß ihr Mann ein Eyfersichtiger Narr ist, und sie nirgend hinlässt, und ich sie also selten zu sehen bekomme.“
Im Frühjahr 1783 war er zugegen, als sie bei ihrer Akademie im Theater jene schicksalhafte Arie aus den Mannheimer Tagen „Non so d’onde viene“ sang, und bei Leopold Mozarts Besuch in Wien im März 1785, wo Aloysias Gatte, der Hofschauspieler Lange, Vater Mozart porträtierte, ergaben sich vertiefte Beziehungen. So ist es durchaus einleuchtend, wenn in Erinnerung an die früheren Zeiten, Mozart im Oktober 1784 das Werk von 1778/79, das vielleicht noch der letzten Feile entbehrte, hervorholte und jetzt, da jene Enttäuschung längst überwunden war, es neu belebte und zu Geschenkzwecken verwendete.
Nun aber verzeichnet das Eigenverzeichnis unterm 20. 5.1785 die große Fantasie in с-moll. Ihr Stil ist tatsächlich der Stil von 1785. Was hat es mit diesem Werke auf sich? In welchem Verhältnis steht es zu der doch völlig in sich geschlossenen Sonate? Bestehen außer der gemeinsamen Tonart und der durch die gemeinsame Veröffentlichung geschaffenen Bindungen auch solche der Thematik und des Inhalts? Wieder steht die Analyse vor bedeutungsvollen Fragen. Nur auf diese hin sind die nachfolgenden Ausführungen gerichtet. Für Einzelbeobachtungen darf auf die klassischen Ausführungen bei Abert und St. Foix hingewiesen werden.
Zitiert aus
Hanns Dennerlein
„Der unbekannte Mozart Die Welt seiner Klavierwerke“
Seiten 200-205
Leipzig 1955